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1921Geburt
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Juni 1931Heil- und Pflegeanstalt
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1937Zwangssterilisation
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1. Oktober 1940»Aktion T4«
Friedrich, genannt Fritz, wurde 1921 in Gnadental geboren, einem kleinen Ort im Südwesten Deutschlands. Er hatte drei Geschwister. Sein Vater besaß eine Tischlerei.
Als Friedrich ein Jahr alt war, bemerkten seine Eltern, dass er sich nicht so entwickelte wie andere Kinder. Erst mit drei Jahren lernte er laufen und sprechen. Es stellte sich heraus, dass Friedrich kognitiv beeinträchtigt war. Das heißt, er lernte nicht so schnell wie andere Kinder. Damals wurde sein Krankheitsbild mit der Diagnose »angeborener Schwachsinn« bezeichnet – ein abwertender Begriff, unter dem ganz verschiedene Krankheiten und Verfassungen zusammengefasst wurden. Worunter Friedrich genau litt, ist unbekannt. Friedrich hatte Schwierigkeiten mit dem Sehen und Hören und kam in der Schule nicht so schnell mit. Da Familien mit beeinträchtigten Kindern nur sehr wenig Unterstützung erhielten, gaben viele ihre Kinder in ein Pflegeheim. Auch Friedrich lebte ab seinem zehnten Lebensjahr in einem solchen Heim, der Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg auf der Schwäbischen Alb.
Dort war Friedrich zusammen mit anderen Kindern und Jugendlichen untergebracht. Er besuchte die Anstaltsschule und wurde im Lesen, Rechnen, Auswendiglernen und Schreiben unterrichtet.
Hier lebte Friedrich seit seinem zehnten Lebensjahr
Die Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg war eine Einrichtung der evangelischen Kirche. Hier waren vor dem Zweiten Weltkrieg bis zu 200 Kinder und Jugendliche untergebracht. In Mariaberg wurden die Kinder von Ärzt/-innen und Pfleger/-innen betreut und erhielten Schulunterricht.
Friedrich liebte Musik und bastelte gern
Bei seiner Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg wurde Friedrich medizinisch untersucht und ein Aufnahmebogen für ihn erstellt. Der Arzt hielt Friedrich für »zurückgeblieben«, aber durchaus für »bildungsfähig«. So konnte er am Schulunterricht teilnehmen.
In seiner Freizeit spielte Friedrich gern Ziehharmonika oder bastelte. Er fuhr auch gern mit dem Fuhrwerk oder hörte Musik.
»c. Ist das Kind gutmütig, still, heiter. Oder bösartig, aufgeregt, zerstörungssüchtig, gesellig oder sondert es sich ab?«
»Bei Freunden ist er schüchtern, zu Hause will er seinen Willen durchsetzen. Ist sehr eigensinnig.«
»Hat es besondere Neigungen oder Triebe? Spielt es und womit?«
»Er fährt gerne mit dem Fuhrwerk, bastelt gerne, hämmert Kisten zusammen u.m.«
»f. Ist die Sprache verständlich oder mangelhaft? Versteht es das, was man zu ihm spricht?«
»Er versteht, was man zu ihm sagt, er aber kann nicht sie richtig aussprechen«
»Welchen Eindruck machen musikalische Töne?«
»Hat Freude an Musik.«
»Singt es gerne?«
»Ja, spielt mit einer Ziehharmonika.«
»15) Wird das Kind für bildungs-, besserungs- oder nur für pflegefähig gehalten. – oder ist es wahrscheinlich, dass dasselbe Schulunterricht genießen kann?«
»Bildungsfähig, er kann Schulunterricht genießen.«
Wie sah Friedrichs Zeugnis aus?
Auf Friedrichs Zeugnis ist zu sehen, in welchen Fächern er unterrichtet wurde und wie ihn sein Lehrer/-innen und seine Erzieher/-innen beurteilten. Er bekam keine Noten, sondern seine Leistungen wurden genau beschrieben. Für das Schuljahr 1934/35 war sein Lehrer nicht unzufrieden mit ihm: Er sei im Unterricht zwar sehr zurückhaltend, aber immer »nett und freundlich«. Er habe Fortschritte im Lesen gemacht, das Rechnen fiele ihm jedoch noch immer schwer.
Mit 16 schloss Friedrich die Schule ab. Er selbst hatte eine genaue Vorstellung davon, wie seine Zukunft aussehen sollte: Friedrich wollte Tischler werden, wie sein Vater. Obwohl er »ganz ordentlich« zeichnete, eine schöne Schrift hatte und auch im Lesen ganz gut abschnitt, hielt sein Klassenlehrer das für unmöglich und fällte ein hartes Urteil über ihn:
»Fritz ist außerhalb der Anstalt nicht zu verwenden. Es wäre für ihn das Beste, wenn er auch weiterhin in der Anstalt bleiben könnte.«
Das Gesamturteil über Friedrich bei seiner Schulentlassung
Der Klassenlehrer hatte aber auch Positives zu berichten: »Im Umgang mit seinen Kameraden freundlich«. Er habe eine ordentliche Schrift und schreibe fast fehlerfrei Sätze ab. Überhaupt sei er sehr fleißig und arbeitswillig. Im Formen von kleinen Gegenständen sei er »nicht ungeschickt«.
Der Lehrer schrieb unter der Rubrik »Berufswunsch« nur wenige, vernichtende Sätze:
»Fritz möchte Schreiner werden. Dies ist unmöglich. Schon sein sehr schlechtes Gehör u. seine geschwächte Sehkraft bedingen diese Verneinung.«
Anders als heute bemühte man sich im Nationalsozialismus und auch noch lange Zeit danach nicht darum, dass Menschen mit Beeinträchtigungen an der Gesellschaft teilhaben konnten. Im Gegenteil wurden sie aktiv ausgeschlossen und in Anstalten von der Öffentlichkeit ferngehalten.
Friedrich sollte sein Leben lang in der Anstalt bleiben
Der Inspektor der Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg spricht Friedrich in diesem Brief ebenfalls jedwede Tauglichkeit für einen Beruf und ein eigenständiges Leben außerhalb der Anstalt ab. Doch beruhen seine Argumente oftmals auf Äußerlichkeiten:
So hält der Inspektor Friedrichs Körperhaltung und Gesichtsausdruck für aussagekräftig in Bezug auf seine Fähigkeiten und umschreibt seine Verfassung abwertend und – aus heutiger Sicht – unwissenschaftlich mit »Schwachsinn höheren Grades«. Im Brief wird außerdem deutlich, dass Friedrich sehr wohl seine Aufgaben erfüllen konnte und auch in der Anstalt mithalf.
Friedrich wurde nicht zugetraut, ein eigenes Leben zu führen und einen Beruf zu erlernen. Auch für den Dienst in der Wehrmacht und für eine Stelle in der Landwirtschaft wurde er als untauglich befunden. Grund für Friedrichs Ausmusterung bei der Wehrmacht war seine Beeinträchtigung. So hieß es in der »Verordnung über die Musterung und Aushebung«:
»(1) Die Kreispolizeibehörde kann völlig Untaugliche (Geisteskranke, Krüppel usw.) auf Grund eines amtsärztlichen Zeugnisses von der Gestellung zur Musterung oder Aushebung befreien.«
Das heißt, Friedrich musste gar nicht zur Musterung erscheinen, wo sonst über die Eignung zum Armeedienst entschieden wurde. Er wurde auf Grund eines medizinischen Gutachtens vom Dienst in der Wehrmacht befreit.
Das Urteil der Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg, in der Friedrich untergebracht war, war vernichtend: Er würde sein Leben lang auf eine Betreuung in der Anstalt angewiesen sein und könne nicht arbeiten. Arbeit wurde im Nationalsozialismus als »Dienst am Volk« verstanden und von allen Bürger/-innen eingefordert. Wer diese Erwartung nicht erfüllen konnte oder wollte, wurde als »wertlos« angesehen.
Bereits 1933 hatten die Nationalsozialisten das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« erlassen. Hier wurde festgelegt, dass Menschen mit bestimmten Krankheiten und Beeinträchtigungen ohne ihre Zustimmung unfruchtbar gemacht werden konnten. Dies sollte mittels eines chirurgischen Eingriffs geschehen. Bei Männern wurde der Samenleiter durchtrennt und abgebunden. Oftmals wurde der schmerzhafte Eingriff auch ohne lokale Betäubung durchgeführt. Bei Frauen wurden – in einer größeren Operation unter Vollnarkose – die Eileiter verlegt, durchtrennt oder undurchlässig gemacht. Die Betroffenen konnten keine Kinder mehr bekommen.
Auch für Friedrich wurde die Unfruchtbarmachung vom Direktor der Heil- und Pflegeanstalt beantragt. Dabei spielte neben seiner Beeinträchtigung auch seine Arbeitsfähigkeit eine entscheidende Rolle.
Das Kreiswohlfahrtsamt und der Landesjugendarzt befürworteten die Unfruchtbarmachung und gaben die Empfehlung an das zuständige »Erbgesundheitsgericht« in Tübingen weiter. Diese Gerichte entschieden darüber, ob jemand unfruchtbar gemacht wurde oder nicht. Wie die Entscheidung des Gerichtes für Friedrich lautete, ist nicht erhalten geblieben. Aber es ist wahrscheinlich, dass er zwangssterilisiert wurde.
So begründete der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Friedrichs Zwangssterilisation
Im April 1937 – also nur wenige Monate nach seiner Schulentlassung – erstattete der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg dem zuständigen Jugendamt in Öhringen Bericht über Friedrichs Entwicklung: Er leide an »Schwachsinn höheren Grades« und sei kaum in einer Arbeitsstelle einsetzbar. Seine Zukunft sei völlig offen. Doch im Falle einer Unterbringung außerhalb der Anstalt empfahl der Direktor, dass Friedrich zwangssterilisiert werden sollte.
Die Antwort des Jugendamts ließ nicht lange auf sich warten: Nur wenige Tage später forderte das Jugendamt den Direktor der Anstalt dazu auf, die Zwangssterilisation offiziell zu beantragen. Friedrich war zu dem Zeitpunkt 15 oder 16 Jahre alt.
Die NS-Propaganda richtete sich gegen die bloße Existenz geistig und körperlich beeinträchtigter Menschen
Die Nationalsozialisten waren davon überzeugt, dass Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen »minderwertig« seien und es nicht wert seien zu leben. So beurteilt, wurden sie nicht als Mitglieder der »Volksgemeinschaft« anerkannt. Die Plakate der NS-Propaganda stellten geistig und körperlich beeinträchtigte Menschen als Bedrohung dar, deren Anzahl unaufhörlich steige und damit die »höherwertigen« Deutschen ohne Beeinträchtigung »verdrängen« würde.
Mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat, wurde geistig und körperlich beeinträchtigten Menschen nicht nur das Recht abgesprochen, Kinder zu bekommen, sondern letztlich auch das Recht auf Liebe und Sexualität.
Was genau stand im »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« von 1933?
Menschen mit den verschiedensten Krankheiten waren vom »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« betroffen:
»Angeborener Schwachsinn« bezeichnete in den 1930er Jahren abwertend eine Reihe von Krankheitsbildern. Nicht nur Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung wurden unter dieser Diagnose gefasst, sondern auch solche, die einen unangepassten Lebensstil hatten, konnten als »schwachsinnig« bezeichnet werden.
Schizophrenie ist eine psychische Krankheit, bei der die Betroffenen Denk- und Wahrnehmungsstörungen bis hin zu Wahnvorstellungen entwickeln. Sie wird nach heutigem Wissensstand sowohl durch genetische und hormonelle Faktoren als auch durch äußere Einflüsse ausgelöst.
Unter »erblicher Fallsucht« wurde in den 1930er Jahren die Krankheit Epilepsie verstanden. Bei der Epilepsie sind die Signale, die die Muskeln von den Nervenzellen erhalten, gestört. Es kommt zu krampfartigen Anfällen.
»Zirkuläres Irresein« war früher die abwertende Bezeichnung für eine psychische Krankheit. Heute wird sie als bipolare Störung bezeichnet. Betroffene haben depressive, antriebslose Phasen und dann wieder Phasen mit starken Stimmungshochs und dem Gefühl der Getriebenheit.
»Erblicher Veitstanz« wird heute als Chorea Huntington bezeichnet. Es handelt sich um eine unheilbare Krankheit des Gehirns, bei der die Betroffenen die Kontrolle über ihre Muskulatur und über ihr soziales Verhalten verlieren. Unwillkürliche Bewegungen und unbedachtes, enthemmtes Verhalten sind die Folge.
Wenn Menschen nicht sehen oder hören können, kann das ganz verschiedene Ursachen haben. Die Nationalsozialisten sprachen von »erblicher Blindheit« und »erblicher Taubheit«. Sie waren also der Meinung, dass Blindheit und Gehörlosigkeit immer erblich verursacht seien und Betroffene daher ebenso zwangssterilisiert werden sollten.
Die Nationalsozialisten unterstellten auch, dass Alkoholabhängigkeit vererbbar sei, sodass auch diese Krankheit unter das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« fiel.
Sogar die Zeitung berichtete über die zahlreichen Anträge, Kinder unfruchtbar zu machen
Die Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg, die eine Einrichtung der evangelischen Kirche war, begrüßte das unmenschliche »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«. Die ärztliche Leitung der Anstalt beantragte insgesamt sechzig Zwangssterilisationen für die eigenen Schützlinge. Dieses harte Vorgehen wurde von der regionalen Presse gelobt.
»Die Anstalt hat an der Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von Anfang an mitgewirkt und seit vielen Jahren einen großen eugenischen Dienst an der Volksgemeinschaft dadurch geleistet, dass sie eine bedeutende Zahl erbkranker Menschen asyliert und von der Fortpflanzung abgehalten hat, wofür ihr und allen Mitarbeitern und Helfern Dank gebührt.«
Am 1. Oktober 1940 fuhren graue Busse an der Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg, vor. Sie waren gekommen, um über fünfzig der dort untergebrachten Patient/-innen abzuholen. Ihre Namen waren auf einer Liste verzeichnet. Auch Friedrichs Name stand darauf.
Friedrich wusste nicht, wohin die Fahrt gehen sollte. Er hatte seine Sachen packen müssen, ihm wurde eine Nummer auf seinen Rücken geklebt und schließlich musste er sich von seinen Freund/-innen, Pflegeschwestern und Lehrer/-innen verabschieden. Das Pflegepersonal von Mariaberg kannte das Ziel des Transports jedoch genau: Es war das gerade einmal dreißig Kilometer entfernte Schloss Grafeneck, in dem bis 1939 ein Pflegeheim für Menschen mit Beeinträchtigungen untergebracht gewesen war.
Grafeneck bot zu diesem Zeitpunkt jedoch keine Unterbringung für geistig oder körperlich beeinträchtigte Menschen mehr an. Stattdessen erfüllte die Anstalt eine ganz andere Funktion: Die dort eingelieferten Menschen wurden seit Januar 1940 in einem Schuppen, der zu einer Gaskammer umgebaut worden war, ermordet.
Als Friedrich in Grafeneck eintraf, ging alles sehr schnell: Zusammen mit den anderen Personen aus Mariaberg wurde er, wie damals bei einer Anstaltsaufnahme üblich war, ausgezogen, gewogen, fotografiert und schließlich einem Arzt vorgeführt. Auf diese Weise wurden Name und Zustand der Patient/-innen noch einmal überprüft, bevor sie vom Pflegepersonal in die Gaskammer geführt wurden. Nach einer letzten Zählung schlossen sich die Tore und Kohlenmonoxidgas wurde in den Raum geleitet. Innerhalb von einer halben Stunde starben Friedrich und alle anderen darin zusammengepferchten Menschen.
Friedrichs Leichnam wurde in einem der drei in Grafeneck installierten Krematorien verbrannt und die Asche in einer Urne an seine Eltern geschickt.
Woher stammte die Namensliste?
Der Krankenmord war von der T4-Zentrale in Berlin, benannt nach ihrem Sitz in der Tiergartenstraße 4, genauestens vorbereitet worden: Bereits im Oktober 1939 waren die ersten Meldebögen an alle Anstalten im Deutschen Reich verschickt worden. So wurden alle geistig oder körperlich beeinträchtigten Personen mit ihrem Namen und ihrer Diagnose erfasst.
Aufgrund dieser Angaben waren Listen mit den Namen derjenigen erstellt worden, die im Rahmen des Mordprogramms getötet werden sollten. Am 21. September 1940 erhielt Inspektor Kraft, der Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg, einen Brief mit einer Liste von 97 Patient/-innen, die aus der Anstalt abgeholt werden sollten.
Der Direktor des Heims in Mariaberg versuchte seinen Patient/-innen das Leben zu retten
Der Anstaltsleiter wusste genau, was in Grafeneck vor sich ging und reiste sofort nach Stuttgart zum Landesinnenministerium: Er wollte die Ermordung seiner Patient/-innen in Grafeneck verhindern. Zwar hatte man in der evangelischen Anstalt die Unfruchtbarmachung der Patient/-innen befürwortet, doch ihre Tötung konnte er nicht akzeptieren und mit seinem christlichen Glauben in Einklang bringen.
Im Landesinnenministerium eingetroffen, erklärte der zuständige Beamte dem Direktor, dass schließlich nur diejenigen Patient/-innen abgeholt würden, die »am kränksten seien und am längsten in Mariaberg wohnten«. Aber das war nicht das einzige Kriterium. Tatsächlich wurde die Auswahl hauptsächlich anhand der Arbeitsleistung der Betroffenen getroffen. Einträge wie »Schuhmacher, sohlt, flickt sämtliche Schuhe für 210 Leute!« oder »In der Anstaltsküche geradezu unentbehrlich« im Meldebogen, waren oftmals lebensrettend.
Daher veränderte der Anstaltsdirektor kurzerhand die Einträge in den Meldebögen: Während er zuvor, in der Annahme, dass die tüchtigsten Patienten verlegt werden sollten, deren Arbeitsleistungen kleingeredet hatte, stellte er ihnen nun das bestmögliche Zeugnis aus.
Dieser Rettungsversuch hatte jedoch nur zum Teil Erfolg: Die Todesliste wurde um 41 Personen gekürzt. Statt 97 sollten nun noch 56 Patient/-innen nach Grafeneck gebracht werden.
Mit diesem Schreiben Hitlers begann der Patientenmord
Adolf Hitler ermächtigte mit diesen wenigen Zeilen den Chef der Reichskanzlei, Philipp Bouhler, und seinen Leibarzt, Karl Brandt, zum Mord an geistig oder körperlich Beeinträchtigten. Geschrieben auf seinem privaten Briefpapier war der Erlass letztlich nicht rechtskräftig, wurde aber dennoch von Bouhler und Brandt dazu benutzt, den sogenannten Krankenmord zu rechtfertigen. Zur Tarnung des Verbrechens sprach Hitler absichtlich nicht von Mord, sondern von »Gnadentod«, so dass man glauben konnte, es handele sich um eine moralisch gerechtfertigte Tat und nur um ausgewählte Einzelfälle.
So sah die Gaskammer in Grafeneck aus - der Rauch aus den Krematoriumsöfen blieb nicht unbemerkt
»Mit dem Erscheinen der Omnibusse setzte ein Gemunkel ein darüber, daß mit den Omnibussen Geisteskranke aus den verschiedenen Anstalten [transportiert] würden und in Grafeneck umgebracht würden. Bestimmtes wusste niemand. […] Den Geruch und den Rauch konnte man jeweils in Dapfen wahrnehmen, vor allem an diesigen Tagen. Als die Omnibusse regelmäßig fuhren und im Ort ziemlich viel im Flüsterton gesprochen wurde, war man sich klar, daß auf Grafeneck die Geisteskranken umgebracht wurden […].«
Das Wissen der Bevölkerung um den tausendfachen Mord war schließlich ein Grund, warum die Tötungsanstalt in Grafeneck im Dezember 1940 geschlossen wurde. Doch zum landesweiten Stopp der Mordaktion kam es erst im August 1941. Insgesamt wurden etwa 70.000 Menschen ermordet. Allein in Grafeneck waren es etwa 10.500 Menschen.
Viele Anstalten töteten trotzdem weiterhin ihre Patient/-innen. Zum Beispiel mit Giftspritzen oder indem sie ihnen zu wenig Essen gaben.
Nur wenige Tage nach Friedrichs Ermordung in Grafeneck erhielt seine Familie einen sogenannten Trostbrief. Diese Briefe wurden in der Tötungsanstalt Grafeneck verfasst und ähnelten sich im Wortlaut: Oftmals wurde nur der Name, die Todesursache und das Datum neu eingetragen.
Die Todesursache war frei erfunden. Die Ärzte, die die Kranken vor der Ermordung inspizierten, oder die Sekretärinnen der Anstalten, die die sogenannten Trostbriefe verfassten, wählten von einer Liste eine Todesursache aus.
Friedrichs Familie traf die Todesnachricht völlig unerwartet. Lediglich eine Urne mit Friedrichs Überresten konnte sie noch bestatten. Die Eltern beschwerten sich beim Anstaltsleiter der Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg, Friedrichs letztem Wohnort vor der Tötungsanstalt. Sie waren von der plötzlichen Verlegung nach Grafeneck überrascht und konnten sich die knappe Todesnachricht nicht erklären. Friedrichs Vater vermutete jedoch einen Zusammenhang mit den Geschehnissen in Grafeneck und sprach den Anstaltsleiter von Mariaberg direkt darauf an.
Dieser versuchte, die Familie zu beschwichtigen, leugnete jedoch nicht, dass Friedrich zusammen mit anderen Anstaltsinsass/-innen, gegen den Willen der Anstaltsleitung verlegt worden war.
Die Ermordung von Menschen mit Beeinträchtigungen in Grafeneck war offensichtlich schon lange kein Geheimnis mehr.
Diesen Brief schrieb Friedrichs Vater Georg an das Heim in Mariaberg
Gnadental, den 10.11.40
Geehrte Anstaltsverwaltung!
Zurückgekehrt vom Grabe unseres l. [lieben] Sohnes Fritz, möchten wir doch nochmals anfragen, ob es denn mit Fritz so schnell gegangen ist, ihn so schnell von Mariaberg fort tun zu müssen, oder aus anderen Gründen, denen Sie vielleicht nicht mehr mächtig waren. Wir haben ja nur noch seine Urne bestatten können. Es ist für uns ein großer Schmerz, ohne weiteres nur die Nachricht zu erhalten: gestorben. Wir bitten Sie, doch umgehend zu benachrichtigen, ob er noch mit mehr Leidensgenossen dort weggeholt worden ist, u. es ist doch sicher auch ein schwerer Abschied gewesen. Sie haben’s gut, die in der ewigen Heimat sind.
Mit deutschem Gruß
Heil Hitler
Fam. […]
So beschrieb der leitende Beamte des Heims den Abschied von Friedrich und den anderen Jugendlichen
Der Anstaltsinspektor sprach der Familie in seinem Schreiben sein Beileid aus und versuchte, sie zu trösten. Ob Friedrich tatsächlich ahnungslos war, als er in den Bus einstieg und sich auf eine Spazierfahrt freute, ist ungewiss. Viele der Patient/-innen ahnten, was ihnen bevorstand, sie hatten Angst und wehrten sich auch manchmal.
Sowohl in Grafeneck als auch in Mariaberg erinnern heute Mahnmale an die Mordopfer der Nationalsozialisten
Die ehemalige Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg hat sich heute zu einer Einrichtung der Behindertenhilfe gewandelt. Hier finden sich ein Krankenhaus für Kinder- und Jugendpsychiatrie und eine Ausbildungswerkstatt für Menschen mit Beeinträchtigungen. Das Mahnmal auf dem Gelände von Mariaberg wurde 1990 errichtet. Auf den Steinplatten sind die Namen der insgesamt 61 Kinder und Jugendlichen der Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg eingraviert, die während der »Aktion T4« ermordet wurden. Die dazugehörige Inschrift lautet: »Wenn die Menschen schweigen, so werden die Steine schreien.«
Auch im Schloss Grafeneck ist heute eine kirchliche Pflegeeinrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen ansässig. Hier wird den während der Zeit des Nationalsozialismus Ermordeten auf ähnliche Weise gedacht: Neben einer Dokumentationsstätte und einer Gedenkkapelle wurde 1998 der sogenannte Alphabet-Garten eingeweiht. Hierfür wurden 26 Quader mit je einem Buchstaben des Alphabets in den Boden eingelassen. Aus den Buchstaben können alle Namen der in Grafeneck ermordeten Menschen gebildet werden.