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1925Geburt
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November 1934Vergewaltigung
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April 1940Kinderheim
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Februar 1943Konzentrationslager
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April 1944Landesanstalt Görden
Jahrelang von einem Heim ins nächste ziehen. Immer wieder Ärger mit den Erzieherinnen. Mit den anderen Kindern. Und das allein. Ohne Kontakt zur eigenen Familie, ohne jemanden zum Reden zu haben.
So sah Irmtrauds Leben nun schon seit Jahren aus. Sie unterstand der Vormundschaft des Jugendamts und durfte nicht mehr bei ihren Eltern wohnen. Sie sei »verlogen« und »untragbar«, meinten die Erzieherinnen und brachten sie in den unterschiedlichsten Heimen unter. Doch nirgendwo hielt Irmtraud es lange aus. Sie hasste die Anstalten und sehnte sich nach Hause: Immer wieder versuchte sie zu fliehen und zu ihren Eltern zu gelangen.
Es gipfelte darin, dass Irmtraud im September 1943 in die Landesanstalt Görden in Brandenburg eingewiesen wurde: Nicht etwa ein gewöhnliches Erziehungsheim, sondern eine psychiatrische Anstalt, spezialisiert auf Kinder- und Jugendpsychiatrie. Jeder Neuankömmling wurde einer gründlichen Prüfung unterzogen.
Zunächst musste Irmtraud einen Intelligenztest mit Rechenaufgaben und Wissensfragen lösen: »Wer war Bismarck? Wer Luther? Wer hat Amerika entdeckt?« Außerdem musste Irmtraud ihren Lebenslauf niederschreiben und einen kleinen Aufsatz verfassen. Die Ärzt/-innen untersuchten sie auch körperlich.
Obwohl Irmtraud den Lebenslauf unter Zwang schreiben musste, war sie sehr offen und versuchte, ihre wichtigsten Lebensstationen darzustellen. Sie wusste genau, was mit ihr in den letzten Jahren geschehen war und kannte die Vorwürfe, die die Erzieherinnen und das Jugendamt immer wieder gegen sie vorbrachten. Was Irmtraud aber wirklich dachte, und wie sie sich fühlte, als sie diese Zeilen schrieb, bleibt im Verborgenen.
»Fürsorgeerziehung«? Was soll das denn sein?
Wenn die Behörden »Fürsorgeerziehung« anordneten, hieß das, dass sie Kinder oder Jugendliche unter die Vormundschaft des Jugendamts stellten. Die Mädchen oder Jungen wurden aus ihren Familien geholt und mussten von diesem Zeitpunkt an in einem Erziehungsheim leben.
Genau das war auch in Irmtrauds Fall geschehen. Ursprünglich hatten Irmtrauds Eltern der Heimunterbringung sogar zugestimmt. Sie machten sich Sorgen um ihre Tochter und glaubten, eine kurze Unterbringung in einem Heim mit anderen Kindern und professionellen Erzieher/-innen könnte ihr helfen.
Aber schon bald wollten sie ihre Tochter wieder zu sich nach Hause holen. Wiederholt beantragten sie Irmtrauds Entlassung aus der Fürsorgeerziehung. Die zuständigen Beamten jedoch lehnten diese jedes Mal ab. Die Begründungen für die Ablehnungen variierten kaum: Irmtraud sei »unerziehbar« und müsse im Heim verbleiben. Dem konnten Irmtrauds Eltern kaum etwas entgegensetzen.
Jeden Tag »Gymnastik im Freien«
Diese alte Postkarte zeigt die Mädchen des Heims Birkenhof in Hannover-Kirchrode bei der Gymnastik. Sie mussten sich in Reih’ und Glied aufstellen und im Gleichklang dieselben Übungen durchführen. Hier machte wahrscheinlich auch Irmtraud mit, als sie im Jahr 1939 für sechs Monate im Birkenhof eingesperrt war. Für sie nur eine von vielen Stationen.
Damals waren die Lebensbedingungen in den Kinder- und Jugendheimen oft katastrophal: Die Jugendlichen waren in großen Bettensälen untergebracht und hatten keine Privatsphäre. Sie mussten für ihre Unterbringung im Haushalt arbeiten und wurden dafür kaum entlohnt. Durch Arbeit, Disziplin und strenge Regeln sollten die Kinder und Jugendlichen zu »nützlichen« Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden. Bildung, Zuneigung und Freundschaft waren hingegen zweitrangig.
»Sie ist faul, singt Schlager« – Irmtrauds Ärger mit den Erzieherinnen
»Leider haben sich die Hoffnungen, die ich mir von einem Heimwechsel Ihrer Tochter Irmtrauds versprach, nicht erfüllt.«
»9. Mai 1939
Irmtraut [Irmtrauds Name wird in ihrer Akte nahezu durchgängig falsch geschrieben] ist ein unruhiges, zerfahrenes Mädchen, sehr spielerisch, läuft andauernd von der Arbeit fort. […] Sie hängt viel aus dem Fenster heraus (Strassenseite), wo unten die Jungen spielen, oder sie kommt plötzlich aus irgend einem Zimmer geschossen, riecht nach allen möglichen Parfümsorten […].«
»Sie ist außerordentlich lügenhaft und nimmt sich Eigenmächtigkeiten heraus, die sie bei normaler Veranlagung nicht machen dürfte.«
»31. Mai 1939
Irmtraut ist ein boshaftes Mädchen. Sie ist kaum zu tragen in der Familie. Sie macht immer das Gegenteil von dem, was sie soll. […]«
»31. Juli 1939
Irmtraut liegt in ihrem Zimmer (Ziegenpeter). Sie ist faul, singt Schlager. Als wir neulich ihr Essen brachten, hatte sie ihr Bett vor die Tür geschoben. Sie ist recht ungezogen, kann nicht gehorchen, unordentlich.«
»Ich habe daher auch angeordnet, dass Irmtraud dem Psychiater zur Begutachtung vorgestellt wird.«
»15. September 1939
Irmtraut darf man nicht ohne Aufsicht lassen. Sie sitzt gern ohne Arbeit. Neulich legte sie sich nach dem Abendessen während des Wasserholens auf ihr Bett. Im Ganzen gehorcht sie aber besser, zankt auch nicht mehr so viel mit den Mädchen wie früher. Sie muss nur wissen, dass sie ständig beobachtet wird.«
»Irmtraud wird daher in einem halboffenen Heim untergebracht, musste aber jetzt in ein geschlossenes Heim verlegt werden.«
»Irmtraud hat unzüchtige Handlungen an sich vornehmen lassen« – dieser Satz eines Mitarbeiters des Jugendamts steht in Irmtrauds Fürsorgeakte und taucht an mehreren Stellen wieder auf. Er bedeutet ein vernichtendes Urteil über das Mädchen – Irmtraud war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal neun Jahre alt. Was war geschehen?
Irmtraud war auf dem Weg zum Baden von einem fremden Mann angegriffen und sexuell missbraucht worden. Der Mann wurde auf Grund von Irmtrauds Aussage von der Polizei verhaftet und zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Der Täter hatte Irmtraud verletzt und mit einer Geschlechtskrankheit infiziert. Sie lag über Monate im Krankenhaus.
Dennoch unterstellte das Jugendamt Irmtraud indirekt, in die Vergewaltigung eingewilligt zu haben. Sie gaben ihr die Schuld für den Übergriff und werteten das Geschehen als Charakterfehler: Irmtraud sei »sexuell unsauber« und stelle eine »sittliche Gefährdung für andere Kinder dar«.
Warum wurde Irmtraud die Schuld an dem Übergriff gegeben?
Ein gerade neunjähriges Schulkind wird von einem erwachsenen Mann missbraucht. Eigentlich sollte es keine Frage sein, wer Opfer und wer Täter ist. Tatsächlich wurde Irmtrauds Vergewaltiger auch mit eineinhalb Jahren Gefängnis bestraft. Wie konnte dann ein Jugendamtsmitarbeiter Irmtraud mit Unterstellungen wie »an sich vornehmen lassen«, »sexuell unsauber«, »sittliche Gefährdung für andere Kinder« verurteilen. So völlig mitleidlos?
Damals galten – mehr noch als heute – für Frauen und Männer unterschiedliche Moralvorstellungen. Frauen und Mädchen sollten keusch und züchtig sein. Frühzeitiger, unehelicher Geschlechtsverkehr kam unter keinen Umständen für sie in Frage. Ob sie den Geschlechtsverkehr selbst gewollt hatten oder dazu gezwungen worden waren, spielte dabei keine Rolle. Den Mädchen oder Frauen wurde unterstellt, den Mann zum Sex verführt zu haben. Selbst der neunjährigen Irmtraud.
Das Jugendamt nahm den Vorfall zum Anlass, die neunjährige Irmtraud in die Fürsorgeerziehung zu überweisen und der Vormundschaft des Jugendamts zu unterstellen. Der Vorwurf der, wie es hieß, »sittlichen Verwahrlosung«, zieht sich durch ihre gesamte Akte. Jeglicher Kontakt zu Jungen und Männern wurde ihr negativ ausgelegt, wie ein Eintrag aus dem Jahr 1940 zeigt.
Zu diesem Zeitpunkt war Irmtraud im Landeswerkhaus Moringen untergebracht. Dort war nur wenige Jahre zuvor eine geschlossene Erziehungsabteilung für »schwererziehbare« Mädchen eingerichtet worden, zu denen auch Irmtraud gezählt wurde. Hier heißt es über sie: »versuchte mit [männlichen] Insassen des Arbeitshauses anzubändeln. 2 Mon. Isolierung, keine Besserung«. Ein harmloser Flirtversuch der mittlerweile 15-jährigen Irmtraud wurde also mit Einzelhaft bei Wasser und Brot bestraft.
Warum durfte Irmtraud nicht mit Jungen flirten?
Die Fürsorgebehörden glaubten, sehr genau zu wissen, wer in der Moringer Erziehungsabteilung untergebracht war:
»schulentlassene Mädchen, die wegen sexueller Hemmungslosigkeit oder sonstigen asozialen Verhaltens mehrfach in ihren Dienststellen gescheitert oder aus den Erziehungsheimen wiederholt entwichen sind«.
Mädchen also, die nicht als Hausmädchen oder Magd auf einem Bauernhof arbeiten oder in einem Erziehungsheim wohnen, sondern frei und selbstbestimmt leben wollten.
Genau dieses Verhalten sollten sie unter allen Umständen ablegen. Kaum Ausgang oder sonst irgendein Kontakt zur Außenwelt, vergitterte Fenster, harte Arbeit – ein strenges Programm, mit dem die Mädchen ihr vermeintlich »asoziales Verhalten« dauerhaft ausgetrieben werden sollte.
Zu »asozialem Verhalten« wurde auch das Flirten mit Jungs gerechnet. Liebe und Sex, das kam in den Augen der Erzieherinnen für ihre »Schützlinge« keinesfalls in Frage. Mädchen wie Irmtraud, die aus armen Verhältnissen stammten und eine lange Heimkarriere hinter sich hatten, sollten sich aus ihrer Sicht besser nicht fortpflanzen, da sie »minderwertige Gene« hätten.
»Frech, verlogen, unwillig« – mit diesen Worten beschrieb das Erziehungspersonal des Landeswerkhauses Moringen die inzwischen 17-jährige Irmtraud und beantragte für sie die Unterbringung im sogenannten »Jugendschutzlager« Uckermark. Hier waren insgesamt etwa 1.500 Mädchen und junge Frauen zwischen 16 und 21 Jahren eingesperrt.
Die Bedingungen im Lager waren katastrophal: Die Mädchen und jungen Frauen wurden auf unterschiedliche Blöcke aufgeteilt und erhielten Häftlingskleidung. Sie mussten Zwangsarbeit leisten, wurden unzureichend verpflegt und waren der Willkür der Aufseherinnen ausgeliefert. Die Haftzeit war unbegrenzt.
Irmtraud litt sehr unter der Lagerhaft. In einer der wenigen schriftlichen Aussagen, die von ihr erhalten sind, berichtet sie über ihre Zeit in Uckermark:
»Ich konnte mich dort nicht einleben, zankte mich oft mit den anderen Mädchen und versuchte zu entkommen, was ich jedoch nicht tat, weil ich an meine Eltern dachte. Mir wurde gesagt: ›Wenn ich fortlaufe kommen meine Eltern ins K.Z.‹ und das wollte ich vermeiden.«
Obwohl Irmtraud nach einigen Monaten aus dem KZ Uckermark in die psychiatrische Landesanstalt Görden verlegt wurde, konnte sie auch später ihre grauenvollen Erfahrungen aus der Zeit im Konzentrationslager nicht vergessen. Die Angst, möglicherweise erneut dort eingewiesen zu werden, blieb. Und nicht nur das: Irmtraud fürchtete, dass in der Folge auch ihre Eltern und ihr Bruder verhaftet werden könnten. Unter keinen Umständen durfte ihnen das Gleiche passieren wie ihr!
Noch im Frühjahr 1944, also fast zwei Jahre später, schrieb sie in einem Aufsatz über den Grund für einen Fluchtversuch aus der Landesanstalt Görden: »Ich hatte furchtbare Angst und Heimweh […] und mir graute fürs K.Z.«
Warum wurde ein Konzentrationslager für junge Frauen errichtet?
Von den ersten 500 Mädchen, die 1942 nach Uckermark kamen, waren 288 ehemalige »Fürsorgezöglinge«. Sie wurden wahlweise als »asozial«, »verwahrlost« oder »unerziehbar« angesehen und deshalb eingesperrt. Jede Kleinigkeit, wie zum Beispiel Unordentlichkeit, wurde als Beweis für ihre »Minderwertigkeit« angesehen.
Dass sie sich vielleicht unangepasst verhielten, weil sie, wie Irmtraud, schlimmes erlebt hatten, oder weil sie in den Heimen schlecht behandelt wurden, spielte keine Rolle. Niemand glaubte daran, dass sie eine Zukunft hatten. Und niemand gab ihnen eine Chance. Stattdessen schoben die Nationalsozialisten, die Fürsorgerinnen und Erzieherinnen diese Mädchen ab. In dem extra errichteten Lager konnten sie sie auf unbegrenzte Zeit einsperren.
Die Nationalsozialisten hatten auch ein Konzentrationslager für Jungen gebaut. Hunderte Kilometer entfernt, in dem kleinen niedersächsischen Ort Moringen gelegen. Auf die getrennte Unterbringung und Erziehung von Jungen und Mädchen wurde damals sehr genau geachtet. Insgesamt wurden etwa 3.000 Jugendliche in den zwei Jugendkonzentrationslagern gefangen gehalten.
Hier mussten die Mädchen Zwangsarbeit leisten
»In der Früh rausgepfiffen, Frühsport. Bloßfüßig. Da hat es können regnen oder frieren oder schneien. Oft hat es im Winter minus 20 Grad gehabt, da hast müssen hupfen, dass du net am Boden angefroren bist. Ich war noch net ganz beinander von der Diphterie, jetzt hab ich oft nicht so mitkönnen. Strafweis musste ich Liegestütze machen.
Dann unter die kalte Dusche. Ist ja gesund für einen jungen Menschen – dass manche vielleicht auf der Lunge schwach waren, ist ja unwichtig gewesen. Rasch, rasch anziehn, geschwind, geschwind Betten bauen. Die Kante [der Bettdecke] hat müssen sein wie beim Militär, nur ärger. Wenn eine von den Aufseherinnen schlecht gelaunt war, hat sie das Bett wieder aufgerissen, hast kein Nachtmahl gekriegt, strafweis. Bettenbauen, dann Frühstück […]! Ein Stückl Brot und einen Kaffee, dann raus, Appell stehen. Nachher ist die Arbeit angegangen.«
Die Lagerleiterin hielt Irmtraud für »unerziehbar« und beschloss, gegen sie vorzugehen
Die Kriminalrätin Lotte Toberentz leitete das Konzentrationslager Uckermark. Sie fällte nach nur wenigen Monaten ein vernichtendes Urteil über Irmtraud und schlug sie für eine Verlegung in die Landesanstalt Görden, einem Zentrum für psychisch kranke Jugendliche, vor:
»Zusammenfassend ist zu sagen, dass … [Irmtraud] als Bewahrungsfall anzusehen sein dürfte. Sie erziehlich zu fördern, erscheint auch bei längerer Lagerunterbringung aussichtslos. Ich schlage daher vor, sie baldmöglichst der Heil- und Pflegeanstalt Görden zu überstellen«
Irmtraud sollte also lebenslang in einer Anstalt weggesperrt werden. Sie sollte nie wieder freikommen und ihr Leben selbst gestalten können. Der lagereigene »Kriminalbiologe«, Dr. Lindstädt, der die Mädchen auf ihre vermeintliche genetische Anlage zu Kriminalität und »Asozialität« überprüfen sollte, war der Ansicht, dass Irmtrauds Verhalten auch durch »minderwertige« Gene verursacht würde.
Daher würde sie sich seiner Meinung nach auch nicht ändern können. Auf die Idee, dass es ihr wegen ihres schlimmen Erlebnisses und der schlechten Behandlung im Heim schlecht gehen könnte, kam er nicht. Die Nationalsozialisten waren der Ansicht, das unangepasstes Verhalten vererbt würde.
Irmtraud hatte schon während ihrer Schulzeit kleinere Diebstähle begangen. Auch als sie älter wurde, konnte sie sich nicht vom Drang zu klauen befreien.
In der psychiatrischen Anstalt in Görden, in der Irmtraud seit Frühjahr 1943 untergebracht war, war sie bekannt dafür, andere zu bestehlen: Sie entwendete den Mädchen auf ihrer Station zum Beispiel Lockenwickler, Haarklemmen oder Garnreste – keine besonders wertvollen Gegenstände.
Aber ihre Diebstähle flogen jedes Mal auf: Irmtraud gab sich keine Mühe, ihr Diebesgut an einem besonderen Ort zu verstecken, sondern legte es immer wieder in ihren Schrank, wo es die Erzieherinnen fanden. Offensichtlich ging es ihr nicht darum, sich zu bereichern. Vielleicht fühlte sie sich durch das Klauen ein bisschen weniger ohnmächtig in ihrem Leben, das ansonsten komplett von Anderen bestimmt wurde?
Einmal war Irmtraud sogar schon wegen des Klauens zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Damit war sie vorbestraft und galt als kriminell. In den Augen der Nationalsozialisten war ein solches Verhalten »erbbedingt«, denn es wurde angenommen, dass sich soziale Verhaltensweisen vererben ließen. Irmtrauds Familiengeschichte wurde daher genau durchleuchtet und in einem sogenannten »kriminalbiologischen Lebenslauf« zusammengefasst. Negative Zuschreibungen, auch wenn sie nur auf Gerüchten beruhten, wurden penibel aufgelistet: Über Irmtrauds Vater hieß es, er sei vorbestraft. Irmtrauds Mutter wurde als »leichtfertig« bezeichnet.
Nur die negativen Bemerkungen des Direktors der Städtischen Mittelschule über Irmtrauds Bruder fanden Eingang in ihre Akte der Landesanstalt Görden: Dass ihr Bruder »sehr stramm gehalten werden müsse« und ein »H-J-Abzeichen entwendet« habe. Auf diese Weise wurde das – auf Vorurteilen beruhende – Bild einer »asozialen« Familie erzeugt.
Der Leiter der Landesanstalt Görden, Hans Heinze, bezeichnete Irmtraud daraufhin in seiner abschließenden Diagnose als ein »mit charakterlichen Abartigkeiten […] erblich belastete[s]« Mädchen. Eine psychische Erkrankung Irmtrauds wurde zwar in Erwägung gezogen, jedoch scheint dieser Verdacht nicht weiter verfolgt worden zu sein.
In einem Brief versuchte Irmtraud sich zu erklären
Offenbar wurde Irmtraud wegen ihres Hangs zum Stehlen immer wieder von den Erzieherinnen der Landesanstalt als »asozial« bezeichnet und eine erneute KZ-Haft angedroht. Sie versuchte, sich zu wehren, entschuldigte sich mehrfach und zeigte aufrichtige Reue. In einem verzweifelten Brief an ihre Erzieherin Frau Goltz schrieb sie:
»Nein ich will nicht als asozial gelten. Ich werde jetzt endlich Schluß mit alldem machen und endgültig ein charakterhaftes und ehrliches Mädel werden. Glauben Sie mir, es ist mein Wort aus tiefstem Herzen.«
Eines Nachts wurde einer Erzieherin ein Schlüssel geklaut – sofort stand Irmtraud unter Verdacht
»Als wir dann am Morgen aufstanden, fehlte ein Schlüssel. Ich stand beim Kaffeetisch, da sagte Fräulein Schröder: ›Irmtraud komm mal mit‹, und sie ging mit mir in den Kindersaal und sagte: ›Zeig mir mal deinen Schrank und deine Tasche, du weißt doch sicher, dass ein Schlüssel fehlt?‹ Ich sagte: ›Nein, das weiß ich nicht‹, und sie sah meinen Schrank durch.
Dann ging sie raus und sagte, ich soll auch mitkommen. Sie sagte dann zu allen, daß ein Schlüssel fehlt und wir sollen sagen, wer ihn hat. Da sagte Gertraud, ›Fräulein Schröder, ihr Schlüssel ist schon da, er lag in Hilda ihrem Bett.‹ Als wir beim Kaffeetrinken waren, sprachen die Mädels vom kleinen Tisch dann. Hier stiehlt ja nur eine, wers einmal war ist es auch immer. Ihr müsst alles sagen, was ihr über Irmtraud wisst, und so ging's los.
Und dann im Kindersaal sagte Hilda, wenn du nicht sagst, dass du es gewesen bist, erwürge ich dich, schau dir meinen Latschen an. Kriegen wir wegen dir kein Mittag, sag es doch du bekommst dann doch nur trocken Brot. Und da habe ich ja gesagt. Und da waren sie froh. Ich habe nicht daran gedacht, dass ich gleich Zelle bekäme. Ich bin es nicht gewesen, Fräulein Goltz, wenn ich hätte türmen wollen, wäre ich so gegangen. Ich weiß auch nicht, wer es war.«
Der Leiter der Landesanstalt Görden hielt Jugendliche wie Irmtraud nicht für vollwertige Menschen
Der Leiter der Landesanstalt Görden in Brandenburg hieß Hans Heinze. Er war ein anerkannter Psychiater und seine Unterschrift steht unter den Gutachten, die über Irmtraud gefällt wurden. Er glaubte, dass die Gene festlegen würden, wie ein Mensch sich verhielt. Zum Beispiel, ob jemand Verbrechen beging oder nicht. Daher sollten Kinder in seinen Augen schon früh genau beobachtet und gegebenenfalls voneinander abgesondert werden.
Er teilte die Kinder und Jugendlichen, die seiner Obhut unterstanden, in unterschiedliche Gruppen ein. Seine Urteile waren diskriminierend und aus heutiger Sicht unwissenschaftlich: Er sprach von »Schwersterziehbaren«, »monströs Abartigen«, späteren »Berufsverbrechern«. Vermutlich rechnete Heinze auch Irmtraud hierzu. Irmtrauds Lebensgeschichte, der sexuelle Missbrauch, ihre Heimunterbringung und ihre Diebstähle formten für ihn das Bild einer »Krankheit« und ließen aus seiner Sicht nur ein Urteil zu: Irmtraud war »minderwertig« und musste zum »Schutz der Volksgemeinschaft« weggesperrt werden.
Heinze war als Direktor der Landesanstalt Görden auch für die Durchführung der sogenannten »Aktion T4« verantwortlich und als Gutachter des »Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter Leiden« tätig. Das heißt, er war maßgeblich an der Ermordung von Patient/-innen der Landesanstalt Görden beteiligt.
Warum wurde Irmtraud als »asozial« abgewertet?
Das Plakat zeigt sehr deutlich, warum die Nationalsozialisten die Menschen, die sie als »asozial« ansahen, wegsperren wollten. Sie glaubten, dass sich Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften vererben ließen.
Gerade »kriminelle« oder »asoziale« Menschen würden immer mehr Kinder bekommen. Ihr Anteil an der deutschen Bevölkerung würde über die Jahre ansteigen. Hätten sie zunächst 50 Prozent der Bevölkerung ausgemacht, würden es in 30 Jahren schon 67 Prozent sein und in 120 Jahren gar 94 Prozent.
Nichts davon war wissenschaftlich bewiesen, sondern entsprang gewissermaßen der Fantasie der Nationalsozialisten. Aber als »asozial« oder »kriminell« angesehene Menschen wurden immer gezielter diskriminiert und verfolgt. Sie wurden in Konzentrationslagern und Gefängnissen, Erziehungsanstalten und sogenannten Jugendschutzlagern weggesperrt.
Die Nationalsozialisten hatten die rassistische Vorstellung einer deutschen »Volksgemeinschaft«, aus der neben Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma und Anderen auch unangepasste Menschen ausgeschlossen werden sollten.
Seit Monaten war Irmtraud gegen ihren Willen in der psychiatrischen Anstalt in Görden eingesperrt. Mehrmals hatte sie versucht zu fliehen, doch all ihre Versuche waren gescheitert. Nun, Anfang Dezember 1943, wollte Irmtraud es noch einmal versuchen: Sie öffnete das Toilettenfenster mit einer Schere und sprang hinaus. Irmtrauds Glück währte jedoch nur kurz. Sie wurde von der Polizei gefasst und wieder in die Landesanstalt Görden zurückgebracht.
Würde sie bestraft werden? Erneut in ein Konzentrationslager kommen? Irmtraud wollte lieber fliehen als sich damit abzufinden, für immer eingesperrt zu sein. Als sie schließlich endgültig in die geschlossene Erziehungsabteilung überwiesen wurde, war sie völlig verzweifelt: Die Fenster waren vergittert, ein Entkommen schien unmöglich.
»Als sie [Irmtraud] […] sah, daß alles vergittert war, erklärte sie leise ihrer Kameradin: ›Wär ich doch nur noch einmal weggelaufen‹.«
Ab diesem Zeitpunkt verliert sich Irmtrauds Spur. Im April 1944, nach insgesamt acht Monaten in der Landesanstalt Görden, wurde Irmtraud »entlassen«.
»I. wird heute am 17.4.1944 auf Anordnung der Kriminalpolizeileitstelle Berlin nach dem Polizeigefängnis Hannover überführt und gilt mit dem gleichen Tag als aus der hiesigen Anstalt entlassen.«
Sie wurde in ein Polizeigefängnis gebracht. Was mit ihr im Weiteren geschah, ist unbekannt.
Gibt es tatsächlich keine Spur von Irmtraud?
Was mit Irmtraud nach ihrer Einweisung in der Polizeigefängnis Hannover geschah, ist reine Spekulation. Wahrscheinlich musste sie wegen früherer Diebstähle eine mehrwöchige Haft antreten. Vielleicht wurde sie aber auch wegen eines anderen Vergehens erneut verurteilt und in das Polizeigefängnis gebracht.
Selbst eine Einweisung in ein Konzentrationslager – wie von Irmtraud befürchtet – ist denkbar. Es bleiben viele Fragen, auf die es bislang keine Antworten gibt.
Für die jungen Frauen aus Uckermark hat sich jahrzehntelang niemand interessiert
Kinder und Jugendliche, die während der Zeit des Nationalsozialismus, als »asozial« verfolgt wurden, sind bis heute eine Gruppe, über die recht wenig bekannt ist. Nur in einigen wenigen Fällen wissen wir etwas über konkrete Personen und ihr jeweiliges Schicksal. Nach dem Nationalsozialismus waren sie, angesichts der nach wie vor bestehenden Vorurteile, nur selten bereit, über ihre Erlebnisse zu sprechen.
Denn gerade die Verfolgung von Kindern und Jugendlichen, die der Fürsorgeerziehung unterstanden und über Jahre in Erziehungsanstalten, sogenannten Jugendschutzlagern, Arbeitshäusern oder Heil- und Pflegeanstalten eingesperrt worden waren, galt über Jahrzehnte hinweg als rechtmäßig. An den staatlichen Strukturen, Gesetzesgrundlagen und Erziehungskonzepten änderte sich zunächst kaum etwas.
Erst spät ist eine offenere Diskussion über das, was Kindern und Jugendlichen zum Teil in den staatlichen Heimen und Anstalten über Jahrzehnte hinweg angetan wurde, möglich geworden.