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23. November 1923Geburt
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März 1938»Anschluss«
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14. April 1942Zwangsarbeit
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April 1945Befreiung
Andrej, seine Eltern und seine Geschwister gehörten zu einer Minderheit in Österreich, die Slowenisch statt Deutsch sprach. Die Familie lebte von der Viehzucht und vom Ackerbau und hatte einen Hof in Oberdorf in Kärnten. In Andrejs Muttersprache, auf Slowenisch, heißt der Ort Zgornja Vas (oberes Dorf).
Bis zum Jahr 1938 hatten die Kärntner Slowen/-innen Minderheitenrechte. Es gab zweisprachige Schulen und eigene Zeitungen. Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 sollte Andrejs Familie zwangsweise »eingedeutscht«, also »deutsch gemacht« werden.
So lebte Andrej mit seiner Familie
Andrej und seine Geschwister wuchsen auf einem großen Hof auf. In einer Scheune waren Schafe, Schweine, Kühe und Hühner untergebracht. Die ganze Familie, auch die Kinder, musste schon früh auf dem Feld helfen.
»Besonders aufregend waren die Mahlzeiten am Feld. Wir konnten es kaum erwarten, dass Mutter mit dem Korb daherkam und zur Jause rief. Lizi breitete […] das Leintuch aus, auf das die Mutter die Schüssel stellte und die Löffel verteilte. […] Schwester Mici und ich zogen dabei immer den Kürzeren. Die größeren Geschwister löffelten und verschlangen das Essen so schnell, dass für uns beide oft nicht viel übrig blieb.«
Andrej verstand nicht, warum plötzlich so viel über Hitler und Deutschland geredet wurde
»Das politische Geschehen nahm ich im Grunde gar nicht zur Kenntnis. Oft hörte ich die Worte ›Nazis‹ oder ›Krieg‹. Einige Männer trugen Armschleifen mit Hakenkreuzen. Junge Burschen tauchten in Uniformen auf. Im Dorf trauten sich immer weniger Leute, Slowenisch zu sprechen. […] Der Name Adolf Hitler, der auch bei uns zu Hause immer öfter genannt wurde, hatte für mich keine Bedeutung, auch dann nicht, als man im Dorf zum Gruß die Hand streckte und dazu seinen Namen rief. Auch Kinder, die zur Schule gingen, mussten den Lehrer mit ›Heil Hitler‹ grüßen.«
Plötzlich sollte Andrej kein Slowenisch mehr sprechen
Nachdem die Nationalsozialisten auch in Österreich an der Macht waren, machten sie sich daran, die dortige slowenische Minderheit »einzudeutschen«. Das heißt, sie sollten »deutsch gemacht« werden. Zweisprachiger Unterricht in Kindergärten und Schulen wurde verboten, zweisprachige Straßenschilder abgeschafft. Überall dort, wo die slowenische Sprache weit verbreitet war, hingen plötzlich Plakate mit der Aufschrift: »Sprich Deutsch!«.
»Als sich Österreich mit einer Abstimmung an Hitlerdeutschland angeschlossen hatte und mit dem Namen Ostmark eine der Provinzen Deutschlands geworden war, war ich zwei Jahre alt. Damals konnte ich schon reden und interessierte mich von Tag zu Tag mehr für die Umgebung, in der ich aufwuchs. Ich konnte aber nicht wissen, dass man die Sprache, die mir die Mutter in die Wiege gelegt hatte, verboten und den Leuten befohlen hatte: Kärntner, sprich Deutsch.«
Andrejs Familie sprach weiterhin Slowenisch. Doch das war von den deutschen Besatzern unerwünscht. Im April 1942 wurden etwa 200 slowenisch sprechende Familien (über 900 Menschen) aus Kärnten von ihren Höfen vertrieben und in ein Sammellager gebracht. Darunter waren auch Andrej, seine Eltern und Geschwister. Anschließend wurden sie in das Deutsche Reich verschleppt. Dort sollten sie Zwangsarbeit leisten und Deutsch lernen.
Weil Andrej und seine Familie trotz Verbot weiterhin Slowenisch statt Deutsch sprachen, wurden sie im April 1942 von ihrem Hof in Kärnten vertrieben. Ihr gesamter Besitz fiel an ihre deutschsprachigen Nachbar/-innen.
»Am Morgen weckte uns lautes Getöse, Pochen an der Haustür, Hundegebell und Rufe: ›Aufmachen! Aufmachen!‹ Erschrocken beobachteten Mici und ich an der Stiege das Geschehen an der Laube. Wir sahen Männer in Uniformen, die Vater und Mutter und den älteren Geschwistern ins Gesicht leuchteten und etwas erklärten. Wir verstanden nicht, wovon sie redeten, wussten aber gleich, dass etwas Ungewöhnliches vorging. Langsam stiegen wir die Treppe hinab und drückten uns zur Mutter. Fragend blickte ich in ihr verwirrtes Gesicht. Mit zitternder Stimme sagte sie leise: ›Wir müssen fort.‹ Die Soldaten zwangen Vater und Mutter, Kleider und das Notwendigste zusammen zu raffen. Ich hatte furchtbare Angst und zitterte am ganzen Körper.«
Auf einem Lastwagen wurde die Familie in ein Zwischenlager in Ebenthal/Žrelec gebracht. Dort kamen immer mehr Männer, Frauen und Kinder an. Genau wie Familie Kokot waren sie von ihren Höfen vertrieben worden, um dort Platz für deutsche Familien zu schaffen. Die Nacht verbrachte Familie Kokot in einer Baracke auf Stroh und ohne Decken. Am nächsten Morgen mussten alle in einen Personenzug und später sogar in Viehwaggons steigen. Was für Andrej zunächst wie eine Abenteuerreise aussah, wurde bald zur Qual.
»Je länger wir unterwegs waren, desto größer war unser Wunsch, dass die quälende Fahrt endlich ein Ende nähme. Meine Neugier war längst erloschen. Ich hatte genug vom Sitzen und Wälzen im Stroh und konnte die stickige Luft kaum ertragen.«
Schließlich endete der Transport in Rehnitz, nicht weit von der Ostsee entfernt.
Das Lager Rehnitz sah zunächst wie ein malerischer Ort aus
Familie Kokot wurde in das Arbeitslager Rehnitz (heißt heute Renice und liegt in Polen) deportiert. Andrej verstand kein Deutsch. Es war verboten, untereinander slowenisch zu reden, aber die Familien taten es trotzdem. Immer, wenn Wachposten anwesend waren, schwiegen sie. Aufgrund der unterschiedlichen Dialekte war es schwierig, sich untereinander zu verständigen. Mehrere Familien wurden gemeinsam in einem Raum mit Stockbetten untergebracht.
In Rehnitz durften sie zumindest im See schwimmen und in die Kirche nach Soldin (heißt heute Myślibórz und liegt in Polen) gehen. Drei Monate musste Andrejs Familie dort bleiben, dann wurden sie in das Lager Rastatt in Süddeutschland verlegt.
…doch in Wirklichkeit mussten sie dort hart arbeiten
Manchmal ließ der Lagerführer im Lager Rehnitz die slowenischen Männer wie Pferde vor einen Pflug spannen und den Acker pflügen. Ihm diente diese Szene zur Belustigung, während die Männer schwitzen und sich abplagen mussten.
»Das erschien mir sehr ungewöhnlich, denn zu Hause pflügten wir den Acker mit einem Pferde- oder Ochsengespann. Hier aber mussten Vater und Jožek mit anderen Männern als Gespann den Acker pflügen. Als sie bei uns ankamen, machten sie kehrt und setzten den Pflug wieder in die schwere, lehmige Erde. Unter lautem Kommandoruf spannten sie den Strang und zogen ihn kräftig an.«
Schwester Elfriede tat zwar freundlich, doch sie erschien Andrej wie die böse Hexe aus dem Märchen
Im Arbeitslager Rastatt gab es Schwestern der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), die für die Erziehung der slowenischen Kinder zuständig waren. Vor allem sollten die Kinder arbeiten, Deutsch lernen und gehorsam sein. Die NSV betrieb auch Kindergärten. Dort lautete das Motto: »Händchen falten, Köpfchen senken, immer an den Führer denken. Er gibt euch euer täglich Brot und rettet euch aus aller Not.«
»Anfangs hatte Mutter noch Brot, das sie von zu Hause heimlich mitgenommen hatte. Aber bald war es verzehrt und ich konnte es nicht verstehen, dass davon nichts mehr geblieben war. Wenn ich zu Hause Hunger hatte, nahm Mutter den Laib aus der Tischlade und schnitt mir ein Stück ab. Ich konnte auch nicht verstehen, dass wir uns fürs Essen anstellen und warten mussten. Ich wehrte mich sehr dagegen, aber NSV-Schwester Elfriede, die für Ordnung sorgte, trennte mich rücksichtslos von Mutter und stellte mich in die Reihe, wo auch die übrigen Kinder auf die Kost warten mussten. […] Das Essen war nicht gut. Alles schmeckte bitter oder war ungesalzen, nur der Salat war gezuckert, was mir und auch allen anderen nicht schmeckte. Die Suppe, eine schwarze Brühe, mochte ich überhaupt nicht. Ich ließ sie in der Schüssel stehen, bis es eines Tages Schwester Elfriede bemerkte. Sie stellte sich an unseren Tisch, beobachtete mich und ließ mich so lange nicht aus den Augen, bis ich die grausige Suppe, die schon kalt geworden war und so noch grausiger schmeckte, ausgelöffelt hatte.«
Im Lager Rastatt langweilte Andrej sich bald sehr. Anfangs durfte er mit den anderen Kindern aus dem Lager noch einen deutschen Kindergarten besuchen. Bald darauf erlaubte der Lagerführer dies nicht mehr. Mütter von anderen Kindern hatten sich beschwert, dass die »Lagerkinder« den deutschen Kindern die Butterbrote stahlen, weil sie solchen Hunger hatten.
Andrej vermisste es, das Lager täglich verlassen zu können. Stattdessen mussten er und die anderen Kinder nun arbeiten. Sie sortierten und sammelten altes Eisen, Altpapier und Holz. Auf dem Feld mussten sie Unkraut jäten und Kartoffelkäfer sammeln. Zur Belohnung durften die Kinder manchmal zu festgelegten Zeiten das Lager verlassen.
»Von allen Arbeiten, die wir verrichten mussten, war mir das Sammeln von Kartoffelkäfern und deren Larven am meisten zuwider. Aber vom Frühsommer an bis in den Herbst hinein mussten wir es immer wieder tun. Mit Ekel griff ich nach den Käfern und den klebrigen Larven und stopfte sie in die Flasche. Die mit den gefräßigen Schädlingen gefüllte Flasche brachten wir an den Ackerrand, wo NSV-Schwester Eppes sie verschloss. Mit immer wieder neuen Flaschen in den Furchen unter der sengenden Sonne war der Tag unendlich lang. Ich schaute öfters in den Himmel, aber es schien, als wollte die glühende Kugel niemals untergehen. […]An das Heulen der Sirenen und die häufigen Fliegerangriffe hatten wir uns bald gewöhnt. Bei jedem verdächtigen Geräusch warfen wir uns zu Boden, um nicht nach den ekligen Schädlingen greifen zu müssen. […] Trotz der Gefahr, die uns drohte, freuten wir uns, wenn die Sirene heulte, denn wir wussten auch schon, dass Flugzeuge, die die Stadt angreifen, Hitlers Feinde waren.«
Auf dem Bild sind Andrej (rechts) und sein Freund Franci Vidic im Jahr 1943 im Garten des Lagers Rastatt zu sehen. Zu dieser Zeit zeichnete sich bereits ab, dass das Deutsche Reich den Krieg verlieren würde. Alle Lagerinsass/-innen freuten sich über die Niederlagen der deutschen Armee, denn das ließ auf eine baldige Befreiung hoffen. Um der Freude Ausdruck zu verleihen, band Andrejs Mutter den Kindern bunte Stofffetzen um Stöcke und ließ sie damit spielen. Auf dem Foto halten sie dieses Spielzeug in der Hand.
Andrejs Bruder war sehr erfinderisch
In den Lagern litten Andrej und seine Familie Hunger, denn es gab nie genug zu essen. Andrejs Bruder Hanžek war sehr erfinderisch, wenn es darum ging, an zusätzliche Rationen zu kommen. Seine Mutter hatte ihm zusammen mit seinen älteren Schwestern Handarbeiten beigebracht. Das nutzte Hanžek nun zu seinem Vorteil.
»Seine Geschicklichkeit kam ihm im Lager zugute. In der Freizeit hatte er viel zu tun. Die NSV-Schwestern brachten ihm alte, abgetragene Wolljacken, die Hanžek auftrennte und neu strickte. Er stopfte Strümpfe und flickte Kleider. Die älteren Buben lachten ihn aus, aber Hanžek wusste, dass er für seine Arbeit mit zusätzlichem Essen belohnt wurde und genoss, wenn er dafür beneidet wurde.«
Die Kleidung und Betten waren voller Ungeziefer
»Mutter entlauste uns jeden Tag. Weil es nichts nutzte, schmierte sie uns das Haar mit Petroleum ein. Mit der turbanähnlichen Kopfbedeckung mussten wir ins Bett und trugen sie auch noch Tage danach. Aber es waren nicht nur Läuse und Flöhe, die uns bissen. Nachts befielen uns auch Wanzen und saugten das Blut. Für uns, die in den unteren Betten schliefen, war es besonders schlimm. Die winzigen Bestien vom oberen Bett ließen sich wie Sandkörner auf uns herunterfallen und saugten uns am Hals, am Kopf und an den Händen. Wenn es nicht mehr auszuhalten war, zerlegte Mutter die Betten und brannte das Ungeziefer in den Fugen mit Papierfackeln aus.«
Je mehr Niederlagen die deutsche Wehrmacht an der Front erlitt, desto schlimmer wurden die Lebensbedingungen im Lager Rastatt. Es gab immer weniger zu essen. Die Bewacher und Vorgesetzten im Lager wurden von Tag zu Tag nervöser. Sie prügelten und schikanierten die Lagerinsass/-innen und gaben ihnen völlig unsinnige Arbeitsaufträge.
Die Lagerinsass/-innen von Rastatt versuchten, sich von den Lebensbedingungen, die ihnen schwer zu schaffen machten, abzulenken. So sangen sie zum Beispiel gemeinsam slowenische Lieder und teilten auch manchmal den Inhalt von Päckchen, die sie erhalten hatten.
Viele konnten den Hunger nicht unterdrücken und aßen alles auf einmal auf. Doch weil die Mägen nicht an das gute Essen gewöhnt waren, mussten sie sich am nächsten Morgen übergeben.
»Wenn jemand von den Verwandten oder Nachbarn ein Paket mit Lebensmitteln bekam, wurde unser klägliches Lagerleben etwas erträglicher. Wir konnten es kaum erwarten, dass der glückliche Empfänger sein Paket öffnete. Einige machten es gleich im Speisesaal auf und teilten auf, was sie bekommen hatten. Es gab aber auch einige, die damit gleich in ihrem Zimmer verschwanden.«
Andrejs Mutter tauschte Lebensmittel gegen Bücher
Andrejs Mutter tauschte manchmal Lebensmittel gegen slowenische Bücher ein und las aus ihnen vor. »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein«, erklärte sie ihren Kindern. Auf diese Weise trug sie dazu bei, die slowenische Sprache im Geheimen weiter zu pflegen.
»Die deutsche Sprache haben wir aber trotzdem schnell erlernt, sogar den Rastatter Dialekt. Wir haben aber unsere Muttersprache, obwohl es streng verboten war, sie zu gebrauchen, nicht vergessen. Je öfter man uns bestrafte, wenn wir sie sprachen, umso mehr liebten wir sie.«
Andrejs Bruder verschwand eines Tages spurlos
Andrejs Bruder Jožek musste in einer Ziegelfabrik arbeiten, in der auch russische Zwangsarbeiter beschäftigt waren. Er freundete sich mit ihnen an. Um sich verständigen zu können, lernte er ihre Sprache.
»Eines Tages wurden Jožek und noch einige Männer aus unserem Lager in die Ziegelfabrik Baden-Baden versetzt. Dort arbeiteten überwiegend Häftlinge aus Russland. […] Jožek konnte sich mit ihnen gut verständigen und lernte auch bald ihre Sprache. Wir hörten ihm gern zu, wenn er erklärte, wie dies oder jenes auf Russisch heiße. Ich war sehr froh, als er mir einmal sagte, einer der Gefangenen heiße auch Andrej. Ich gab Jožek mein Stück Brot für ihn mit. Aus Dankbarkeit schnitzte er für mich ein Spielzeug. Es war ein Kreuz mit vier bunt bemalten Vögeln. Schwang man es im Kreis, pickten sie auf die runde Metallplatte in der Mitte des Kreuzes. Alle bewunderten das Kreuz mit den wunderschönen Vögeln und wollten damit spielen.«
Doch freundschaftlicher Umgang mit Zwangsarbeiter/-innen war nicht erlaubt. Eines Tages kehrte Jožek nicht zu seiner Familie ins Lager zurück. Auf Anfrage erklärte der Lagerführer von Rastatt, Jožek hätte zu viel Kontakt mit den russischen Zwangsarbeitern gehabt und wurde daher in die Strafanstalt gebracht. Niemand, nicht einmal seine Eltern, durften ihn dort besuchen.
Ein paar Mal sah Andrej seinen Bruder noch aus der Ferne ein Fuhrwerk ziehen. Von nun an wartete Andrej dort täglich auf ihn. Es gelang ihm auch ein paar Mal, kurz mit ihm zu reden und ihm Brot und Beeren zu geben. Doch einige Tage später war es plötzlich ein anderer Häftling, der den Karren zog. Andrej sah seinen Bruder nie wieder.
Andrej hatte eine sehr mutige Schwester, die bei einem SS-Offizier arbeiten musste
Manchmal durfte Andrej seine Schwester Francka in Karlsruhe besuchen. Sie musste dort als Haushaltshilfe bei einem SS-Offizier arbeiten und auf dessen Kinder aufpassen.
Wenn die Familie das Haus verließ, hörte Francka im Arbeitszimmer des SS-Offiziers heimlich Nachrichten im Radio. Am meisten freute sie sich über die immer häufiger werdenden Meldungen: »Das Gebiet wurde aus taktischen Gründen geräumt.« Daraus schloss sie, dass die deutsche Wehrmacht Gebietsverluste hinnehmen musste.
Francka schrieb auch Briefe an Freund/-innen aus der Heimat und reiste sogar einmal heimlich zum Hof ihrer Familie nach Kärnten. Dies zu tun, war lebensgefährlich. Glücklicherweise wurde Francka nicht dabei erwischt.
Beim Sortieren von Kartoffeln kam Andrej in eine äußerst gefährliche Situation
Andrej erinnert sich, dass mehr als die Hälfte der Kartoffeln, die für die Lagerinsassen bestimmt waren, bereits faulten. Er und die anderen »Lagerkinder« mussten sie sortieren.
Aus Spaß warfen sie nach der Arbeit die faulen Kartoffeln über den Lagerzaun. Das sah eine Gruppe von Hitlerjungen mit einem Schäferhund, der nach den Kartoffeln schnappte. Sie sagten: »Seht her, die Schweine haben immer noch zu viel zu fressen, das müssen wir anzeigen!«
Andrej wurde erwischt. Zur Strafe sperrte der Lagerführer ihn mehrere Stunden in einen dunklen Keller ein. Aber obwohl er große Angst hatte, verriet Andrej seine Freund/-innen nicht.
Kurz vor Kriegsende wurden Andrej und seine Familie in ein Lager im weiter östlich gelegenen Gerlachsheim verlegt. US-Amerikanische Truppen befreiten die dort Gefangenen im April 1945 mit Panzern. Doch es sollte noch mehrere Monate dauern, bis Familie Kokot das Lager endlich verlassen und auf ihren Hof in Kärnten zurückkehren konnte. Dort angekommen, fanden die Kokots ihr Haus völlig geplündert vor.
»Kein einziger Stuhl, keine Bank waren da, um uns darauf setzen zu können. In der Küche fehlte der Herd. In den Schlafstuben waren keine Betten. Auch die Fenster hatte man entwendet. Leer waren auch der Stall und die Scheune, es gab keine einzige Garbe Stroh, um es ausbreiten und sich darauf ausruhen zu können. Die Äcker waren kahl, die Wiesen gemäht und das Obst gepflückt. Unser Haus, nach dem wir uns so gesehnt hatten, schien auf einmal fremd und kühl. […] Es dauerte sehr lange, bis es Vater und Mutter gelungen war, das Nötigste zu besorgen, um das Haus wieder bewohnbar zu machen. Drinnen schlafen konnten wir erst, als uns Nachbar Schuster die Betten zurück gebracht hatte.«
Andrej war zum Zeitpunkt der Befreiung acht Jahre alt. Die Tatsache, als Kind seine Muttersprache nicht sprechen zu dürfen, war für ihn eine schlimme Erfahrung. Er verarbeitete seine Erlebnisse, indem er unter anderem Gedichte in slowenischer Sprache schrieb. Außerdem setzte er sein Leben lang für die Sprache und Kultur der slowenischen Minderheit in Österreich ein.
Unter anderem arbeitete Andrej für eine slowenischsprachige Zeitung und übersetzte auch Texte aus dem Deutschen ins Slowenische und umgekehrt. Schließlich schrieb er 1996 seine Autobiographie »Das Kind, das ich war«, von der Du hier das Deckblatt siehst.
Was soll ich tun
Ich schlug auf den Tisch,
ihr aber sagtet, es war zu laut.
Ich sprach ein offenes Wort,
ihr aber sagtet, es sei zu wahr.
Ich sagte euch, ich bin hier,
ihr aber sagtet, dass ich lüge.
Was soll ich noch tun?
Soll ich mich wieder für Jahrzehnte verkriechen,
mein Wort ersticken lassen und meinen Ursprung leugnen?
Oder soll ich gewähren,
dass man die Sprache mir völlig zerfetzt
und in den Boden stampft, aus dem sie gewachsen?
Nein!
Hier bin ich und hier bleib‘ ich
Als Keil zwischen euren messianischen Zielen!
Fast alle Familienmitglieder kehrten auf ihren Hof zurück
Als Familie Kokot auf ihren Hof zurückkehrte, fanden sie kaum etwas wieder. Ihr Besitz war während ihrer Abwesenheit dem führenden NSDAP-Mitglied Neff zugesprochen worden. Dieser war, wie Andrej später herausfand, auch für die Vertreibung der slowenischen Familien im nahe gelegenen Köstenberg verantwortlich gewesen.
»Es war selbstverständlich, dass er uns den Besitz zurückgeben und den einstigen Viehbestand ersetzen musste. Freilich konnte er seiner Pflicht nicht schnell nachkommen. Vater und Mutter hatten Geduld und Verständnis für die Lage, in der sich Neff nun befand. Meine älteren Geschwister drängten auf ein härteres Vorgehen. Sie konnten nicht verstehen, dass man einen Menschen, der uns so viel Leid angetan hatte, rücksichtsvoll behandelte. Doch die Eltern, besonders Mutter, bestanden darauf, menschlich zu sein und nicht wieder Hass zu schüren, Böses nicht mit Bösem zu vergelten.«
Erst acht Jahre nach Kriegsende erfuhr Andrej, was mit seinem Bruder passiert war
1953 traf ein Brief bei Familie Kokot ein. Darin war die Sterbeurkunde für Andrejs Bruder Jožek. In der Urkunde steht, dass Jožek am 25. September 1944 im Konzentrationslager Mauthausen erhängt wurde. Seine Eltern und Geschwister erfuhren nie den Grund dafür.
Nachdem Familie Kokot nach Hause zurückgekehrt war, hörten die Diskriminierungen nicht auf. Als Minderheit in Österreich war das Leben nicht einfach für sie.
»Später habe ich den Leuten im Dorf und in der Fremde über die beschriebene Zeit erzählt. Aber nur wenige interessierten sich für meine Geschichte. Auch in der Schule, als das Aufsatzthema lautete: ›Ein bedeutender Tag in meinem Leben‹, habe ich den Morgen unserer Vertreibung beschrieben. Als der Lehrer die Hefte mit den Noten verteilte, sagte er, meine Leistung sei zwar gut, aber das dargestellte Thema nicht zeitgemäß, kurzum, ich hätte das Thema verfehlt. Er fügte hinzu, dass wir über diese Zeit nicht nachdenken, sondern sie vergessen sollten. Ähnliche Ratschläge habe ich auch später oft bekommen.«
Eines Tages kehrte Andrej an die Orte seines Leidens zurück
Nach vielen Jahren suchte Andrej schließlich die Orte auf, an denen er von 1941 bis 1945 leben musste. Er besuchte die Lager Rehnitz, Rastatt und Gerlachsheim. Manche Orte erkannte er wieder, andere nicht. Auf dem Bild ist Andrej mit seinen Schwestern Nanki und Mici zu sehen. Gemeinsam besichtigten die Geschwister auch das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen, wo ihr Bruder Jožek ermordet worden war.
So sah Andrej aus, als er älter war
Andrej schrieb seine Lebensgeschichte auf und nannte das Buch »Das Kind, das ich war«. Er verfasste auch viele Gedichte, in denen er beschrieb, wie es war, seine Muttersprache nicht mehr sprechen zu dürfen.
Am 7. November 2012 starb Andrej Kokot nach langer Krankheit in Klagenfurt. Er wurde 75 Jahre alt.
Protest
Ich protestiere, weil ich sein muss.
Ich protestiere,
weil ich sein muss, was ich bin.
Ich protestiere,
weil ich nicht bin, was ich sein könnte.
Ich protestiere, weil ich nur um die Existenz kämpfe.
Ich protestiere, weil ich mir in den Kopf schlagen muss, was mich nicht interessiert.
Ich protestiere, weil ich ein Versuchskaninchen bin.
Ich protestiere, weil ich mich wiederhole.
Ich protestiere, weil mich niemand erhört.
Ich protestiere, weil ich bin.
Ich protestiere, weil ich trotzdem sein will.