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8. Juli 1932Geburt
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Juni 1933Auswanderung
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1938Ohne Eltern
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31. Januar 1945Deportation
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September 1945Rückkehr
Ingeburg Frank wurde 1932 in der schönen Blumenstadt Erfurt geboren. Sie war das einzige Kind ihrer Mutter Elfriede und ihres Vaters Herbert. Elfriede war kaufmännische Angestellte von Beruf, der Vater Gärtner.
Im Jahr 1933 beschlossen Ingeburgs Eltern auszuwandern, nach Palästina. Herbert hatte eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner in der Israelitischen Erziehungsanstalt zu Ahlen bei Hannover abgeschlossen. Die Eltern wollten in Palästina ein neues Leben beginnen.
»Ich war ja noch sehr klein. […] Zwei Monate haben sich meine Eltern in Tel Aviv aufgehalten. Mein Papa hat dort in einer Gärtnerei gearbeitet und dann sind meine Eltern über Marseille zurück nach Deutschland. Die Gründe dafür waren, dass ich sehr krank war, da ich diese ganze Umstellung – ich war damals ein Jahr alt – nicht vertragen habe. Ich kam mit der Ernährung dort nicht zurecht.«
Die Familie war somit gezwungen, in das Deutsche Reich zurückzukehren. Als sie zurück nach Erfurt zogen – im Herbst 1933 – war Hitler bereits an der Macht. Im Mai 1933 hatte die große Bücherverbrennung in Berlin stattgefunden und Juden und Jüdinnen wurden bereits aus dem Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturleben verdrängt. Aus diesem Grund wanderten zu dieser Zeit viele jüdische Menschen aus dem Deutschen Reich aus.
Aber Ingeburgs Eltern mussten zurück in das Deutsche Reich. Dort hatte der Vater nur selten Arbeit. Manchmal arbeitete er privat, um zusätzlich ein bisschen Geld in die Familie zu bringen – sonst versorgte die Mutter die Familie. Sie mussten oft umziehen, weil sie die Mietrückstände nicht bezahlen konnten.
Trotzdem hatte Ingeburg eine glückliche Kindheit. Sie hatte eine enge Beziehung zu ihrem Vater. Manchmal nahm Herbert Ingeburg mit zum Café Rommel in Erfurt. Dort arbeitete er als Gärtner, und auf dem Dach des Cafés aß er mit Ingeburg hin und wieder ein Eis.
Einmal schenkte er ihr, nach einer Mandeloperation, eine kleine rote Umhängetasche, zum Trost, weil sie so tapfer gewesen war.
Wenn beide Eltern gleichzeitig arbeiten mussten, brachte der Vater Ingeburg zu ihrer Großtante Anna nach Marbach, damals ein kleines Dorf am Rand von Erfurt.
Ingeburg sollte nun also bei ihrer Großtante und ihrem Großonkel Anna und Hugo Krause in Marbach wohnen. Ihre Eltern planten, den Vater zu seiner eigenen Sicherheit so schnell wie möglich aus dem Deutschen Reich rauszubringen. Denn dass Ingeburgs Vater Jude war, bereitete der einst glücklichen Familie große Probleme.
Im November 1938, nach der sogenannten Reichspogromnacht wurde Ingeburgs Vater ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Ingeburg war zu dieser Zeit bei ihrer Tante in Marbach.
In Buchenwald wurde Herbert festgehalten und durfte nur unter der Bedingung nach Hause zurückkehren, dass er so schnell wie möglich das Land verließ. Und das tat er dann auch. Im Dezember 1938 wanderte er nach Schanghai aus. Er konnte Ingeburg nur noch einen Abschiedsbrief schreiben und ihr später aus Schanghai ein einziges Bild schicken. Dieser Brief ist von großer Bedeutung für Ingeburg. Immer, wenn sie ihn vorliest, ist sie tief berührt.
Was passierte während der sogenannten Reichspogromnacht 1938?
Die Nacht vom 9. November auf den 10. November wurde auch »Reichskristallnacht« oder »Kristallnacht« genannt. Man spricht heute vom Novemberterror.
In kurzer Zeit wurden im ganzen Deutschen Reich tausende Synagogen und Geschäfte zerstört. Vom 7. bis 13. November wurden mehrere hundert Juden und Jüdinnen ermordet. Weitere 300 nahmen sich das Leben.
Nach der Reichspogromnacht wurden Juden und Jüdinnen zunehmend diskriminiert, verfolgt und eingesperrt. Bis zu 30.000 jüdische Männer und Jugendliche wurden in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Viele von ihnen starben dort. Ein Großteil der Männer kam erst frei, nachdem sie versichert hatten, dass sie das Deutsche Reich so schnell wie möglich verlassen würden.
So wie auch Ingeburgs Vater.
Kurz nachdem der Vater ausgereist war, zog Ingeburgs Mutter nach Magdeburg. Sie hoffte, dort unerkannt leben zu können. Vor allem zum Schutz von Ingeburg und um arbeiten zu können – in Erfurt und Umgebung kannten sie ja alle.
Nürnberger Gesetze
Laut den Nürnberger Gesetzen war Ingeburg eine sogenannte Halbjüdin, da ihr Vater jüdisch und ihre Mutter Christin war. Die Nürnberger Gesetze oder »Ariergesetze« waren antisemitisch.
Eines dieser Gesetze war das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«. Es verbot Ehen und Beziehungen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Menschen. Sogenannte »Mischehen« konnten für ungültig erklärt werden. Verstöße gegen das Gesetz wurden als »Rassenschande« bezeichnet und hart bestraft.
Die Nürnberger Gesetze schrieben auch fest, wer laut den Nationalsozialisten als jüdisch galt. Das zweite Nürnberger Gesetz, das »Reichsbürgergesetz« schuf somit zwei Klassen von Bürger/-innen: »arische« Bürger/-innen und Juden und Jüdinnen, die weniger Rechte besaßen.
Ingeburg lebte nun bei Ihrer Großtante, einer Schneiderin, und ihrem Großonkel, der Tischler war.
Mit der Zeit wurde sie immer mehr ausgegrenzt. Ab dem 18. Januar 1941 trat ein Gesetz in Kraft, das ihr verbot, weiter zur Schule zu gehen. Von da an blieb sie zu Hause in Marbach. Außerhalb der Schule wurde sie aber trotzdem von anderen Kindern verfolgt und gemobbt. Sie wurde mit Steinen beworfen und das Haus, indem sie lebte, wurde beschmiert.
Ingeburg spielte vor allem im Hof und Garten der Großtante und des Onkels. Und da Tante Anna als Schneiderin immer viel Arbeit und gute Lebensmittelkarten hatte, mussten sie keinen Hunger leiden. Außerdem hatte Ingeburg immer schöne Sachen an.
»Ich war in diesem Dorf eigentlich das Mädchen, das immer am besten angezogen war.«
Eines Tages kam eine Frau vorbei, vom Winterhilfswerk. Sie wollte Ingeburgs Kleidung als Spende haben, für arme Kinder, die aufgrund des Krieges kein Zuhause mehr hatten. Die Großtante wusste dies jedoch durch einen schlagfertigen Wortwechsel zu verhindern: Sie wolle doch sicherlich keine anderen Kinder in den Sachen eines jüdischen Mädchens kleiden.
Tante Anna war wütend darüber, dass Ingeburg als Jüdin einerseits ausgegrenzt wurde und man auf der anderen Seite ihre schönen Anziehsachen als Spende für das Winterhilfswerk, eine nationalsozialistische Organisation, die Armut und Arbeitslosigkeit bekämpfen wollte, verlangte.
Ab 1941 musste Ingeburg den sogenannten Judenstern tragen. Doch auch jetzt noch versuchte ihre Großtante, Ingeburg eine halbwegs normale Kindheit zu ermöglichen. Sie machten Ausflüge nach Erfurt, wo Tante Anna ihr den Judenstern abnahm – obwohl das verboten war. Als Schneiderin hatte sie den Stern mit einem Klettverschluss befestigt, den sie mit einer Tasche verdeckte, wenn sie den Stern von ihrer Nichte abmachte. Dank dieser Strategie konnte Ingeburg mit Anna sogar einen Tag im Kino erleben.
Jugend im Nationalsozialismus
Jugendliche wurden so erzogen, dass sie die Weltsicht der Nationalsozialisten annahmen. In Schulen wurden im Biologieunterricht Themen wie »Rassenkunde« eingeführt. In der Freizeit wurden die Kinder mit Hilfe von Jugendorganisationen, die ab 1936 verpflichtend waren, beeinflusst.
Es gab eine nationalsozialistische Jugendorganisation für Jungen – die Hitlerjugend (HJ). Alle anderen Jugendverbände wurden 1933 verboten. Ab 1939 mussten alle Jungen zwischen 10 und 18 Jahren in die Hitlerjugend eintreten. Denn Kinder und Jugendliche sollten nicht nur in der Schule, sondern auch in ihrer Freizeit nationalsozialistisch erzogen werden. Die Jugendorganisation für Mädchen und junge Frauen hieß Bund Deutscher Mädel (BDM). Vielen Jungen und Mädchen gefielen die gemeinsamen Aktivitäten in der HJ oder dem BDM.
Weil Ingeburg von den anderen Kindern ausgegrenzt wurde und auch kein Mitglied in der nationalsozialistischen Jugendorganisation war, verbrachte sie viel Zeit allein auf dem Hof der Tante und des Onkels. Sie spielte mit Puppen in einem schönen Puppenhaus, das ihr der Onkel gebaut hatte, half der Tante beim Schneidern und las.
Am 31. Januar 1945 wurde Ingeburg als Zwölfjährige in das Lager Theresienstadt deportiert.
Der Wachtmeister von Marbach holte sie von zu Hause ab, um sie nach Erfurt zur Gestapo zu bringen. Als Wachtmeister Jacob vor ihrer Tür stand, war es eisig kalt, es lag hoher Schnee. Die Tante und der Onkel durften Ingeburg nicht begleiten oder ihr helfen, den schweren Koffer zu tragen.
»Unterwegs kam aber ein junger Mann an uns vorbei (…), der war so nett, da konnte ich meinen Koffer auf den Gepäckträger (…) legen. Das hat auch der Wachtmeister erlaubt«.
Bei der Gestapo musste sie ihren Schmuck abgeben – goldene kleine Kinderohrringe, mit einer roten Koralle in der Mitte. Ingeburg weinte.
Anschließend musste sie durch Erfurt bis zum Hauptbahnhof laufen und mit vielen anderen in einen Zug steigen. Die Fahrt dauerte drei Tage.
Im Zug wurde ihr erklärt, dass sie in eine Gaskammer komme und nicht, wie von der Gestapo versprochen, in ein Umerziehungslager. Während der Fahrt schrieb sie eine Postkarte mit den Worten: »Es ist alles gelogen, ich komme nicht wieder«, und warf sie aus dem Zug.
Als Ingeburg in Theresienstadt ankam, war es Anfang Februar 1945. Dort wurde sie geduscht und ihre Haare wurden abrasiert. Ihre Kleidung wurde desinfiziert und sie bekam sie stinkend zurück. Dann wurde sie mit fünf anderen Mädchen in eine Unterkunft geschickt und musste sechs Stunden am Tag in der Raumwirtschaft arbeiten.
Bei der Raumwirtschaft wurden sämtliche Räume der Abteilung für innere Verwaltung verwaltet. Ingeburg war fünf Monate allein im Lager. Ihre Familie wusste nicht einmal, ob sie noch am Leben war. Sie bekam kaum Nahrung, keine Medikamente und alles war voller Ungeziefer.
Es war ein kalter Winter und die Angst zu sterben begleitete Ingeburg.
Was war das für ein Lager?
Theresienstadt war zwischen 1941 und 1945 als Sammel- und Durchgangslager Teil des nationalsozialistischen Lagersystems. Der Ort diente als Durchgangslager für Juden und Jüdinnen, bevor sie weiter in die Vernichtungslager deportiert wurden. Die Lebensbedingungen waren von Kälte, Krankheiten, überfüllten Unterkünften und dem Mangel an Nahrungsmitteln und Medikamenten geprägt. Das führte zu hohen Todeszahlen. Von den 141.000 Häftlingen starben etwa 33.000 in Theresienstadt. Die Mehrheit der anderen wurde weiter in die Vernichtungslager verschleppt. Nur 4.000 überlebten.
Nach außen inszenierten die Nationalsozialisten jedoch ein ganz anderes Bild vom Leben im Lager. So diente Theresienstadt als eine Art Vorzeigelager. Der Besuch einer Delegation des Internationalen Roten Kreuzes im Juni 1944 wurde sorgfältig vorbereitet. Die SS präsentierte die Illusion eines weitgehend normalen Lebens in Theresienstadt.
Kurz darauf entstand auch noch ein Propagandafilm, in dem Menschen bei unterschiedlichsten Freizeitaktivitäten oder Arbeiten und das Lager als schöner Ort gezeigt wurden. Tatsächlich wurden jedoch fast alle Frauen, Kinder und Männer, die man gezwungen hatte, in dem Propagandafilm mitzuspielen, zusammen mit 18.000 anderen Jüdinnen und Juden nach Auschwitz deportiert.
Am 8. Mai 1945 erreichte die Rote Armee Theresienstadt, Ingeburg war frei! Doch wegen der schrecklichen Lebensbedingungen brach Typhus aus. Deshalb musste das Lager nach der Befreiung unter Quarantäne gesetzt werden. Ärzt/-innen und Pfleger/-innen kamen aus Prag, um sich um die Kranken zu kümmern. Erst im Juni wurde die Quarantäne aufgehoben und Ingeburg machte sich auf die lange Reise zurück nach Erfurt. Sie kam nach drei Tagen, am 12. Juni 1945, zu Hause an.
Als Kind wollte Ingeburg unbedingt Schneiderin werden wie ihre Großtante. Aber es kam alles anders. Nach ihrer Befreiung aus Theresienstadt kehrte sie zurück zu ihrer Familie und besuchte ein Internat in Wickersdorf, in Thüringen. Dort wiederholte sie ihre verpassten Schuljahre. Sie machte ihr Abitur mit einem guten Abschluss – auch, um ihrer Mutter den Wunsch »Denen werden wir es zeigen!« zu erfüllen.
Nach ihrer Rückkehr aus Theresienstadt war Ingeburg misstrauisch gegenüber allen fremden Menschen, sie war nicht mehr so offen wie früher. Sie wohnte weiterhin bei ihrer Tante und ihrem Onkel und ihre Mutter besuchte sie regelmäßig. 1946/47 begann sie, Briefe mit ihrem Vater auszutauschen.
Ingeburg beschloss, Jura an der Humboldt-Universität in Berlin zu studieren, und zog dafür 1952 nach Ostberlin. Im Jahr 1959 sah sie ihren Vater, der mittlerweile in den USA wohnte und eine andere Frau geheiratet hatte, zum ersten Mal in Berlin wieder.
1961 heiratete Ingeburg ihren Mann Erhardt. Ein Jahr später bekamen sie einen Sohn.
Im Jahr 1990 besuchte sie zum ersten Mal ihren Vater in den USA. Das war vorher aufgrund der Teilung Deutschlands nicht möglich gewesen. Dort lernte sie auch ihren Halbbruder kennen.
Ingeburgs Geschichte interessierte lange Zeit niemanden
Nachdem es in der DDR kein besonderes Interesse an ihrer Geschichte gegeben hatte, begann Ingeburg erst im Rentenalter als Zeitzeugin über die Erlebnisse aus ihrer Kindheit zu sprechen. Seit vielen Jahren erzählt sie ihre Geschichte vor Schülerinnen und Schülern.
Ein bedeutendes Ereignis war ihre Rede zum zehnjährigen Jubiläum des Denkmals für die ermordeten Juden Europas 2015 in Berlin. Ingeburg möchte daran erinnern, was ihr und Millionen anderer Juden und Jüdinnen angetan wurde.