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16. Januar 1924Geburt
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Oktober 1940Ghetto
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September 1943Zwangsarbeit
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Oktober 1944Aufstand
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6. Januar 1945Hinrichtung
Ester wurde als mittlere von drei Schwestern am 16. Januar 1924 in Warschau geboren. Von ihrer Familie und ihren Freund/-innen wurde sie nur Estusia genannt. Ihre Eltern waren beide gehörlos. Ester jedoch konnte, ebenso wie ihre beiden Schwestern, hören und sprechen.
Die Familie lebte in einer geräumigen Wohnung mitten in Warschau. Dort hatten sich die Wajcblums eine spezielle elektrische Türklingel einbauen lassen. Wenn jemand hereingelassen werden wollte, leuchteten in jedem Raum elektrische Glühbirnen auf. Ester und ihre beiden Schwestern hatten auch viel Kontakt zu anderen Gehörlosen. Ihre Eltern hatten einen großen Freundeskreis, zu dem viele Gehörlose zählten, und auch das Kindermädchen der Familie war gehörlos. Das war kein Problem, denn Ester und ihre Schwestern beherrschten die Gebärdensprache.
Was waren die Wajcblums für eine Familie?
Ester hatte zu ihren Eltern und ihren Schwestern, besonders zu ihrer jüngeren Schwester Anna, ein enges Verhältnis. Sie wuchs in einer liebevollen und behüteten Atmosphäre auf und hatte eine glückliche Kindheit.
In den Ferien fuhr die Familie gemeinsam zu Verwandten aufs Land und auch in Warschau unternahmen sie viel gemeinsam, besuchten das Theater oder gingen bummeln.
Esters Vater konnte viele Sprachen
Esters Eltern, Jacob und Rebecca, waren beide gehörlos. Trotzdem konnte sich Esters Vater in vier Sprachen verständigen. Dabei benutzte er seine Hände und setzte Gesten und Lippenbewegungen ein. Er war Besitzer einer kleinen Fabrik, die sich auf die Herstellung hölzerner Kunstwerke wie zum Beispiel Dreidel spezialisiert hatte. Dreidel sind kleine Kreisel, mit denen die Kinder beim jüdischen Lichterfest Chanukka spielen.
In seiner Fabrik beschäftigte Jacob Wajcblum ausschließlich gehörlose Arbeiter/-innen. Seine Firma war sehr erfolgreich: 1936 reiste er nach Paris und stellte dort die Kunstwerke seiner Firma auf der Weltausstellung aus; 1939 wurden sie in New York gezeigt.
Religion spielte für Ester kaum eine Rolle
Die Familie Wajcblum lebte nicht streng religiös. Das bedeutete, dass sie die hohen jüdischen Feiertage zwar jedes Jahr traditionell feierten, Religion und Gläubigkeit – wie zum Beispiel regelmäßige Besuche der Synagoge – im Alltag aber keine bedeutende Rolle spielten. Ester und ihre Schwester besuchten auch keine jüdische Schule, sondern gingen auf eine private katholische Mädchenschule.
Ester hatte viele Hobbys und war sportlich sehr begabt. Bei einem gemeinsamen Theaterbesuch mit ihrer Mutter wurden alle Kinder aus dem Publikum zu einem Tanz- und Ballettwettbewerb eingeladen. Ester nahm mit großer Begeisterung teil. Sie war so gut, dass sie den ersten Preis gewann. Außerdem erhielt sie ein Stipendium für eine bekannte Tanzschule in Warschau.
Im September 1939 marschierte jedoch die deutsche Wehrmacht in Warschau ein. Nur wenige Wochen später wurde in Esters Heimatstadt ein ganzer Stadtbezirk, in dem vor allem Juden und Jüdinnen lebten, erst zum »Seuchensperrgebiet« und im Oktober 1940 zum Ghetto erklärt. Auch Ester musste im Warschauer Ghetto leben.
»Hier und dort begann der Bau einer Ziegelmauer, drei Meter hoch« – so erinnert sich Ester Wajcblums Schwester Anna an die Abriegelung des neu errichteten Warschauer Ghettos. Die Mauer umschloss einen ganzen Wohnbezirk inmitten der Millionenstadt Warschau und war insgesamt 18 Kilometer lang. Alle in Warschau lebenden Juden und Jüdinnen mussten innerhalb weniger Wochen in das Ghetto ziehen – 350.000 Menschen auf engstem Raum.
Esters Familie hatte in Warschau schon immer in der Miła-Straße gelebt. Damit lag ihre Wohnung innerhalb der Ghettomauern und sie mussten nicht umziehen.
Schon kurz nach der Besetzung der Stadt hatten die Nationalsozialisten zahlreiche antijüdische Verordnungen erlassen, die auch Ester hart trafen: Sie musste fortan ein Band mit einem blauen Davidstern um den Arm tragen. So sollte sie sofort als Jüdin erkannt werden. Sie konnte sich bald nicht mehr frei in ihrer Heimatstadt bewegen, da Juden und Jüdinnen innerhalb der Ghettomauern bleiben mussten. Sie wurde der Schule verwiesen und musste sich, mit – 15 Jahren – möglichst schnell eine Arbeitsstelle suchen, um Geld zu verdienen.
Ester fand in einem der jüdischen Krankenhäuser des Ghettos Arbeit. Als Krankenschwester bekam sie hautnah mit, was Hunger, Kälte und Schmutz mit den Menschen machte. Da es nur wenige Medikamente gab, konnten die Ärzt/-innen und Pfleger/-innen kaum etwas für die Kranken tun.
Wie konnte Esters Vater seine Familie zunächst retten?
Im Juli 1942 begannen die Nationalsozialisten damit, das Warschauer Ghetto zu räumen. Ihr Plan war es, alle noch dort lebenden Juden und Jüdinnen im neu errichteten Vernichtungslager Treblinka mit Giftgas zu ermorden oder sie in Konzentrationslager zu bringen. Auch Ester und ihre Familie fürchteten die Deportation. Zunächst gelang es Esters Vater, die Familie davor zu bewahren.
Seine Holzfabrik besaß Jacob Wajcblum längst nicht mehr. Nachdem die deutsche Wehrmacht Warschau besetzt hatte, kamen sie eines Tages und verschlossen die Fabrikgebäude. Sie erklärten ihm, dass die Firma nicht mehr ihm gehöre. Damit war die Lebensgrundlage der Familie Wajcblum zerstört.
Mitten im Krieg kam Esters Vater schließlich auf eine Idee: Er stellte Holzkreuze für die Gräber deutscher Soldaten her. Damit übte Esters Vater plötzlich eine wichtige Arbeit für die Wehrmacht aus. Das war ein Schutz, der die Familie eine Zeitlang vor der Deportation bewahrte. Aber alle wussten: Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis auch sie in einen Zug steigen mussten.
Ester musste jeden Tag schwere Arbeit leisten
Von Esters Schwester Anna wissen wir, dass Ester im jüdischen Krankenhaus in der Stawkistraße 6-8 arbeitete. Dort war seit 1942 das jüdische Krankenhaus untergebracht, das über eine Station für Infektionskrankheiten und über ein Kinderhospital verfügte. Das Krankenhaus lag direkt am sogenannten Umschlagplatz. Hier mussten die Menschen aus dem Ghetto auf die Züge warten, mit denen die SS sie in den Tod verschleppte. Ester war als Krankenschwester zunächst vor einer Deportation geschützt.
Nachdem im September 1942 das gesamte jüdische Krankenhaus in der Stawkistraße geräumt worden war, blieb Ester als eine der wenigen zurück. Sie lebte inzwischen mit ihrer Familie in einer Wehrmachtsbaracke außerhalb des Ghettos. Ihr Vater hatte über seine guten Verbindungen zur Wehrmacht erreicht, dass die gesamte Familie Wajcblum mit speziellen Ausweispapieren ausgestattet war.
So blieb sie noch bis Mai 1943 in Warschau. Im Ghetto lebten zu diesem Zeitpunkt von ursprünglich fast 500.000 Menschen nur noch etwa 50.000. Viele waren bereits dort an Hunger oder Krankheiten gestorben. Alle anderen Kinder, Frauen und Männer verschleppten SS- und Polizeikräfte innerhalb von zehn Monaten in Konzentrations- und Vernichtungslager.
Wie ging es weiter mit Familie Wajcblum?
Im Mai 1943 brachten SS-Männer Ester, ihre Eltern und ihre Schwester Anna zum sogenannten Umschlagplatz. Das Wort Umschlagplatz meint eigentlich, dass dort Waren zum Weitertransport umgeladen werden. Doch im Warschauer Ghetto hieß so der Ort, wo die Menschen für die Deportation gesammelt wurden. Am Umschlagplatz angekommen, sperrte die SS die Familie in einen Zug und deportierte sie in das etwa 170 Kilometer entfernte Konzentrationslager Majdanek.
»Wir kamen auf den Umschlagplatz und reihten uns in ein Meer von Menschen ein. Alle saßen auf dem Boden, umklammerten ihre Habseligkeiten, die Familien drängten sich zusammen, wartend. Es schien keine Rolle zu spielen, wie lange wir warteten. […] Dann kamen die Züge und wir wurden auf sie geladen. […] Zwei Tage in geschlossenen Wagen, ohne Wasser oder etwas zu essen! […] Unsere Zungen fühlten sich wie Holzräder in unseren Mündern an. […] Menschen fielen in Ohnmacht und starben, einer auf dem anderen. […] Als wir ausstiegen, waren von den ursprünglich 170 Menschen noch 120 übrig.«
»Vielleicht finden wir unsere Eltern«, das war der Gedanke, der Ester und ihre Schwester Anna wochenlang bewegte. Sie waren an einem Maitag im Konzentrationslager Majdanek angekommen und direkt nach der Ankunft von ihren Eltern getrennt worden. Während Aufseherinnen den beiden Schwestern befahlen, sich auszuziehen und ihre Kleidung sowie andere Besitztümer abzugeben, blieben Esters Mutter und Vater verschwunden.
Über Wochen wollten die beiden Schwestern die Hoffnung nicht aufgeben. Womöglich waren die Eltern in einem anderen Lager untergekommen? In Wirklichkeit waren Jacob und Rebecca Wajcblum bereits kurz nach ihrer Ankunft in Majdanek in einer der Gaskammern ermordet worden.
Von Majdanek nach Auschwitz
Doch Majdanek war für Ester und Anna nur eine Zwischenstation: Nach wenigen Monaten wurden sie gemeinsam in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau verschleppt.
Ester und Anna mussten nach ihrer Ankunft im Frauenlager in Auschwitz-Birkenau leben (auf der Karte ist das Frauenlager mit der Nummer B I gekennzeichnet). Die Lebensbedingungen dort waren katastrophal: Die Frauen bekamen nur einmal am Tag etwas Suppe und Brot zu essen.
Erst als sie sich zur Arbeit in den Weichsel-Union-Metallwerken meldeten, verbesserte sich ihre Lage. Als wichtige Arbeiterinnen zogen die beiden Schwestern nun in einen etwas besseren Block und bekamen etwas mehr zu essen. Dennoch wurde Ester schwer krank. Durch die schlechten Lebensbedingungen und das Ungeziefer, vor allem Läuse und Wanzen, verbreiteten sich Krankheiten sehr schnell.
»Kurz nachdem wir in unserem neuen Block angekommen waren, wurde Estusia krank. Typhus. Sie verlor ihren Appetit, glühte vor hohem Fieber und hatte keine Kraft zu stehen oder zu gehen. Sie fiel förmlich von ihren Füßen. Ich konnte sie nicht im Block lassen. Ich musste sie zur Arbeit schleifen. […] Es gab niemanden, der helfen konnte, niemanden, der mir raten konnte, was ich tun sollte. […] Es gab eine Art ›Krankenhaus‹, das sogenannte Revier im alten Lager. Es bot wenig medizinische Versorgung; niemand kümmerte sich um die Kranken.«
Wie durch ein Wunder überlebte Ester die schwere Krankheit. Nach und nach ging es ihr besser.
Ester musste Granaten für den Krieg bauen
In den Weichsel-Union-Metallwerken wurden Zünder für Artilleriegeschosse produziert. Dort arbeitete Ester mit nur wenigen anderen Frauen in einem speziellen Bereich der Fabrik: dem Pulverraum. Hier wurde Sprengstoff bzw. Schwarzpulver für Geschosse verarbeitet.
Ester und die anderen Arbeiterinnen im Pulverraum bedienten Pressen. Ihre Arbeit bestand darin, die Zünder der Granaten mit Schwarzpulver zu füllen. Mit einem kleinen Löffel füllte Ester das Pulver in die Öffnung der Zünder. Anschließend wurde es mit der Presse festgedrückt. Jede Arbeiterin hatte eine bestimmte Menge an Pulver zu verarbeiten. Am Ende eines Arbeitstages prüfte der Meister durch Stichproben, ob die Zünder explodierten oder nicht. So wollte man Sabotageaktionen auf die Schliche kommen.
Diese Frau wollte Ester für den Widerstand gewinnen
Ester hatte erst wenige Monate im Pulverraum der Munitionsfabrik gearbeitet, als eine Mitgefangene auf sie aufmerksam wurde. Die 22-jährige Róża Robota war Teil einer Widerstandsgruppe im Lager.
Diese plante einen bewaffneten Aufstand an den Krematorien, um dem massenhaften Töten ein Ende zu setzen. Auch wenn dies hieß, sich in größte Lebensgefahr zu bringen. Ihnen fehlten jedoch Waffen.
Daher knüpfte Róża Kontakt zu Ester. Fortan schmuggelte Ester Sprengstoff aus dem Pulverraum.
Der Sprengstoff, mit dem Ester täglich zu tun hatte, war Gold wert. Mit ihm konnte man Handgranaten für den geplanten Häftlingsaufstand bauen. Bei dem Aufstand sollten Krematorien in die Luft gesprengt, SS-Männer umgebracht und eine Massenflucht organisiert werden.
Wie sollte das gehen? Die Häftlinge sahen sich bewaffneten Wachmannschaften gegenüber. Die Stacheldrahtzäune, die die Baracken umgaben, standen unter Strom. Sie selbst waren durch Hunger und Zwangsarbeit geschwächt. Und doch entstand ein geheimes Widerstandsnetz.
Ester konnte noch vier weitere Arbeiterinnen aus den Weichsel-Union-Metallwerken für ihren Teil des Plans gewinnen: Bei der Füllung der Granaten blieb immer ein winziges bisschen Schießpulver als Abfall zurück.
Es war durch die Presse leicht beschädigt worden und hatte ein wenig von seiner Sprengkraft verloren. Daher wurde es nicht weiterverarbeitet, sondern weggeworfen. Ester und die anderen Frauen sammelten heimlich diesen Abfall.
Ihnen gelang es, fast jeden Tag kleine Mengen Sprengstoff aus der Fabrik zu schmuggeln. Zwei bis drei Teelöffel kamen dabei täglich zusammen. Sie packten das Pulver in kleine Stofffetzen. Die winzigen Beutelchen ließen sie unter ihrem Häftlingskleid verschwinden oder klemmten sie sich unter ihre Achseln.
Der Rückweg von der Fabrik ins Lager war jedes Mal nervenaufreibend: Ständig mussten die Kameradinnen mit einer Durchsuchung rechnen. Fast ein Jahr dauerte es, bis Ester und ihre Freundinnen genug Schwarzpulver für die Herstellung von Handgranaten gesammelt hatten.
Ester riskierte ihr Leben
Der Pulverraum war der am besten gesicherte Bereich der Fabrik. Er war sehr klein und überschaubar. Insgesamt arbeiteten dort nur neun Frauen, eine davon war Ester.
Die Arbeiterinnen durften den Raum während der Arbeitszeit nicht verlassen und keine unbefugte Person durfte ihn betreten. Die gesamte Fabrik war so gebaut, dass die Aufseher und Meister jederzeit und an fast jeder Stelle die Arbeiterinnen überwachen konnten. Das Risiko, erwischt zu werden, war also sehr groß.
Die einzelnen Räume und Arbeitsbereiche waren durch Glaswände voneinander getrennt. Die Aufseher standen beispielsweise in einer Abteilung und konnten durch die Wände auch die anderen Abteilungen einsehen. Auf einer kleinen Erhöhung in der Mitte des Produktionsraumes saß der zuständige Meister in einer Glaskabine.
Außerdem wurden die Arbeiterinnen regelmäßig kontrolliert und durchsucht. So sollte sichergestellt werden, dass sie keine verbotenen Gegenstände (zum Beispiel Taschenmesser oder Seifenstücke) besaßen. Auch der Gang zur Toilette war nur zu festen Zeitpunkten erlaubt. Kein Schritt und keine Handlung blieben unbeobachtet.
Die vier Frauen hatten große Angst vor Kontrollen
Ruzia Grunapfel arbeitete zusammen mit Ester in dem Pulverraum der Munitionsfabrik. Ester gelang es, sie für den lebensgefährlichen Sprengstoffschmuggel zu gewinnen. Sie erinnert sich, wie sie von Ester angesprochen wurde und wie Ester ihr den Ablauf des Schmuggels erklärte:
»Estusia sprach mich an. Sie sagte mir, dass ein Widerstand organisiert würde und wir in der Lage wären, zu helfen, da wir die einzigen seien, die Zugang zum Pulver hätten. […] Sie erklärte mir, dass ich versuchen sollte, den Abfall mit dem guten Pulver zu mischen und einige Granaten mit schlechtem Pulver befüllen sollte, um gutes Pulver zu sammeln. Das gute Pulver füllten wir in kleine Stoffstücke. Wir behielten das Pulver an unseren Körpern oder in unseren Taschen.
Sehr oft, bevor wir das Lager betraten, hielten sie uns an und durchsuchten uns. Wenn wir von Weitem sahen, dass es eine Durchsuchung gab, verstreuten wir das Pulver auf dem Boden und traten auf es, wir verrieben es mit der Erde, sodass man uns nicht erwischen konnte.
Das Pulver war dunkelgrau. Sehr dunkel. Fast schwarz. Es war nicht wie Pulver, es waren eher winzige Körner. […] Innerhalb eines Tages konnten drei von uns ungefähr zwei Teelöffel Pulver sammeln.«
Was planten die Männer vom Sonderkommando?
Das Sonderkommando war, wie schon der Name besagt, eine besondere Arbeitseinheit. Sie bestand zeitweise aus über 800 jüdischen Männern, die in der sogenannten Todeszone arbeiten mussten. Das heißt, sie wurden von der SS dazu gezwungen, bei den Gaskammern und den Verbrennungsanlagen zu arbeiten. Die Männer mussten die zum Tod bestimmten Menschen beruhigen. Ihnen wurde erzählt, dass sie lediglich duschen gehen würden. Doch in Wahrheit wurden die Menschen mit Hilfe des Gifts Zyklon B erstickt.
Die Männer des Sonderkommandos mussten dann die abgelegten Kleidungsstücke einsammeln und die Toten aus den Gaskammern tragen. Sie sollten ihnen auch noch die Haare schneiden und Goldzähne ausreißen. Dann hatten sie die Leichen der ermordeten Männer, Frauen und Kinder in den Krematorien zu verbrennen.
Aus ihrer Verzweiflung heraus planten die Männer im Sonderkommando den Aufstand. Sie wollten den Massenmord an den Juden und Jüdinnen zu stoppen oder zumindest aufhalten.
Wie gelangte der Sprengstoff zum Sonderkommando?
Der geschmuggelte Sprengstoff konnte nur über komplizierte Wege und mehrere Zwischenstationen an das Sonderkommando weitergegeben werden. Im Lager übergab Ester das Pulver an Róża Robota oder an andere Frauen, die in der Effektenkammer arbeiteten. In den meisten Fällen fand die Übergabe des Sprengstoffs an die Häftlinge des Sonderkommandos in diesen Baracken statt. Es war ein günstiger Ort für die Übergabe, da die Häftlinge des Sonderkommandos dort häufig Kleidungsstücke aus den Krematorien abliefern mussten.
Marta Cige, eine belgische Jüdin, arbeitete zusammen mit Róża Robota in einer der Baracken, in der die Kleidung und Gegenstände der Häftlinge sortiert und gelagert wurden. Ohne es zu wissen, half sie mit, den Sprengstoffschmuggel zwischen dem Pulverraum und dem Sonderkommando zu ermöglichen.
»Eines Tages gab mir Ester Wajcblum ein schmales, leichtes Paket und bat mich, es bei mir zu behalten, bis sie selbst oder jemand, den sie schicken werde, dieses Paket übernehmen würde. Sie war sehr aufgeregt, aber sie wollte mir nicht sagen, was in dem Paket war. Es war sehr leicht, in Lumpen gewickelt und wog etwa 250 Gramm. Nach einigen Tagen kam Róża Robota, die in der Bekleidungskammer arbeitete, um das Paket abzuholen.
Dieser Vorgang wiederholte sich einige Male – manchmal kam Ester und holte das Paket, manchmal Róża. […] Erst später habe ich erfahren, dass die Pakete Schießpulver enthielten, das aus den Union-Werken geschmuggelt wurde. Ester hat niemals darüber geredet; nur einmal sagte sie zu mir: ›Wir können uns aus dieser Hölle befreien.‹ Als ich zweifelte, sagte sie: ›Es gibt bestimmte Wege …‹«
Am 7. Oktober 1944 war es soweit: Die Häftlinge des Sonderkommandos traten den lange geplanten Aufstand im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau los. Sie griffen die SS-Männer an, setzten das Krematorium IV in Brand und versuchten zu fliehen. Trotz der monatelangen Vorbereitungen handelten sie an diesem Tag spontan: Denn die SS hatte ihnen kurz zuvor verkündet, eine große Zahl der Häftlinge des Sonderkommandos mitnehmen zu wollen, was nichts anderes als ihren Tod bedeutet hätte.
Ester hatte also mit ihrem Sprengstoffschmuggel den verzweifelten bewaffneten Aufstand unterstützt. Mit ihrer Hilfe konnten Handgranaten gebaut und eines der Krematorien zerstört werden. Damit war dieses Gebäude für das Massenmorden nicht mehr zu gebrauchen.
Trotzdem ging der ursprüngliche Plan nicht auf. Die SS war übermächtig und bewaffnet. Und nicht alle Mitglieder des Widerstands waren vorbereitet und verstanden, was passierte. Viele Häftlinge des Sonderkommandos wurden bei dem Aufstand umgebracht. Eine Massenflucht gelang nicht.
Ein Häftling des Sonderkommandos erzählt, wie der Aufstand genau ablief
Shlomo Dragon war Häftling des Sonderkommandos und Teil des Lagerwiderstandes. Er versteckte die Handgranaten, die mit dem geschmuggelten Sprengstoff hergestellt worden waren, in seiner Matratze, auf der er jede Nacht schlief.
»Man holte unsere Gruppe aus dem Krematorium III auf den Hof und begann mit einer Selektion. In dieser Zeit trafen weniger Transporte ein, die Mehrheit der Sonderkommando-Häftlinge wurde schon nicht mehr benötigt. Die Deutschen wollten rund 100 Sonderkommando-Häftlinge selektieren. Einige von uns wollten sofort mit dem Aufstand beginnen. […]
Der Aufstand war noch nicht durchorganisiert. […] Aber in dem Moment, in dem man sich nun entschieden hatte, fingen wir an, auf die SS-Männer mit allem, was nur erreichbar war, einzuschlagen. Wir verletzten zwölf Männer. Wahrscheinlich gab es auch zwei oder drei Tote. Sofort kamen SS-Kräfte auf das Krematoriumsgelände, eröffneten das Feuer und nahmen das Gelände ein. Die Aufständler zündeten das Gebäude an, indem sie mit den Matratzen auf der Wohnetage Feuer legten.
Wir wollten fliehen, doch praktisch waren wir eingeschlossen und konnten nirgendwohin entkommen. Um das Krematorium war der elektrische Zaun, und das Tor war vor uns verschlossen. Im Verlauf des Aufstandes töten die Deutschen mehr als 500 Sonderkommando-Häftlinge von den 700, die in den Krematorien waren.«
Die SS-Männer suchten nach den Beteiligten
Die SS wollte Rache. Schnell fand sie heraus, dass der Sprengstoff nur aus dem Pulverraum der Weichsel-Union-Metallwerke stammen konnte. Die Deutschen kamen auf eine junge Frau namens Ala Gertner, die zusammen mit Ester in der Munitionsfabrik arbeitete. Auch sie war Teil der Widerstandsgruppe im Lager. Jemand hatte sie an die SS verraten. Unter tagelanger furchtbarer Folter gab sie schließlich Namen preis: Regina Safirsztajn, Róża Robota und Ester Wajcblum. Die drei Frauen wurden daraufhin von der SS verhört.
SS-Männer folterten Ester und die anderen über mehrere Wochen. Sie wollten die Namen weiterer Beteiligter erfahren. Doch Ester und ihre Kameradinnen verrieten nichts. Sie gaben keinen Namen preis.
Am Abend des 6. Januar 1945, gerade einmal drei Wochen vor der Befreiung des Lagers, wurde Ester vor den Augen der versammelten Häftlinge erhängt. Zusammen mit Ester wurden auch ihre Kameradinnen Ala Gertner, Regina Safirsztajn und Róża Robota hingerichtet. Ester starb nur wenige Tage vor ihrem 21. Geburtstag.
So lautete Esters letzter Brief an ihre Schwester
»Ich höre die Schritte der Gefangenen, die auf den Boden über mir knallen, das Gemurmel der Menschen, die nach einem langen Arbeitstag zu ihrem Block zurückkehren, um sich auszuruhen. Durch die Gitterstäbe meines Fensters versuchen wenige graue Lichtstrahlen sich einen Weg zu bahnen, die Strahlen des Sonnenuntergangs gebrochen von den Schatten vieler vorbeigehender Füße.
Die vertrauten Geräusche des Lagers – die Schreie der Kapos, die Schreie nach Tee, nach Suppe, nach Brot, all diese verhassten Geräusche scheinen mir nun kostbar und werden so bald verloren sein. Diejenigen hinter meinem Fenster haben noch Hoffnung, aber ich habe nichts; alles ist für mich verloren. Die frohe Botschaft der bevorstehenden Befreiung ist nicht für mich, der Tee ist nicht für mich, der Appell, alles ist verloren und ich will doch unbedingt leben.«
Esters Schwester Anna hat den Holocaust überlebt. Sie lebte später in Kanada und hat ihre Erlebnisse in ihrem Buch »Never far away« (auf Deutsch: »Niemals weit entfernt«) festgehalten.
So wird heute an Ester und die anderen Frauen erinnert
Für viele Häftlinge wurde der Aufstand zu einem unvergessenen Ereignis. Auch wenn die Massenflucht nicht gelang und nur eines der vier Krematorien in Auschwitz-Birkenau zerstört worden war, war den Häftlingen ein bewaffneter Aufstand im Zentrum der Tötungsmaschinerie gelungen.
Damit hatte die SS nicht gerechnet. Es war überaus mutig, es überhaupt zu versuchen. Die Wahrscheinlichkeit, selbst zu überleben, war gering. Den anderen gab dieser Widerstand Kraft, nicht aufzugeben und weiter für ihr Überleben zu kämpfen.