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24. Oktober 1930Geburt
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10. Dezember 1941Ghetto
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4. Oktober 1944Vernichtungslager
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21. Januar 1945Todesmärsche
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13. März 1949Auswanderung
Marta und Jindřich Löwidt hatten sich lange ein Kind gewünscht, als 1930 endlich ihre Tochter Eva geboren wurde. Vater Jindřich war Chemiker und besaß eine Gummifabrik, die der Familie ein gutes Auskommen sicherte. Auch Großvater Rudolf war Unternehmer. Er führte im benachbarten Stadtviertel eine Fabrik für Fischkonserven. Haus und Garten der Großeltern waren besonders sonntags der Sammelpunkt der Familie. Hier gab es Hühner, Tauben, Pferde und den lebhaften Dackel Bobik. Eva liebte es, der Familie Gedichte vorzutragen oder Lieder vorzusingen. Eltern und Großeltern gaben immer ein dankbares Publikum ab.
Evas Elternhaus war gutbürgerlich, aber doch nicht ganz so fein wie Tante Klara, die aus Ungarn stammte und sich stets mit perfekter Frisur und Handschuhen sehen ließ. Eva dagegen durfte auf Bäume klettern und sich auch mal ordentlich schmutzig machen. In ihrem großen Zimmer hatte sie eine Menge Puppen zum Spielen und einen Kaufmannsladen mit allem Drum und Dran.
Ans Herz gewachsen war ihr das Hausmädchen Boženka. Gemeinsam unternahmen sie Spaziergänge auf den Hügeln der Umgebung. Sie sammelten Beeren und bastelten daraus Halsketten.
War Evas Familie gläubig?
Eva wusste, dass ihre Familie jüdisch war. Das machte keinen Unterschied zwischen ihr und ihren nicht-jüdischen Freund/-innen. Und Eva hatte viele Freund/-innen, im deutschen Kindergarten und unter den tschechischen Nachbarskindern. Zuhause sprach Eva beide Sprachen. Das war damals in vielen jüdischen Familien in Böhmen verbreitet. In diesem Teil der Tschechoslowakei war die Mehrheit der Juden und Jüdinnen assimiliert, das heißt, sie lebten sehr angepasst an die nicht-jüdische Gesellschaft.
Evas Eltern lebten die jüdische Religion nicht sehr streng. Nur zum höchsten Feiertag, Jom Kippur, besuchten sie die Synagoge im Stadtviertel Bodenbach. Als Eva einmal Boženka in die katholische Kirche begleitete, auf den Knien betete und sich eifrig mit Weihwasser bekreuzigte, hatte Evas Mutter nichts dagegen einzuwenden: »Der liebe Gott ist überall«, lachte sie. Zuhause stellte man einen Weihnachtsbaum auf und Kerzen zu Chanukka.
Wo lebte Eva?
Evas Geburtsort Tetschen lag unmittelbar an der deutschen Grenze. Hier, im Sudetenland, sprachen die Bewohner/-innen überwiegend Deutsch. Die Tschechoslowakei war erst 1918, nach dem Ersten Weltkrieg, gegründet worden. Von knapp 14 Millionen Einwohner/-innen waren sieben Millionen Tschech/-innen, drei Millionen Deutsche und zwei Millionen Slowak/-innen. Außerdem lebten hier Ungar/-innen, Ukrainer/-innen, Pol/-innen, Roma und Romnja. Zwei- und Mehrsprachigkeit war verbreitet.
In dem katholisch geprägten Land hatte es seit Jahrhunderten eine jüdische Minderheit gegeben. Sie machte zwischen einem und zwei Prozent der Gesamtbevölkerung aus, lässt sich aber heute nicht mehr genau beziffern. Im 18. und 19. Jahrhundert hatte die deutsche Sprache vor allem in den Städten in vielen jüdischen Familien Zuspruch gefunden und löste das traditionelle Jiddisch als Alltagssprache ab. Um 1900 gewannen Tschechisch oder Slowakisch an Bedeutung. In Evas Jugendzeit sprachen jüdische Haushalte mehrheitlich eine dieser Sprachen.
Obwohl die Tschechoslowakei über bedeutende Industrien verfügte und eine funktionierende Demokratie aufgebaut hatte, wünschten viele Sudetendeutsche einen Anschluss ihrer Region an das Deutsche Reich. Hitlers Anhänger/-innen wussten diese Stimmung zu nutzen und hetzten gleichzeitig gegen Juden und Jüdinnen. Evas Eltern mussten eine schwere Entscheidung treffen: 1936 verließen sie ihre Heimatstadt und zogen nach Prag. Evas Einschulung stand bevor, das würde ihr den Umzug hoffentlich leichter machen.
Was ging in Papas Labor vor sich?
In Prag wurde Eva eingeschult und lebte sich schnell ein. Die Löwidts bezogen ein großes Haus mit Garten. Im Obergeschoss hatte der Vater ein Labor eingerichtet und experimentierte mit der Herstellung neuer Kunststoffe. Eines Tages erschütterte eine Explosion das Haus, und der Ingenieur erschien mit verrußtem Gesicht in der Tür. Nach dem ersten Schreck platzten Eva und ihre Freundin vor Lachen.
Im Labor entstanden auch schmale Ballons aus gelblichem Gummi: Kondome, die sorgfältig in Schachteln verpackt wurden. Ihr Zweck blieb Eva verborgen und auch, warum diese Ballons so gründlich auf Löcher geprüft wurden. Sie nahm zwei Stück an sich und wollte sie eben im Garten aufpusten, als ihre Mutter herbeistürzte und ihr die rätselhaften Produkte der chemischen Industrie wieder wegnahm.
Nach einigen Jahren führten die Experimente zum Erfolg. Jindřich hatte einen neuartigen Kunststoff entwickelt. Doch inzwischen war das Land von Hitlers Soldaten besetzt worden. Neue Gesetze verboten jüdischen Erfinder/-innen, Patente anzumelden. Jindřich musste einen tschechischen, nichtjüdischen Kollegen als Erfinder eintragen lassen.
Terror
Ende 1937 hatte Hitler die Wehrmachtspitze angewiesen, Pläne für gewaltsame Eroberungen in Eu-ropa auszuarbeiten. Erst erzwang er den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 und die Angliederung des Sudetenlands im Oktober. Dann ließ er am 15. März 1939 den tsche-chischen Landesteil besetzen. Offiziell war von einem »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« die Rede. Es gab eine tschechische Regierung unter dem tschechischen Politiker Emil Hácha, der ab 1938 Präsident war. Aber die Regierung stand vollkommen unter deutscher Kontrolle.
Die Entrechtung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung wurden sofort eingeleitet. Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes und Stellvertreter des Reichsprotektors, nahm dabei eine Schlüsselrolle ein. Bis Ende Juli 1939 hatte zudem Adolf Eichmann die »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« in Prag aufgebaut. Die SS verfolgte zunächst zwei Ziele: Jüdinnen und Juden zu vertreiben und sie dabei auszuplündern. Nach dem schnellen Sieg über Polen 1939 änderte sich die deutsche Verfolgungspolitik. Die Zentralstelle organisierte nun die Deportation der jüdischen Bevölkerung.
Der Albtraum beginnt
Die Libons, eine befreundete Familie, planten 1938 ihre Auswanderung in die USA. Sie boten an, Eva mitzunehmen. Aber Eva weigerte sich und auch die Eltern fürchteten sicherlich die Trennung. Evas Mutter Marta, eine gelernte Bürokauffrau, verbesserte ihre Kochkünste und erlernte das Herstellen von Seidenblumen. Würde die Flucht unausweichlich, müsste man sich in den USA, in England oder Schanghai irgendwie Geld verdienen.
Die Lage verschlimmerte sich Woche für Woche. Das Bankkonto wurde gesperrt, der Vater aus seiner Firma gedrängt. Auto, Radio, Pelze, Skier mussten der Gestapo übergeben werden. Schließlich sollte Eva sogar ihren Kanarienvogel abliefern. Traurig und wütend öffnete sie das Fenster und ließ ihn frei. Sie konnte nicht begreifen, was die Gestapo mit ihrem kleinen Freund wollte.
Im Sommer 1940 verbot die Regierung jüdischen Kindern den Schulbesuch. Eva und einige Nachbarskinder erhielten nun privat Unterricht. Ihre Lehrerin war als Jüdin ebenfalls entlassen worden.
Anfang Dezember 1941 überbrachten zwei uniformierte Polizisten ohne jede Vorwarnung den Befehl zur Zwangsumsiedlung. Schon am nächsten Morgen mussten die Löwidts ihre Wohnung verlassen und sich auf dem Prager Messegelände einfinden. Eva konnte nur ihre Puppe Hanna, ein paar Malstifte und das Tagebuch einpacken. Wäsche, Strümpfe und Jacken musste sie doppelt anziehen. Denn nur wenig Gepäck war erlaubt, und das musste ja auch selbst getragen werden.
Auf ihre Mäntel war schon seit Monaten der sogenannte Judenstern aufgenäht. Die Menschen auf den Straßen beachteten die unglückliche Familie nicht weiter. Am vorgeschriebenen Sammelplatz warteten sie mit etwa tausend Anderen tagelang auf den Transport. Der Zug Nr. L endete im Ort Bauschowitz. Von dort trieb die SS ihre Gefangenen drei Kilometer weit durch den Schnee in das Ghetto Theresienstadt.
»Wir Kinder merkten, dass unsere Eltern nicht länger die starken Persönlichkeiten waren, die unser Leben organisierten. Ganz plötzlich waren wir erwachsen. […] Kein Mensch würde uns helfen können. Von jetzt an würden wir uns um uns selbst kümmern müssen, um es den Eltern leichter zu machen.«
Das Ghetto Theresienstadt
Theresienstadt entstand im 18. Jahrhundert als Festung für die österreichische Armee. Im Oktober 1941 machte die SS daraus ein Sammelghetto für Juden und Jüdinnen aus Böhmen und Mähren. Ab Sommer 1942 kamen Transporte aus dem Deutschen Reich hinzu, vor allem ältere Menschen, in der Öffentlichkeit bekannte Leute und jüdische Männer, die sich im Ersten Weltkrieg als Soldaten ausgezeichnet hatten. Die hohe Zahl an Künstler/-innen und Wissenschaftler/-innen brachte ein vielfältiges kulturelles Leben im Ghetto hervor.
Gleichzeitig diente Theresienstadt als Durchgangslager in die Vernichtungslager. Die Transporte wurden so kurzfristig angeordnet, dass den Menschen oft nicht einmal Zeit blieb, sich zu verabschieden. Von insgesamt 140.000 Ghettoinsass/-innen überlebten nur 19.000 den Holocaust.
Die Propaganda der Nationalsozialisten belog die Öffentlichkeit. 1944 gaukelte die SS einer Gruppe des Internationalen Roten Kreuzes ein ›Modellghetto‹ vor.
Glück im Unglück
Im Ghetto angekommen durchsuchte die SS alle nach Wertsachen. Dann führte sie die Männer fort. Eva kam es vor, als müsste sie sterben. Mit der Mutter wurde sie in einer Kaserne untergebracht, zu zwölft in einem Zimmer von kaum zehn Quadratmetern. Nirgendwo konnte man für sich sein, nicht einmal auf den schmutzigen Toiletten.
Ihre Essensvorräte waren schnell verbraucht. Eva musste drei Mal am Tag für eine wässrige Linsen- oder Kohlsuppe und ein schwärzliches Gebräu, das Kaffee sein sollte, anstehen. Einmal pro Woche gab es Kuchen, von den Kindern »Ziegelstein« getauft.
Nach einigen Wochen tauchte Evas Vater wieder auf. Er hatte einen Posten in der jüdischen Verwaltung erhalten und verteilte die knappen Lebensmittel. Ein Jahr darauf genehmigte der Kommandant, dass die Löwidts ein eigenes Dachkämmerchen erhielten. Eva war glücklich.
Eva musste arbeiten
Eva streifte mit Freund/-innen umher. Einmal trauten sie sich in einen finsteren Keller, aus dem seltsames Piepen heraufdrang. Das kam von den Ratten, die überall umherrannten. Evas Mut wurde belohnt: Sie fand einen Kartoffelkeller, verschlossen zwar, aber die eine oder andere Kartoffel ließ sich angeln.
Für alle Kinder ab 13 Jahren herrschte Arbeitspflicht. Eva half, in den Festungsgräben Gemüsebeete anzulegen. Die Ernte beanspruchte die SS für sich. Gruppen von je hundert Jugendlichen wurden auch in der Landwirtschaft weit außerhalb der Ghettomauern eingesetzt. Auf den Rüben- oder Spinatfeldern konnte man heimlich Pflanzen und Blätter einstecken. Die weiten Hosenbeine wurden durch Gummibänder an den Knöcheln zu verborgenen Tragebeuteln.
Eva stand auf der Bühne
Zu den vielen Künstler/-innen im Ghetto zählte der tschechische Komponist Hans Krása. Seine Kinderoper »Brundibár« sollte auf die Bühne kommen. In dem Stück wehren sich die armen Geschwister Pepíček und Aninka gegen den schnauzbärtigen Leierkastenmann Brundibár. Mit der Hilfe tierischer Freund/-innen siegt schließlich das Gute über das Böse.
Eva, die ja immer gerne gesungen und Gedichte aufgesagt hatte, sang im Chor. Im Finale hieß es: »Brundibár ist geschlagen, wir haben den Krieg gewonnen, nur weil wir keine Angst hatten.«
Wochenlang wurde intensiv geprobt. Am 23. September 1943 war Premiere, 55 ausverkaufte Vorstellungen folgten. Die Begeisterung war enorm. Doch der Chor musste immer wieder Ersatz finden, weil die SS die Kinder in Vernichtungslager deportierte. Außer Eva überlebte aus der Theatertruppe nur eine Handvoll Kinder.
Szenen aus einer Aufführung sind auch Bestandteil des Propagandafilms über Theresienstadt: https://www.youtube.com/watch?v=fMiuQfaysrE.
Der SS-Kommandant von Theresienstadt, Karl Rahm, verkündete im September 1944 den Aufbau eines neuen Lagers. 4.500 Männer würden benötigt, auch viele Mitglieder der jüdischen Verwaltung. Evas Vater gehörte zu ihnen und ging auf Transport mit ungewissem Ziel. Wenige Tage später folgte der Aufruf an die weiblichen Verwandten, sich freiwillig zu melden, um den Männern zu folgen. Marta meldete sich und Eva an.
Die Fenster des Personenzugs waren mit Brettern vernagelt. Immer wieder verzögerten Luftangriffe die Fahrt. Am dritten Tag waren sie endlich am Ziel. Weder ein neues Ghetto noch der Vater erwarteten sie. Der Zug hielt direkt im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Unter Hundegebell, Brüllen und Prügeln trieben SS-Männer die Frauen aus den Waggons. Eva ließ ihre Puppe zurück und das Stückchen Schokolade, dass sie für den Vater aufgehoben hatte.
Plötzlich stand eine Freundin der Mutter neben Eva. Diese Julia schubste Eva ein paar Reihen nach hinten und flüsterte: »Wenn sie dich nach dem Alter fragen, sag, dass du 18 bist!« Eva gehorchte. Das rettete ihr das Leben. Denn Kinder wurden mit ihren Müttern sofort in den Gaskammern ermordet.
Die Haare abrasiert, in ein viel zu großes, nasses Kleid gesteckt, stolperte Eva weiter. Aus einem hohen Schornstein quoll Rauch. Der Gestank erinnerte Eva an verbrannte Hühnerfedern. Es war der 6. Oktober 1944.
In Birkenau feierte Eva auch ihren 14. Geburtstag.
Ein Schuh kostete Eva zwei Zähne
In den folgenden Wochen gruben die Frauen Panzergräben, nur mit Schaufeln und Hacken ausgestattet. Wen die Kräfte verließen, wurde aussortiert. Solche Selektionen, also Auswahlen von Häftlingen, die nicht mehr arbeiten konnten, führte unter anderen der SS-Lagerarzt Josef Mengele durch. Eva hatte gelernt, dass man den SS-Leuten besser nicht direkt ins Gesicht sah. Das konnte als Frechheit ausgelegt und bestraft werden. So kam es, dass Eva von dem gefürchteten Doktor nichts als die peinlich sauberen Stiefel in Erinnerung behielt.
Dreimal überstanden Eva und ihre Mutter Marta dieses Verfahren. Dann wurden sie für ein anderes Arbeitslager ausgewählt. Vor der Abfahrt wurde neue Kleidung verteilt. Eva hatte Pech. Sie bekam zwei linke Schuhe ab. Ohne nachzudenken ging sie zu dem Schuhhaufen zurück, um sich einen passenden herauszugreifen.
Der Wachmann schlug ihr ohne Zögern mit dem Gewehrkolben zwei Schneidezähne aus. Eva ließ das trotz der Schmerzen ganz kalt – nichts konnte einen hier noch wundern. Und ihre Mutter Marta lenkte sie ab: »Das wird wieder. Zuhause in Prag gehen wir zum Zahnarzt.«
Eine Narbe fürs Leben
Der Transport führte in ein Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen in der Nähe von Breslau. Eine Scheune, nur mit Stroh ausgestreut, das Dach undicht, diente als Unterkunft.
Eine Aufseherin impfte alle Häftlinge mit einer sehr großen Spritze, hunderte Frauen mit derselben Injektionsnadel. Evas Einstichwunde begann zu eitern, und hohes Fieber setzte ein. Marta und Julia beschafften heißes Wasser und ein Messer aus der Lagerküche. Sie schnitten den Eiter ohne Betäubung heraus. Zum zweiten Mal war Eva gerettet, sie trug aber eine Narbe davon.
Und es geschah ein weiteres Wunder. Der Lagerkommandant bemerkte, dass Eva barfuß durch den Schnee lief. Er schickte sie in seine Unterkunft. Dort traf sie auf eine junge Jüdin aus Ungarn, Golda Ickovits. Mit Händen und Füßen erklärte Goldi, dass sie gemeinsam das Haus putzen und auf das Ofenfeuer Acht geben müssten. Wärme und Wasser waren der reinste Luxus. Das Wichtigste aber war, dass Eva ein ordentliches Paar Stiefel erhielt.
Todesmarsch
Eva musste vor dem Ende des Krieges noch viel durchmachen. Zwischenzeitlich wurde sie noch für einige Wochen nach Schlesiersee gebracht, wo es zwei Frauenlager gab. Anfang 1945 wurde auch dort der Geschützdonner der Roten Armee vernehmbar. Die SS gab daher am 21. Januar den Befehl zur Räumung der beiden Lager in Schlesiersee.
Zu Fuß erreichten die Frauen nach einer Woche das Zwangsarbeitslager einer Textilfabrik im schlesischen Grünberg. Eva wurde erneut krank und musste beim Appellstehen gestützt werden. Durch die Hilfe einer Ärztin besserte sich ihr Zustand, gerade noch rechtzeitig zum Weitermarsch in das KZ Christianstadt. Es folgte ein Todesmarsch über hunderte Kilometer quer durch Sachsen nach Bayern.
Wachmänner, aber auch einfache Polizisten, erschossen völlig entkräftete Jüdinnen. Andere brachen tot zusammen. Evas Freundin aus Theresienstadt, Lia Sagher, wollte ihre Mutter nicht zurücklassen und flehte um Hilfe. Wenig später hörte Eva die Schüsse.
Nach einigen Wochen im Lager Helmbrechts trieb SS-Unterscharführer Alois Dörr die Überlebenden nach Osten, nun auf der Flucht vor der US-amerikanischen Armee.
Der Tod der Mutter betäubte Eva. Für Trauer blieb keine Zeit. Die Kolonne schleppte sich zum nächsten Nachtlager, einer einfachen Scheune im Dorf Lauterbach. Kühe verbreiteten etwas Wärme, sodass Eva nah an sie herankroch und sich im dreckigen Heu vergrub, so sehr es auch stank. Als sie wiedererwachte, war niemand mehr da.
Die SS-Männer hatten längst aufgehört, beim Aufbruch die Zahl ihrer Gefangenen zu überprüfen, und im Kuhmist hatten die Schäferhunde Eva nicht aufgespürt. »Zum Glück gab es diese Kuh«, sagte Eva später dankbar.
Ein polnischer Junge entdeckte sie, brachte etwas Milch und fütterte sie stückchenweise mit einer Zuckerrübe. Auch er versteckte sich, weil er von der Zwangsarbeit geflohen war. Sich weiterschleppend begegnete Eva einem deutschen Soldaten. Er war desertiert und zeigte ihr den Weg in tschechisches Gebiet.
An der Grenze lief sie einem Wachsoldaten in die Arme, der sie kurzerhand niederschießen wollte, als sein Kamerad ihn abhielt: »Lass sie gehen, die krepiert von allein. Ist schade um die Kugel.« Die 14-Jährige Eva rannte in Panik davon, durchquerte einen Fluss, riss im nahen Dorf eine Haustür auf, sah SS-Stiefel im Flur stehen, drehte um, rannte auf die Felder, fiel und verlor schließlich das Bewusstsein.
Dieses Mal erwachte Eva in einem richtigen Bett und einem sauberen Nachthemd. Dorfbewohner/-innen hatten sie gefunden, über Nacht in einem Vorratskeller versteckt und schließlich ins Haus einer Bauersfamilie geschafft.
Gerettet
Der Bauer Kryštof Jahn und seine Frau Ludmila versteckten Eva samt Bett unter den Holzdielen, denn noch waren die Deutschen in der Nähe. Während ihre Retter/-innen auf den Feldern arbeiteten, überdachte Eva ihre Situation. Dass sie Jüdin war, wollte sie vorerst für sich behalten. Wem konnte man trauen nach all dem, was passiert war? Also präsentierte sie sich als Eva Králová, Tochter eines von der Gestapo eingesperrten Arztes.
Als die Siegesnachrichten eintrafen, feierte das ganze Dorf und jubelte den US-amerikanischen Soldaten zu. Auf Evas Jubel folgten die Tränen: »Ich fühlte mich nicht siegestrunken, sondern besiegt«, erinnerte sich Eva.
Die jüdische Gemeinde veröffentlichte Listen, damit Familien Überlebende finden konnten. Eva verriet den Jahns ihre wahre Identität. Wie sonst sollte der Vater sie aufspüren. Die Jahns nahmen Eva die Notlüge nicht übel. Vom Vater kam keine Nachricht. Dafür kam eine angeheiratete, nichtjüdische Tante nach Possigkau und nahm Eva mit.
Eva traf eine Entscheidung
Tante Ilona lebte in der Kleinstadt Heřmanův Městec im östlichen Böhmen. Ihr jüdischer Mann, Martas Bruder Ernst, hatte sich vor der Gestapo in den Wäldern versteckt, war aber denunziert und ermordet worden.
Eva erschien diese Tante wie Aschenputtels böse Stiefmutter, kalt und herzlos. In der großen Fabrikantenvilla brachte sie Eva in einer Dienstmädchenkammer unter. Ihre Söhne spotteten über Evas mangelhafte Schulbildung. Der Neuanfang in der Schule fiel schwer. Besonders in Mathe und Grammatik blieb sie lange die Schlechteste. Die Problemchen der Mitschülerinnen erschienen ihr kindisch.
Eines Tages nahm sich Eva vom Küchentisch ein großes Stück Schokolade. Die Tante meinte spitz: »Dir werden noch mehr Zähne ausfallen, wenn du so viel Schokolade isst.« Eva schilderte, wie ihr die Vorderzähne ausgeschlagen worden waren. Die Tante gab nur zurück: »Kind, du hast eine etwas krankhafte Fantasie.«
Hier wollte Eva nicht bleiben. In aller Stille traf sie eine Entscheidung.
Wohin soll Eva gehen?
Mit Hilfe des alten Kutschers der Familie meldete sich Eva im Jüdischen Waisenhaus in Prag an. Am Tag der Zeugnisvergabe verließ sie ohne Vorwarnung das Haus ihrer Tante Ilona.
Ganz wohl war ihr nicht bei dem Gedanken an ein Waisenhaus. Aber es stellte sich bald heraus, dass alle hier ähnliche Erlebnisse hinter sich hatten. Ihre Zimmergenossin Martha kannte sie bereits aus dem Ghetto. Gemeinsam besuchten sie nun die Krankenpflegeschule. Die Ausbilder/-innen setzten bei den Holocaust-Überlebenden begreiflicherweise keine Schulabschlüsse voraus.
Aus Spendengeldern erhielt Eva eine kleine Waisenrente. Und Jindřichs ehemaliger Geschäftspartner zahlte ihr etwas Geld aus. So war für das Nötigste gesorgt. Viel glücklicher aber machte Eva der Morgenmantel ihrer Mutter, den die Schneiderin seit 1941 aufbewahrt hatte. Alle Mädchen im Waisenhaus machten sich einen Spaß und posierten mit dem feinen Seidenmantel vor der Kamera.
Nach der Ausbildung erhielt Eva 1948 Arbeit bei einem Hautarzt, der ein väterlicher Freund wurde.
Mit dem jüdischen Kinderhilfswerk nach Australien?
Das Waisenhaus in dem Eva lebte, wurde von einem jüdischen Kinderhilfswerk unterstützt, der Œuvre de secours aux enfants (kurz OSE). Die OSE hatte während des Krieges schätzungsweise 5.000 Kinder vor den Nationalsozialisten retten können. Nun sammelte sie Spenden, half Displaced Persons bei der Einwanderung in andere Länder und vermittelte Adoptionen. Bevorzugte Ziele waren Nordamerika und Australien.
Unter jüdischen Überlebenden wurde noch eine andere Möglichkeit lebhaft erörtert: die zionistische Idee von einem jüdischen Gemeinwesen in Palästina, genannt Erez Israel, das Land Israel. Am Sabbat traf sich die Jugend zu Diskussionsrunden. Jeder und jede lernte nun Hebräisch. Viele scheuten aber auch die politischen Unwägbarkeiten und neue Konflikte in Palästina.
Schließlich fand sich eine Familie in Australien, die Eva adoptieren wollte, und sie stimmte zu.
Alle waren im alten jüdischen Rathaus in der Prager Maiselgasse versammelt. Am Radio verfolgten sie die Ausrufung des Staates Israel in Tel Aviv. Dieser 14. Mai 1948 musste gefeiert werden, und so zogen die Jüngeren weiter ins beliebte Tanzlokal Manes am Ufer der Moldau. Eva erkannte unter den vielen Feiernden Peter Erben wieder.
Peter war in Theresienstadt Jugendleiter gewesen und hatte Evas Jugendgruppe bei der Feldarbeit beaufsichtigt. Lebhaft erinnerte sich Eva, wie sie und die anderen Peter bei der Kontrolle am Tor des Ghettos abgeschirmt hatten, damit der Wachmann nicht den roten Kirschsaft auf seinem Hemd bemerkte. So blieb unentdeckt, dass Peter Kirschen für die Mutter geschmuggelt hatte.
Peter war fast zehn Jahre älter als Eva, hatte nach dem Krieg bei der tschechischen Armee gedient und an der Technischen Hochschule studiert. Im Ghetto ein beliebter Fußballspieler, engagierte er sich nun im jüdischen Sportverein Makabi. Vor allem aber konnte er gut tanzen. »Ich war über beide Ohren verliebt«, schwärmte Eva noch siebzig Jahre danach. Eva und Peter wurden ein Paar.
Als Zionist lag für Peter eine Auswanderung nach Israel nahe. Außerdem hatte sich die Situation in der Tschechoslowakei zugespitzt. Im Februar 1948 baute die Kommunistische Partei ihre Regierungsmacht stark aus. Gestützt auf die Sowjetunion beseitigten sie die junge Demokratie und waren Juden und Jüdinnen feindlich gesinnt.
Eva erhielt vom jüdischen Kinderhilfswerk OSE in Paris ein französisches Visum, um von Frankreich nach Australien weiterreisen zu können. Peter wollte mit ihr gehen. Doch das war leichter gesagt als getan.
Hürden überwinden
Aus der Tschechoslowakei ausreisen durfte nur, wer ein ausländisches Einreisevisum vorweisen konnte. Der Konsul von Guatemala verkaufte sie unter der Hand. Doch der Preis war für Peter zu hoch, auch Evas Tränen konnten den Mann nicht erweichen. Als sie ihre Puderdose hervorholte, um das Makeup zu richten, fragte der Konsul verblüfft nach dem ungewöhnlichen Kunststoff. Er besaß ein Zigarettenetui aus dem gleichen Material, ein Geschenk seines Armeekameraden – Jindřich Löwidt, Evas Vater. Als der Zusammenhang aufgeklärt war, hielt Eva Peters Visum in der Hand.
Migrant/-innen brauchen Startkapital, bis sich Arbeit findet. Ein Freund kam auf die Idee, Nadeln für Insektensammlungen in Frankreich zu verkaufen. Dort herrschte angeblich Mangel bei privaten Insektenkundler/-innen und Museen. Tausende Schachteln wurden in einer tschechischen Fabrik gekauft und Formulare für zollfreien Export im Ministerium organisiert. Der Kontaktmann in Paris hielt Wort.
Aber Eva hatte noch ein Geständnis zu machen.
Flüchtlinge in den Flitterwochen
Bei der Ausreise nach Frankreich wusste die 17-jährige Eva, dass sie schwanger war. Die frohe Kunde warf allerdings die Adoptionspläne und die Weiterreise nach Australien über den Haufen. Die OSE beantragte ein neues Visum für das Paar. Sobald Eva 18 war, wurde Ende Oktober 1948 Hochzeit gefeiert. Jenny Masour, eine rastlose Fluchthelferin der OSE, fungierte als Trauzeugin. Aus Eva Löwidtová wurde Eva Erben.
Der australische Konsul verschleppte die Einreise. Peter gab sich überzeugt, dass Juden und Jüdinnen dort unerwünscht waren. Nach etwas Überzeugungsarbeit stand der Entschluss fest: Eva und Peter gingen in das neugegründete Israel. Die Schiffe nach Haifa fuhren von Marseille aus. Wegen schlechter Wettervorhersagen stach die Kedma, das Schiff mit dem sie fahren wollten, einen Tag zu früh in See. Eva und Peter mussten einen Monat auf das nächste Schiff warten. Sie machten die Not zur Tugend und die Zwangspause zu ihren Flitterwochen.
Warum schwieg Eva über ihre Erlebnisse?
Nach acht Tagen auf dem Mittelmeer und einer gefährlichen Sturmnacht lief ihr Schiff, die Transilvania, in den Hafen von Haifa ein. Peters Bruder Paul, der schon 1939 Europa verlassen hatte, nahm die neu Eingewanderten vorübergehend in seiner kleinen Wohnung auf. Tochter Daniela wurde geboren, Peter bekam Arbeit auf einer Werft. Der Neuanfang in Israel bot manche Entbehrungen, aber Freund/-innen und tschechische Landsleute halfen, wo es Not tat. Zwei weitere Söhne, Alon und Amir, kamen zur Welt.
In Aschkelon, im Süden Israels, baute die Familie ein Haus. Den Garten mit Blumen und Orangenbäumen pflegte Eva, wie sie es in der harten Schule von Theresienstadt gelernt hatte. Sie arbeitete wieder als Krankenschwester. In der Familie erzählte Eva zwar, witzig verpackt, die eine oder andere Szene aus der Zeit ihrer Verfolgung. Ansonsten hielt sie die Schatten der Vergangenheit von allen fern.
Wie unfair, Mama!
Am israelischen Holocaust-Gedenktag 1980 wurde Eva gebeten, vor einer Schulklasse von ihren Erlebnissen zu berichten. Widerstrebend willigte sie ein. Als ihre erwachsenen Kinder sich beklagten und endlich auch Genaueres aus ihrem Mund erfahren wollten, schrieb Eva für sie ein Buch. Auf Umwegen wurde daraus ein hebräisches Kinderbuch, dass heute in vielen Sprachen vorliegt. Auf Deutsch heißt es: »Mich hat man vergessen«.
Am Herzen lag Eva, ihre inzwischen verstorbenen Retter/-innen aus Possigkau, Kryštof und Ludmila Jahn, zu ehren. Durch Evas Zeugnis verlieh ihnen die israelische Gedenkstätte Yad Vashem 1994 den Ehrentitel Gerechte unter den Völkern.
Eva besuchte als Ehrengast viele Schulaufführungen des wiederentdeckten Brundibár. Im Jahr 2000 entstand ein Film für das tschechische Fernsehen, der Szenen aus Evas Leben nachstellt. Sie überließ Archiven ihre Familienfotos und gab in Israel, Tschechien und Deutschland zahlreiche Interviews.
Und immer hoffte sie, »dass jedes Enkelkind, egal ob Mädchen oder Junge, Jude, Moslem oder Christ, Israeli oder Palästinenser ein Leben in Frieden führen kann. […] Während ich mich erinnere, hoffe ich.«