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1934Geburt
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1939Flucht
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1942Kinderheim
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1944Rettung
»Alles steh’n und liegen lassen!«, rief Angelas Vater und schwang sie huckepack auf seine Schultern. Sie krallte sich an seinem Schopf fest, und er nahm, was er nur greifen konnte. Einen Korb, zwei Decken und seine Messer. Die Stiefmutter Appolonia griff sich ein paar Kleider, den Topf und die Milchkanne. Es waren Dinge, die zum Überleben in den Wäldern notwendig sein würden. Alles, was Angelas Eltern sonst noch besaßen, das Pferd, den Wagen, die Einrichtung und die Körbe – all das mussten sie zurücklassen. Sie hielten sich fernab von Straßen und mieden Städte. Mit Menschen kamen sie nur zusammen, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Die dichten Wälder, leer stehenden Schutzhütten und Heuschober der Schwäbischen Alb waren ein gewöhnungsbedürftiges Zuhause. Doch in ihrem Heimatort Burladingen wurde die Familie bereits polizeilich gesucht. Und in den Wäldern konnten flüchtige Familien Unterschlupf finden. Als es Winter wurde, fehlte es jedoch an Nahrung. Es gab kaum Beeren, und nur selten gelang es Angelas Vater, einen Hasen zu fangen.
In ihrer Not aß die Familie sogar stachelige Igel, die über dem Feuer geröstet wurden. Doch die kleinen Tiere gaben nicht viel Fleisch her. Auf jeden Fall nicht genug, um eine dreiköpfige Familie zu ernähren.
Jetzt waren die Körbe, die Angelas Vater Franz flocht, überlebenswichtig: Sie konnten bei Bauern und Bäuerinnen gegen Essbares eingetauscht werden. Doch es herrschte Krieg, daher waren nur noch wenige Bauern bereit, die kostbaren Lebensmittel zu tauschen. Wenn der Hunger am allergrößten war, nahm Angelas Vater Futter aus den Gehegen der Wildschweine und Rehe. Der Förster legte dort nämlich regelmäßig Kohlblätter, Heu und sogar Brotreste in die Krippen.
Angela besaß keine Schuhe, sie lief stets barfuß. Damit ihr im Winter nicht die Zehen abfroren, wickelte ihr Stiefmutter Appolonia alte Lappen um die Füße.
Warum mussten Angela und ihre Eltern sich verstecken?
Gegen die Minderheit der Sinti und Roma gibt es schon sehr lange einen weit verbreiteten Rassismus. Sinti, Roma und andere, weniger bekannte Gruppen wie die Aschkali oder Pavee haben eigentlich nicht viel gemeinsam: Sie leben in verschiedenen Ländern und haben unterschiedliche Lebensstile, Kulturen und Religionen. Manche sind als fahrende Händler/-innen viel unterwegs, die meisten von ihnen leben aber fest an einem Ort. Aber viele von ihnen können die gleiche Sprache sprechen, sie heißt Romanes. Und sie alle werden auch heute noch rassistisch als »Zigeuner« bezeichnet und diskriminiert. Diese Form von Rassismus nennt man auch »Antiziganismus«.
Angela war eine Sinteza. Das heißt, sie gehörte der Minderheit der Sinti an. Die weibliche Mehrzahl lautet Sintize. Sinti und Sintize leben vor allem in Mittel- und Westeuropa und schon seit dem 15. Jahrhundert in Regionen, die heute zu Deutschland gehören.
Seit Adolf Hitler an der Macht war, schauten die Menschen immer verächtlicher, und es gab immer mehr Gesetze gegen Sinti. Seit den Nürnberger Gesetzen von 1935 durften Sinti und Roma beispielsweise nicht mehr heiraten, wen sie wollten. Sie durften nur noch Angehörige der eigenen Minderheit heiraten. Und seit Dezember 1938 wurden sie von den Polizeibehörden in Listen erfasst. Das verhieß nichts Gutes. Viele Sinti und Roma flüchteten in die Wälder, zum Beispiel die der Schwäbischen Alb.
Auf der Flucht
Auf diesem Bild sieht man eine Familie mit Zelt und Wagen, die sich wie Angelas Familie in einem Wald versteckte. Fotos wie diese wurden von der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« aufgenommen, um der Bevölkerung den angeblich »menschenunwürdigen Lebensstil« der Sinti und Roma vor Augen zu führen. Mit solchen Fotos wurden die Vorurteile in der Bevölkerung weiter geschürt.
Oft aber waren diese Lebensumstände erst durch die Verfolgungssituation hervorgerufen worden. Wer alles zurücklassen und fliehen musste, der besaß natürlich nicht viele Dinge. Und wen konnte man schon um Hilfe fragen, wenn Sachen kaputt gingen oder man ernsthaft krank wurde?
Franz Reinhardt hatte dafür einen guten Grund: Neuerdings war es für Sinti verboten, den Wohnsitz zu verlassen. Das hatte Heinrich Himmler im sogenannten Festschreibungserlass verfügt. Angelas Vater war aber als Händler oft unterwegs und nahm seine kleine Familie mit auf Reisen. Wovon sollten sie nun leben? Und nicht nur das: Alle Sinti sollten sogar von der örtlichen Polizei in Sammellager gebracht werden. Angelas Vater weigerte sich: Er wollte sich und seine Familie nicht einsperren lassen. Mit seiner Flucht in die Wälder ging er ein großes Risiko ein: Bei Festnahme drohte ihm Haft in einem Konzentrationslager.
Urteil: »Zigeunermischling plus« …
In diesem Gutachten steht, warum Angela überhaupt verfolgt wurde: Es stuft sie als »Zigeunermischling plus« ein. Das bedeutet, dass Angela, die Vorfahren hatte, die Sinti waren und auch welche, die keine Sinti waren, laut den Wissenschaftler/-innen als »Zigeunerin« angesehen wurde. Damit galt sie als »minderwertig«.
Heinrich Himmler hatte Ende 1938 verfügt, dass die rassistischen Theorien der Nationalsozialisten nun durch Wissenschaftler/-innen bewiesen werden sollten. Dafür mussten tausende Sinti und Roma untersucht und »vermessen« werden. Diese »Untersuchungen« wurden von Mediziner/-innen der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« durchgeführt. Sie sollten einen Zusammenhang zwischen der vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer bestimmten »Rasse« und »asozialem Verhalten« beweisen. Gelungen ist ihnen das nie, denn es gibt keine menschlichen »Rassen«.
Was ist denn das für ein Ding?
Eva Justin, Mitarbeiterin der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« und ihr Vorgesetzter Robert Ritter fuhren schon seit 1936 quer durch das Deutsche Reich, um Sinti und Roma zu untersuchen. An den Wohnorten der Menschen fragten sie sie über ihre verwandtschaftlichen Verhältnisse aus. Sie entnahmen ihnen Blut, schnitten ihnen Haare ab und schrieben ihre Augenfarbe auf. Alles musste genau abgemessen werden: Die Wölbung der Schädeldecke, die Stirnhöhe, der Abstand zwischen den Augen, die Länge der Ohrläppchen, die Breite der Schultern, die Armlänge, die Wadenweite, die Füße. Auch von Angela und ihrer Familie wurden solche Gutachten erstellt.
Aus den Messwerten meinten die »Rassenforscher/-innen« Schlüsse ziehen zu können. Sie füllten über 30.000 Formulare aus. Diese angeblich wissenschaftlichen Gutachten dienten einige Jahre später als Mordinstrument: Sie entschieden darüber, wer als »Zigeuner« eingestuft wurde und deshalb ins Konzentrationslager verschleppt und ermordet werden sollte.
Viele Monate lang waren Angela und ihre Eltern schon in den Wäldern der Schwäbischen Alb auf der Flucht. Meist waren sie alleine unterwegs. Nur ab und zu trafen sie andere Sinti-Familien, mit denen sie sich austauschen konnten. Ein alter, hohler Baum diente der kleinen Familie als Briefkasten. Diesen Ort kannten nur wenige, vertrauenswürdige Menschen.
Eines Tages fand Angelas Vater in dem hohlen Baum eine erschreckende Nachricht: Seine kleine Tochter wurde von der Polizei und ihrer leiblichen Mutter, Erna Schwarz, gesucht. Das war für Angela ein Schock. Leibliche Mutter? Sie wusste doch bis dahin nicht einmal, dass sie eine andere Mutter hatte!
»Auf einmal wusste ich überhaupt nichts mehr. Eine deutsche Mutter? Was war denn das? Wieso sollte ich auf einmal zwei Mütter haben? Mein Vater hatte mir ja überhaupt nichts davon erzählt. Ich glaube, ich habe nur geheult an dem Tag. Vor allem aber war ich furchtbar wütend auf diese Frau. Sechs Jahre hatte sie sich überhaupt nicht um mich gekümmert. Und jetzt auf einmal jagte sie mich mit der Nazipolizei.
Was wollte die denn von mir? War ich ihr Eigentum? Wie eine Puppe? Mein Vater nahm mich in den Arm und versuchte mich zu trösten. ›Ach, keine Bange! Die werden uns doch gar nicht finden. Und niemals, glaub mir, niemals geb’ ich dich her!‹ Aber trotzdem, von dem Tag an war meine größte Angst, dass ich weggeschleppt werde von meinen Eltern.«
Kurz darauf passierte eine Katastrophe: Polizisten spürten die Familie auf. Sie verhafteten Angelas Eltern. Und brachten das kleine Mädchen tatsächlich zu ihrer leiblichen Mutter. Angela war todunglücklich: Sie wollte zurück zu ihrem Vater Franz und ihrer Stiefmutter Appolonia! Die Wochen zogen dahin und Angela war so unglücklich bei der fremden Frau.
Wie erging es Angela bei ihrer leiblichen Mutter?
Angelas leibliche Mutter, Erna Schwarz, war keine Sinteza. Eines Tages, als Angela drei Monate alt war, war sie einfach verschwunden. Und nun war sie plötzlich wieder da. Sie hatte inzwischen geheiratet und zwei weitere Töchter bekommen. Angela fand, dass ihre Stiefschwestern viel besser behandelt wurden und fühlte sich wie eine Dienstmagd.
Angela konnte sich nur schwer an ihr neues Leben gewöhnen. Sie vermisste ihre Eltern schrecklich. Manchmal, wenn es ihr zu viel wurde, verweigerte Angela sich: Sie warf ihre Schulbücher in den Fluss und kletterte auf einen Baum. Dort fühlte sie sich ihrem Vater und ihrer Stiefmutter am nächsten. Sehnsuchtsvoll dachte sie an die Wälder zurück, die ihr Zuhause gewesen waren. Zwar hatte sie dort Hunger gelitten, doch wenigstens war sie mit ihrer Familie zusammen gewesen.
»Ab ins Heim!«
Als Angela eine Zeit lang bei ihrer leiblichen Mutter gewohnt hatte, wurde das Jugendamt auf sie aufmerksam. Denn sie verweigerte das Essen und wurde immer dünner. Schließlich kam Angela in ein katholisches Kinderheim in Leutkirch. Dort fühlte sie sich wohler als bei der fremden Frau: Sie traf auf Kinder, die ebenfalls von ihren Eltern getrennt waren und an Heimweh litten. Im Kinderheim fühlte sie Angela etwas besser. Sie ging nun schon lieber in die Schule und nahm auch wieder zu.
Vielen Kindern der Sinti-Minderheit erging es so wie Angela: Hatte man ihre Eltern verhaftet und in Konzentrationslager gebracht, kamen sie in ein Kinderheim. Was Angela nicht wusste: Vater Franz und Stiefmutter Appolonia hatten es geschafft zu fliehen! Sie waren dem Konzentrationslager entgangen und versteckten sich wieder.
Angela wurde wie ein Spielball hin- und hergeschoben. Nach der Trennung von ihren Eltern hatte sie kurz bei ihrer leiblichen Mutter gewohnt, aber dann war sie in ein Heim gekommen. Doch auch dort durfte sie nicht lange bleiben. Als Angehörige der Sinti-Minderheit wurde sie als »minderwertig« angesehen. Daher sollte sie von den anderen Heimkindern getrennt in einem gesonderten Heim untergebracht werden. Angela wusste nicht, wie ihr geschah.
An einem kalten Wintertag sie Angela schließlich im Kinderheim St. Josefspflege an. Dort waren noch weitere Kinder untergebracht, die Sinti und Sintize waren. Sie teilten mit ihr das gleiche Schicksal: Ihre Eltern waren in Konzentrationslagern weggesperrt worden oder lebten im Versteck. Nun wurden sie wie Waisenkinder behandelt.
Angela freundete sich schnell mit den anderen Kindern an. Die St. Josefspflege war ein katholisches Heim. Betreut wurden die Kinder von Nonnen und sie bekamen auch Schulunterricht. Angela vermisste ihre Eltern, doch sie war sich sicher, dass es ihnen gut ging.
»In der ersten Zeit haben die Schwestern noch Postkarten an die Kinder ausgeteilt. Meistens kamen sie aus Buchenwald oder Ravensbrück. Sie waren vorgedruckt und nur wenige Worte durften von den Eltern mit Bleistift hinauf geschrieben werden. Also meistens, dass es ihnen gut gehe im Konzentrationslager. Dass die Kinder sich nicht sorgen mussten.
Später kamen diese Karten nicht mehr. Dafür dann die Todesnachrichten. ›Gestorben an Herzversagen.‹ Mal für dieses, mal für jenes Kind. Dann flossen Tränen. Ich bekam nie eine Postkarte aus dem KZ. Und auch keine Todesnachricht. Deshalb glaubte ich, dass meine Eltern den Nazis noch einmal entwischt waren. Und dass sie sich in den Wäldern gut versteckt hielten.«
Wie erging es Angela im Heim?
Angela war ungefähr acht Jahre alt, als sie in das Kinderheim St. Josefspflege kam. Das Heim wurde von katholischen Nonnen geführt, wie viele Kinderheime zu dieser Zeit. Angela fühlte sich dort wohl. Die Schwestern waren nett und auch die Schule machte ihr Spaß. Die Kinder schliefen in großen Schlafsälen, Jungen und Mädchen getrennt. Im Winter fuhren sie Schlitten, und im Sommer spielten sie draußen oder gingen im Fluss schwimmen. Die Nonnen achteten darauf, dass die Kinder regelmäßig in die Kirche gingen.
Die Kinder der St. Josefspflege mussten auch arbeiten: Die Jüngeren sammelten Beeren, halfen in der Küche oder in der Wäscherei. Die Älteren arbeiteten auf den Feldern, misteten Ställe aus, molken die Kühe und halfen im Herbst bei der Heuernte.
Viel zu essen gab es im Kinderheim nicht, denn das Deutsche Reich führte Krieg, und so sollten vor allem die Soldaten an der Front verpflegt werden. Manchmal gingen die Kinder hungrig zu Bett. Außerdem durften Angela und die anderen Kinder, die der Sinti-Minderheit angehörten, kein Romanes sprechen.
Das war Angelas geheimer Treffpunkt
Eines Tages standen plötzlich Angelas Eltern in der St. Josefspflege. Einfach so, ohne Voranmeldung. Sie waren aus einem Zwangsarbeitslager geflohen und wieder auf der Flucht. Irgendwie müssen sie herausgefunden haben, wo Angela sich aufhielt. Der Besuch bei ihr im Heim war sehr gefährlich, doch sie wollten das Mädchen unbedingt wiedersehen. Drei lange Jahre hatte Angela ihre Eltern nicht gesehen. Für diese ging es nun um Leben und Tod: Es war ein neues Gesetz erlassen worden, durch das Sinti und Roma in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert werden konnten.
Das Wiedersehen war tränenreich. Angela wünschte sich nichts mehr, als mit ihren Eltern wieder in die Wälder zu gehen. Doch Franz und Appolonia beschlossen, das kleine Mädchen in der St. Josefspflege zu lassen. Dort, so meinten sie, sei es für sie sicherer.
Also machten die drei einen geheimen Treffpunkt aus, um sich von Zeit zu Zeit sehen zu können. Die abgelegene Sankt-Anna-Kapelle schien dafür ideal. Sie trafen sich jede Woche. Doch irgendwann wurde selbst das zu gefährlich für die Eltern: Neuerdings wurden sie sogar mit Spürhunden gejagt. Also mussten die heimlichen Besuche aufhören.
Nächstenliebe und Mittäterschaft
Als die Kinder aus der St. Josefspflege von der Gestapo abgeholt wurden, ließen die katholische Heimaufsicht und die Pflegerinnen es ungehindert geschehen. Sie müssen geahnt haben, was ihren Schützlingen bevorstand, denn kurz vor der Deportation wurde noch hastig eine Notkommunion für die Kleineren durchgeführt. Auf ihrem Weg sollte Gott ihnen beistehen und wenn sie sterben sollten, dann als Christ/-innen. Eine andere Möglichkeit zu helfen, sahen die Mitarbeitenden des Kinderheims nicht. Statt das Gebot der Nächstenliebe zu befolgen und anderen zu helfen, passten sie sich, wie viele Christ/-innen, an das bestehende Regime an. Manche wurden auch begeisterte Anhänger/-innen Adolf Hitlers.
Hitler und die Kirche
Dieser Ausspruch Adolf Hitlers ist das, was man heute einen Werbeslogan nennen würde. Er wollte sich mit solchen Aussagen die evangelische und die katholische Kirche wohlgesonnen machen. Schließlich hatten sie in Deutschland einen großen Einfluss auf die Bevölkerung. Manche Pfarrer lehnten den Nationalsozialismus ab und sprachen sich auch in ihren Predigten gegen ihn aus. Die kirchlichen Jugendorganisationen lehrten Nächstenliebe. Also mussten die Nationalsozialisten es vorsichtig angehen lassen: Massive Verfolgung von christlichen Würdenträgern hätte nur zu Protesten geführt.
Stattdessen setzten sie auf Gleichschaltung: Jugendorganisationen, die bisher der Kirche unterstanden hatten, wurden in die Hitlerjugend eingegliedert. Die nationalsozialistische Weltanschauung wurde so dargestellt, als gäbe es keinen Widerspruch zum christlichen Glauben. In Wahrheit hatten die Nationalsozialisten insgeheim die Abschaffung des Christentums im Sinn. Trotzdem waren nicht wenige Christ/-innen begeisterte Anhänger/-innen des Nationalsozialismus.
Eines Tages stand eine merkwürdige Frau im Kinderheim St. Josefspflege. Sie hatte einen Mann mit einer Kamera dabei. Angela und die anderen Kinder wunderten sich: Was hatten die hier zu suchen?
Die Kinder waren zunächst zurückhaltend. Doch die Frau mit den rotblonden Haaren hatte Schokolade und Brausepulver dabei und sie konnte sogar ihre Sprache! Auf Romanes redete sie sehr freundlich mit ihnen. Sie wollte einige Spiele veranstalten und versprach den Kindern Süßigkeiten, wenn sie nur artig alles mitmachen würden. Was hatte das bloß für einen Sinn?
»Die Rassenforscherin Eva Justin. Wir Kinder wurden von ihr angelockt und als Versuchskaninchen für ihre Doktorarbeit missbraucht. Auch ich wurde fotografiert und gefilmt. Auch ich musste diese dummen Spiele mitmachen und habe Brausepulver und Schokolade dafür gekriegt. Schokolade! So etwas Gutes gab es damals ja überhaupt nicht, im Krieg. Damit wollte sie sich nur einschmeicheln bei uns Kindern. Damals konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass diese Frau uns alle weghaben wollte. Und dass die Nazis schon längst unseren Tod beschlossen hatten, die ›Endlösung‹, die Ermordung aller Sinti.«
Hier kannst Du einen Ausschnitt aus dem Video sehen:
Angela und die anderen waren also nur Testobjekte. Und diese Frau meinte es alles andere als gut mit ihnen! Sie brachte sogar einen Kameramann mit, um die »Intelligenztests« an den Kindern genauestens zu dokumentieren. Die Kinder ahnten nicht, dass sie in großer Gefahr schwebten.
Was war das für eine geheimnisvolle Frau?
Eva Justin war bei den Sinti und Roma berüchtigt. Sie nannten sie in ihrer Sprache »Lolitschai«, das bedeutet »rote Frau«. Damit spielten sie auf ihre Haarfarbe an. Eva Justin tauchte überall dort auf, wo Sinti und Roma lebten, und untersuchte ihr Aussehen und ihren Stammbaum.
Vorurteile gegen Sinti und Roma gab es schon lange in der Bevölkerung. Nun sollten sie auch wissenschaftlich bestätigt werden. Die Aufgabe von Eva Justin und ihren Kolleg/-innen bestand darin, zu beweisen, dass Sinti und Roma einer minderwertigen »Rasse« angehören würden und ihre angebliche »Asozialität« vererbbar sei. Tausende Menschen wurden aufgrund ihrer Gutachten in Konzentrationslager eingewiesen.
Eine Doktorarbeit wird zur Mordwaffe
Schon der Titel der Doktorarbeit, »Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeuner und ihrer Nachkommen«, weist darauf hin, worauf es Eva Justin in Wirklichkeit ankam. Die Arbeit sollte beweisen, dass alle Sinti faul und unerziehbar seien - auch jene, die in Heimen groß geworden waren.
»Artfremd erzogen« bedeutete im Fall von Angela, dass sie in den letzten Jahren bei katholischen Nonnen und nicht bei ihren Eltern gelebt hatte. Die Doktorarbeit sollte ein für alle Mal klarstellen, dass es völlig egal war, wer die Kinder erzog: Sie hätten die »Minderwertigkeit« von ihren Eltern geerbt und könnten das nicht ändern. Dass die Kinder der St. Josefspflege gute Noten in der Schule hatten und fleißig auf den Feldern mitarbeiteten, spielte bei der rassistischen Beurteilung keine Rolle.
Damit Eva Justin ihre Tests durchführen konnte, wurde angeordnet, die Kinder bis auf weiteres im Heim zu belassen. Denn eigentlich gab es seit dem 16. Dezember 1942 den Befehl, alle Sinti und Roma im Deutschen Reich in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zu deportieren. Dies bedeutete also zunächst einen Aufschub für die Kinder, zeigt aber auch deutlich, dass sie nie eine Chance hatten: Es war von vorneherein beschlossene Sache, auch Angela und ihre Freund/-innen zu verschleppen.
Was für Tests wurden an Angela und den anderen Kindern durchgeführt?
Dies ist eine Tabelle aus Eva Justins Doktorarbeit. Man sieht, dass die Kinder nicht einmal mit Namen, sondern nur mit Kürzeln aufgelistet sind. »ZM +« bedeutet zum Beispiel: »Zigeunermischling mit vorwiegend zigeunerischem Blutanteil«. Auch Angela wurde in diese Kategorie eingeteilt. »ZM-« bedeutet »Zigeunermischling mit vorwiegend deutschem Blutanteil«. Sie wurden ebenfalls von den Nationalsozialisten als »Zigeuner« verfolgt. Auch wenn Angela und viele andere Sinti und Sintize ihr Leben lang auf deutschem Gebiet lebten, wurden sie nicht als deutsch angesehen.
Die Jenischen gehören nicht zur Minderheit der Sinti und Roma. Aber auch sie wurden von den Nationalsozialisten als »Zigeuner« verfolgt.
Eva Justin führte verschiedene Tests durch. Einen davon fand Angela besonders blödsinnig: Die Kinder sollten Kartoffeln sortieren, die guten in einen Eimer, die verfaulten auf einen Haufen. Wer innerhalb einer vorgegebenen Zeit die meisten Eimer schaffte, bekam eine Belohnung. Damit wollte die »Wissenschaftlerin« die körperliche Ausdauer der Kinder testen. Man kann in der Tabelle erkennen, dass schon sieben- und achtjährige Kinder zum »Leistungskartoffellesen« herangezogen wurden. Dass diese nicht die gleiche Arbeit wie ältere Jugendliche verrichten konnten, versteht sich von selbst.
Schon wochenlang hatten sich die Kinder auf den angeblichen Schulausflug gefreut. Sie hatten Lieder gelernt und sprachen von nichts anderem mehr. Niemand wusste, wohin die Reise gehen sollte: Die katholischen Schwestern machten ein Geheimnis daraus. Dann kamen Männer in das Kinderheim, um für jedes Kind ein Formular auszufüllen und Fingerabdrücke abzunehmen. Das bräuchten sie für die Fahrausweise, behaupteten sie.
Nur von Angela wurde kein Abdruck genommen. Ausgerechnet sie sollte an dem Schulausflug nicht teilnehmen dürfen. Das fand die Zehnjährige furchtbar ungerecht. Sie hatte sich doch anständig verhalten und gar keine Bestrafung verdient! Als der Tag der Abfahrt kam, mischte sich Angela daher unauffällig zwischen die wartenden Kinder.
»Ich wäre selbst so gerne mitgefahren. Das können Sie gar nicht glauben, wie gern ich da mitfahren wollte. Die Kleinen freuten sich so sehr auf die Fahrt mit dem Bus. Aber Schwester Agneta hat mich gesehen und hat mir gleich eine Ohrfeige gegeben. ›Du gehörst nicht dazu!‹, hat sie mir gesagt. ›Sofort in den Schlafsaal, in dein Bett, und lass dich ja nicht mehr blicken!‹ Die Ohrfeige habe ich mein Leben lang nicht vergessen. Sie verfolgt mich bis in meine Träume hinein.«
Vom Fenster aus konnte Angela beobachten, wie die Kinder den Bus bestiegen. Sie fand es merkwürdig, dass einige der älteren Heimkinder sich gar nicht so recht auf den Schulausflug zu freuen schienen. Sie wehrten sich sogar mit Händen und Füßen. Vielleicht schreckte sie der Anblick der Polizisten ab, die den Ausflug begleiten sollte. Erst als Angelas Lehrerin und die Leiterin des Heims sich bereit erklärten mitzufahren schienen sie sich zu beruhigen.
Angela konnte ja nicht ahnen, dass die Ohrfeige, die sie als so ungerecht empfunden hatte, weit mehr verhinderte als einen Ausflug: Denn kurz darauf schrieb Angelas Lehrerin neben 39 Namen im Schülerverzeichnis denselben Satz: »Am 9.5.1944 eingewiesen nach Auschwitz«. Bei Angela jedoch stand dieser Satz nicht.
Wohin ging die Reise der Kinder?
Die Einträge von Angelas Lehrerin Johanna Nägele zeigen deutlich, dass die Mitarbeitenden der St. Josefspflege genau wussten, wohin die Reise der Kinder gehen würde. Bereits am 16. Dezember 1942 hatte Heinrich Himmler die Verschleppung aller Sinti und Roma in das Konzentrationslager Auschwitz befohlen. Die Transporte der Menschen in das Lager sollten bis zum April 1943 abgeschlossen sein.
Wieso waren die Kinder ein Jahr später noch im Kinderheim? Sie waren Forschungsobjekte der Wissenschaftlerin Eva Justin. Im Herbst 1942 beobachtete sie die Kinder sechs Wochen lang bei allem, was sie taten. Sie wollte beweisen, dass die Kinder sich nicht erziehen ließen, weil sie Sinti und Sintize und daher »asozial« seien. Bis zur Veröffentlichung von Eva Justins Doktorarbeit im März 1944 blieben die Kinder aus Mulfingen vor einer Deportation verschont.
»Die Zigeuner- und Zigeunermischlingsfrage ist ein Teil des Asozialenproblems.«
»Das deutsche Volk braucht aber zuverlässige und strebsame Menschen und nicht den Nachwuchs dieser unmündigen Primitiven.«
»Alle deutscherzogene [Fehler im Original] Zigeuner und Zigeunermischlinge 1. Grades […] sollen daher in der Regel unfruchtbar gemacht werden.«
Wieso kam Angela davon?
Bis heute kann nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden, weshalb Angela nicht mit den anderen Kindern deportiert wurde. Vermutlich wurde sie unter dem Nachnamen ihrer Mutter, als Angela Schwarz, in den Akten des Kinderheims geführt. Diesen Umstand könnten die Nonnen genutzt haben, um zumindest ihre Deportation zu verhindern: Die Gestapobeamten suchten sie wahrscheinlich unter dem Nachnamen ihres Vaters, Reinhardt.
Erst viele Jahre nach Kriegsende fand Angela ihren Vater Franz und ihre Stiefmutter Appolonia wieder. Sie hatten sich als russische Zwangsarbeiter/-innen ausgegeben und so den Krieg überlebt. Wären sie als Sinto und Sinteza enttarnt worden, hätte man sie wie die anderen Angehörigen der Minderheit in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.
Heute lebt Angela in der Pfalz. Sie spricht kaum über ihre Vergangenheit und möchte unerkannt bleiben. In ihrem kleinen Dorf gibt es Neonazis, die ihr große Angst machen.
Was passierte mit Angelas Freund/-innen aus dem Heim?
Eva Justins Doktorarbeit wurde im März 1944 gedruckt: Nun benötigte sie ihre »Versuchsobjekte« aus dem Heim in Mulfingen nicht mehr. Wenige Wochen später, am 9. Mai 1944, wurden 39 Kinder in einen Bus verladen. Begleitet von Polizisten, der Lehrerin Johanna Nägele und der Vorsteherin des katholischen Kinderheims fuhr der Transport zunächst nach Künzelsau. Dort mussten die Kinder in einen Zug umsteigen.
Drei Tage später erreichte der Transport das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Dort bekamen die Kinder Häftlingsnummern eintätowiert und wurden in das sogenannte »Zigeunerlager« eingewiesen. Vier von ihnen kamen wenig später als Zwangsarbeiter/-innen in die Konzentrationslager Buchenwald und Ravensbrück.
In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 ermordeten SS-Männer insgesamt 2897 Sinti und Roma in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Unter ihnen waren auch 35 Kinder aus Mulfingen.
Denkmal statt Grabstein
Die Jugendwohlfahrtsbehörde in Stuttgart führte Akten über die Kinder aus Mulfingen. Die Mitarbeitenden dort wussten über jede Verlegung genau Bescheid. Nach der Deportation der Kinder blieben 39 Aktenordner in der Behörde zurück. Fein säuberlich wurde anschließend jeder Ordner mit einem Vermerk versehen: »Verlegung von der Erziehungsanstalt St. Josefspflege nach Birkenau«.
Nachdem die Kinder in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet worden waren, malte eine Mitarbeiterin der Behörde ein Kreuz auf jeden Aktendeckel: »Fürsorgeerziehung endet wegen Tod«, schrieb sie dazu.
Jahrzehnte später stießen Mitarbeitende des Stuttgarter Jugendamtes auf die Geschichte der deportierten Kinder aus Mulfingen. Sie veranlassten die Errichtung eines Denkmals im Foyer des Jugendamtes in der Wilhelmstraße 3. Die Skulptur zeigt 39 Aktenordner - alles, was von den Kindern blieb. Das Denkmal soll an die Verstrickung der Fürsorgebehörden in den Nationalsozialismus und dessen rassistisches Mordprogramm erinnern.