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3. November 1920Geburt
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August 1941Kriegsgefangenschaft
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Juli 1942Zwangsarbeit
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24. August 1943Zeithain
Als der neunjährige Kolja und seine Schwester Maria eines Tages aus der Schule kamen, durften sie ihr Elternhaus plötzlich nicht mehr betreten. Das gesamte Eigentum von Koljas Eltern war beschlagnahmt worden. Ihre persönlichen Gegenstände lagen auf der Straße.
Koljas Vater war zum »Klassenfeind« erklärt worden. In dieser Zeit sollten in der Sowjetunion die Gegensätze zwischen Armen und Reichen aufgehoben werden. Daher beschlagnahmte man von vielen russischen Fabrikbesitzer/-innen die Fabriken. Auch das Land, die Häuser und das Vieh wohlhabender Bauernfamilien ging in den Besitz des sowjetischen Staates über. In vielen Fällen, vor allem wenn sie sich weigerten, wurden ehemals reiche Bürger/-innen samt den Familienmitgliedern sogar nach Sibirien verschleppt oder erschossen.
Bis dahin hatte Kolja eine schöne Kindheit verbracht: Er war mit zwei älteren Schwestern aufgewachsen, Olga und Maria. Die Familie hatte in einem großen Haus gelebt. Es lag in Kirschatsch, mitten in Russland. Und die Rosen im Garten waren so schön, dass die Leute von weit her kamen, um sie sich anzuschauen. Familie Naumow war bei den Nachbar/-innen beliebt. Sie halfen ärmeren Menschen, die weniger besaßen als sie. Kolja hatte viele Freund/-innen; sein bester Freund hieß genau wie er und wohnte in der Nachbarschaft.
Jetzt, 1930, war alles anders. Abrupt, ohne Vorwarnung. Kein Haus, kein Geld, nicht einmal Kleider oder genug zu essen. Die vertriebene Familie kam glücklicherweise bei Bekannten unter. Doch es war hart, immer von der Hilfe Anderer abhängig zu sein.
Von heute auf morgen durfte Kolja sein Zuhause nicht mehr betreten
Koljas Heimatstadt Kirschatsch liegt in Zentralrussland, neunzig Kilometer östlich der Hauptstadt Moskau. Die Familie von Koljas Vater war schon seit vielen Generationen in Kirschatsch ansässig. Die Naumows waren eine bekannte und geachtete Kaufmannsfamilie. Auch Koljas Vater, Alexander Naumow, handelte mit Waren. Er verdiente mit seiner Arbeit gut und konnte seiner Frau und seinen drei Kindern ein komfortables Leben ermöglichen. 1930 verlor er alles, was er sich erarbeitet hatte.
Koljas Vater wurde zum »Klassenfeind« erklärt
»Kulak« – dieses abwertende Wort rief man in der Sowjetunion wohlhabenden Bauern und ihren Angehörigen hinterher. Unter Staatsoberhaupt Josef Stalin verschärfte sich die politische Ansicht, dass ein Mensch nicht für sich allein, sondern zum Wohle der Gesellschaft und des Staates arbeiten solle.
Die Reichen sollten die Armen nicht mehr ausbeuten können. Daher sollten die großen Gegensätze zwischen Armen und Reichen aufgehoben werden. Reich sollten sowjetische Bürger/-innen nicht sein. 1929 ließ Josef Stalin deshalb alle Großgrundbesitzer/-innen zu »feindlichen Klassenelementen« erklären. Auch Koljas Vater war als Kaufmann mit Grundbesitz nun ein »Klassenfeind«.
In den folgenden Jahren, von 1929 bis 1933, fand die sogenannte Entkulakisierung statt. Unter Gewaltanwendung vertrieb die sowjetische Geheimpolizei wohlhabende Familien aus ihren Häusern. Gutsbesitzer/-innen wurden verhaftet und ihr Land ging in den Besitz des Staates über. Die Beschlagnahmung von Saatgut, Viehbeständen und Getreidevorräten führte später zu Hungersnöten. Familien, die sich weigerten, ihren Besitz aufzugeben, wurden in Arbeits- und Straflager geschickt oder sogar hingerichtet.
Das geschah mit Koljas Vater
Der Vater von Kolja, Alexander Naumow, war für seine Wohltätigkeit bekannt. So finanzierte er zum Beispiel den Bau eines Krankenhauses und unterstützte arme Menschen und Brandgeschädigte.
Nachdem er 1930 enteignet worden war, musste er schwere Zwangsarbeit beim Bau des über 200 Kilometer langen Weißmeer-Ostsee-Kanals leisten. Das war ein künstlicher Kanal, der Leningrad (heißt heute Sankt Petersburg) und das Weißmeer im Norden Russlands verband. Mindestens 170.000 politische Häftlinge waren dort eingesetzt, etwa 25.000 von ihnen überlebten die schwere Zwangsarbeit nicht.
Fünf Jahre später kehrte Koljas Vater nach Kirschatsch zurück, fand als »Klassenfeind« jedoch kaum Arbeit. Schwer krank und verzweifelt schrieb er einen Brief an Josef Stalin, in dem er seine Situation erklärte: Er wollte und konnte arbeiten, aber niemand wollte ihn einstellen. Schließlich kam aus Moskau der Befehl, ihn als Lagerhalter in einer Weberei einzustellen. Dort arbeitete Koljas Vater bis zu seinem Tod im Jahr 1940.
Kolja wollte doch gar nicht Schlosser werden
Kolja träumte eigentlich davon, Offizier zu werden. Doch Kinder, deren Eltern als »Klassenfeinde« enteignet worden waren, durften nicht studieren. Sie durften sich nur in Fabriken und Betrieben ausbilden lassen. Obwohl er keine Lust dazu hatte, entschied sich Kolja schließlich, Schlosser zu werden.
Nach seinem Schulabschluss im Oktober 1937 begann er eine Ausbildung beim Betrieb Roter Oktober in seiner Heimatstadt Kirschatsch. Roter Oktober war ein Industriebetrieb, der Auto- und Traktorenlichttechnik produzierte. Ende März 1939 schloss Kolja seine Ausbildung erfolgreich ab und arbeitete anschließend etwa eineinhalb Jahre in dem Betrieb weiter.
Doch eines Tages, im Oktober 1940, erfüllte sich sein Traum doch noch: Kolja musste in diesem Jahr seinen Pflichtwehrdienst in der Armee ableisten.
Drei Jahre lang hatte Kolja warten müssen, nun war es endlich soweit: Er wurde im Oktober 1940 in die Armee der Sowjetunion einberufen. Und nicht nur das: Er durfte jetzt sogar an einer Militärschule studieren, was ihm vorher verwehrt geblieben war. Kolja zögerte nicht lange. Bereits im Januar 1941 war er Offiziersschüler. Endlich ging sein Traum in Erfüllung.
Kolja diente im belarussischen Wizebsk in einem Fernmeldebataillon. Das bedeutet, er war für die Nachrichtenübermittlung innerhalb der Truppe zuständig. Die ganze Familie freute sich, dass Kolja endlich das tun durfte, was er wollte.
Am 22. Juni 1941 griff die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion an. Kolja und die anderen Soldaten im belarussischen Wizebsk befanden sich plötzlich in Frontnähe. Sie waren auch mit die ersten, die an der Front kämpfen sollten. Kurz darauf wurde Koljas Militäreinheit in Richtung Minsk geschickt. Wahrscheinlich sollten die Soldaten bei der Verteidigung der belarussischen Hauptstadt helfen. Doch sie kamen zu spät: Minsk war bereits sechs Tage nach Kriegsausbruch von deutschen Truppen erobert worden.
Kurz darauf, am 2. Juli 1941, geriet Kolja in deutsche Gefangenschaft und kam in ein Kriegsgefangenenlager. Nun schwebte er in Lebensgefahr, denn die deutsche Propaganda bezeichnete sowjetische Kriegsgefangene als »slawische Untermenschen« und »rassisch minderwertig«.
Was hätte Kolja als Kriegsgefangener für Rechte gehabt?
1929 wurde in Genf ein Abkommen unterzeichnet, die »Zweite Genfer Konvention«. Die unterzeichnenden Länder verpflichteten sich darin, im Falle eines Krieges mit Kriegsgefangenen anständig umzugehen. Laut Abkommen war es verboten, gefangene Soldaten der gegnerischen Seite zu »unzuträglichen und gefährlichen Arbeiten zu verwenden«. Das bedeutet: Kriegsgefangene sollten keine schwere Zwangsarbeit leisten und schon gar nicht, wenn diese den Kriegszwecken des Feindes diente. Zudem hatten die Kriegsgefangenen das Recht auf medizinische Versorgung und ausreichende Verpflegung.
Insgesamt gerieten von 1941 bis 1945 mehr als fünf Millionen sowjetische Militärangehörige in deutsche Gefangenschaft. Etwa drei Millionen von ihnen überlebten nicht. Fehlende medizinische Versorgung, Unterernährung und Krankheiten verursachten ein Massensterben.
Die überlebenden Kriegsgefangenen mussten ab 1942 Zwangsarbeit in deutschen Industrie- und Rüstungsbetrieben oder im Bergbau leisten. Ihre Arbeitskraft sollte die im Krieg stehenden deutschen Männer ersetzen. Zehntausende Kriegsgefangene wurden jedoch auch in deutschen Konzentrationslagern erschossen. Mit all diesen Maßnahmen verstieß die deutsche Reichsführung also gegen bestehendes Völkerrecht.
Ein Zettel wie dieser bestätigte: Kolja war offiziell »verschollen«
Kolja geriet bereits zehn Tage nach Kriegsausbruch in deutsche Gefangenschaft. Im Dezember 1941 bekam seine Familie eine Benachrichtigung mit folgendem Text:
»Naumow Nikolaj Alexandrowitsch, geboren in Kirschatsch, Gebiet Iwanowo, im Kampf für die sozialistische Heimat, dem Militäreid treu geblieben, zeigte Heroismus und Mut, ist seit Dezember 1941 verschollen«.
Mehr erfuhren Koljas Verwandten nicht, und auch das angegebene Datum auf dem Zettel war falsch. Koljas Mutter und seine Schwestern starben, ohne je wieder etwas von ihm gehört zu haben.
Auch Koljas bester Freund geriet 1941 in Gefangenschaft
Kolja kannte seinen besten Freund seit der Kindheit, denn er war sein Nachbar. Die Jungen trugen denselben Namen, Nikolaj, sie wurden beide Kolja gerufen und waren im selben Jahr (1920) geboren worden. Als der Krieg begann, wurde auch Koljas bester Freund Kolja Kossolapow in die Armee einberufen. Er diente als Schütze in der Nähe von Murmansk, einer Stadt im Norden Russlands: Seine Militäreinheit wurde bei der Verteidigung des Polargebietes eingesetzt.
In der Nähe der russisch-finnischen Grenze geriet Nikolaj Kossolapow am 1. September 1941 in Kriegsgefangenschaft und verbrachte drei Jahre als Zwangsarbeiter im deutsch besetzten Norwegen. Insgesamt mussten dort etwa tausend sowjetische Kriegsgefangene Zwangsarbeit leisten. Koljas bester Freund hatte Glück im Unglück: Er wurde 1944 befreit und konnte in seine Heimatstadt Kirschatsch zurückkehren.
Nummer 114406. Auf dem Foto kann man deutlich erkennen, was Kolja davon hielt, in deutscher Kriegsgefangenschaft zu sein und eine Nummer zu bekommen. Finster blickt er in die Kamera, als wolle er den Fotografen am liebsten verprügeln.
Etwa einen Monat nach seiner Gefangennahme bei Minsk, am 11. August 1941, war Kolja in einem deutschen Kriegsgefangenenlager eingetroffen. Im Stammlager (Stalag) IV B Mühlberg wurde auch eine Personalkarte für ihn ausgefüllt. Koljas persönliche Daten, der Ort seiner Gefangennahme und sein Gesundheitszustand wurden vermerkt. Außerdem wurde ein Fingerabdruck von ihm genommen. Was Kolja dachte und fühlte, weiß niemand.
Kolja war jung, kräftig und bei guter Gesundheit. Wie viele andere sowjetische Kriegsgefangene musste er daher körperliche Schwerstarbeiten verrichten. Ein halbes Jahr war Kolja als Zwangsarbeiter im Kommando Oschatz eingesetzt. Was genau er dort machen musste, ist nicht bekannt. Vielleicht in einem Steinbruch arbeiten, vielleicht Straßen bauen, vielleicht auch viele Stunden täglich an einem Fließband stehen.
Im Februar 1942 wurde Kolja in das Kommando Leipzig-Ost versetzt. Von nun an sollte er bei den Mitteldeutschen Motorenwerken arbeiten. Dieser Betrieb stellte verschiedene Typen von Flugmotoren her, die später in Flugzeuge eingebaut wurden. Und diese Flugzeuge wiederum wurden von der deutschen Luftwaffe benutzt, um andere Länder anzugreifen.
Koljas gesamtes Leben passte auf ein Blatt Papier
Die Personalkarte, die wir hier sehen, ist teilweise auf Deutsch und teilweise in russischer Sprache ausgefüllt. Wahrscheinlich musste Kolja das Blatt Papier selber beschriften, obwohl er gar kein Deutsch konnte und normalerweise in kyrillischen Buchstaben schieb. Das würde auch die ungelenke Schrift und die Rechtschreibfehler erklären.
Kolja schrieb, dass er am 7. November 1920 in Kirschatsch geboren wurde und dem christlichen, russisch-orthodoxen Glauben angehörte. Er war 178 Zentimeter groß und blond. Als zu benachrichtigende Person gab Kolja den Namen seiner Mutter – Glafira Alexandrowna Naumowa – und ihre Adresse in Kirschatsch an. Anschließend wurde die Personalkarte mit Koljas Fingerabdruck, seiner Lagernummer und einem Foto von ihm versehen.
Impfungen und medizinische Behandlungen im Lager wurden auf der Rückseite der Personalkarte vermerkt. So ist zum Beispiel zu lesen, dass Kolja nur eine Woche im Kriegsgefangenenlager (Stalag IV B Mühlberg) blieb und gegen Pocken geimpft wurde.
Kolja war einer von hunderttausenden Kriegsgefangenen, die ausgebeutet wurden
Mühlberg diente, wie andere Stammlager auch, als Durchgangsstation. Von dort aus wurden die Kriegsgefangenen auf unterschiedliche Industriebetriebe und Außenkommandos verteilt. Dort mussten sie Zwangsarbeit leisten und Güter für den deutschen Krieg produzieren. Sie waren sehr günstige Arbeitskräfte und ersetzten die deutschen Arbeiter, die als Soldaten im Krieg waren. So konnte die deutsche Industrie weiter funktionieren.
Aufgrund eines weit verbreiteten antislawischen Rassismus waren die sowjetischen Kriegsgefangenen unter besonders menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht. Weder bekamen sie Geld für ihre Arbeit noch wurden sie ausreichend verpflegt. Viele starben an Entkräftung und an Unterernährung. Insgesamt kamen im Kriegsgefangenenlager Mühlberg etwa 3.000 ausländische Soldaten ums Leben, 2.350 von ihnen stammten aus der Sowjetunion. Die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden meist in Massengräbern, die Angehörigen anderer Nationen in Einzelgräbern bestattet. Am 23. April 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee das Lager.
Nach dem Krieg richtete die sowjetische Verwaltung auf dem Gelände das Speziallager Nr. 1 Mühlberg ein, das bis 1948 bestand. Der sowjetische Geheimdienst NKWD internierte dort vor allem mutmaßliche Kriegsverbrecher, Mitglieder der NSDAP sowie ehemalige Offiziere der Wehrmacht. Jedoch wurden dort auch viele Deutsche inhaftiert, gegen die es keinen spezifischen Vorwurf gab oder deren Vorwurf nicht erwiesen war.
Von den insgesamt 21.000 Insassen starben ungefähr 6.300 aufgrund der katastrophalen Versorgung, an Hunger und Krankheiten. Dies lag zum einen an dem allgemeinen Mangel nach Kriegsende, zum anderen aber auch an der schlechten Behandlung. Es gab jedoch keine Zwangsarbeit und Morde an Gefangenen.
Hier findest du noch mehr Informationen zu Mühlberg: http://www.lager-muehlberg.de.
Kolja musste mit seiner Arbeit den Krieg der Deutschen unterstützen
Ab Februar 1942 arbeitete Kolja über ein Jahr lang bei den Mitteldeutschen Motorenwerken in der Nähe von Leipzig. Der Großbetrieb stellte seit 1937 Motoren für Kampfflugzeuge der Marke Junkers her. Während des Zweiten Weltkrieges beschäftigten die Werke mehr als 10.000 Arbeiter/-innen, darunter massenhaft Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter/-innen aus den besetzten Gebieten Europas.
1944 wurden die Fabriken durch Bombenangriffe so stark beschädigt, dass dort nicht mehr gearbeitet werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt war Kolja bereits seit einem Jahr tot.
Erst wenige Monate arbeitete Kolja in den Mitteldeutschen Motorenwerken, da erkrankte er plötzlich schwer. Er bekam immer schlechter Luft, jede Bewegung verursachte Atemnot. Eine Lungenerkrankung?
Auf Koljas Personalkarte ist vermerkt, dass seine Lunge am 6. Juli 1942 geröntgt wurde. Wie diese Untersuchung ausging, ist nicht bekannt. Es lässt sich aber vermuten, dass Kolja an Tuberkulose litt. Das war eine unter Kriegsgefangenen weit verbreitete Krankheit, die oft tödlich endete.
Offensichtlich befanden die Ärzte jedoch, dass Kolja gesund genug war, um als »arbeitsfähig« zu gelten. Erst ein Dreivierteljahr später, am 24. März 1943 wurde er endgültig in das Kriegsgefangenenlazarett Zeithain eingeliefert. Wahrscheinlich hatte sich seine Lungenkrankheit derartig verschlechtert, dass er nun überhaupt nicht mehr in der Lage war zu arbeiten. Oder hatte er sich bei der Arbeit an den Maschinen verletzt?
Koljas Einlieferung in das Krankenhaus kam einem Todesurteil gleich: Aufgrund dauerhafter Unterernährung, mangelhafter medizinischer Betreuung und ansteckender Krankheiten war die Sterblichkeit unter den Gefangenen sehr hoch. Schwer kranke Kriegsgefangene kamen nicht ins Lazarett, um dort versorgt und geheilt zu werden: Sie wurden dorthin verlegt, um zu sterben.
Auch Kolja verließ das Krankenhaus nicht mehr. Er starb genau fünf Monate nach seiner Einlieferung, am 24. August 1943. Seine genaue Todesursache ist nicht bekannt. Einen Tag später wurde der 22-Jährige in einem Massengrab beerdigt.
An was für einem Ort war Kolja in seinen letzten Lebensmonaten?
Zeithain ist ein kleiner Ort in Sachsen. In den 1930er Jahren gab es dort einen Übungsplatz für deutsche Soldaten. Doch bereits im April 1941, noch vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, wurde das Gelände mit Stacheldraht abgesperrt. Das Oberkommando der Wehrmacht suchte einen Ort, an dem man sowjetische Kriegsgefangene unterbringen wollte.
Als im Juli die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen ankamen, war im Lager noch keine einzige fertig gestellte Baracke. Ohne Schutz vor Regen oder Sonne mussten sie im Freien schlafen und den Aufbau selbst übernehmen. Zunächst sollten aber feste Unterkünfte für die Wachmannschaften errichtet werden. Erst im September 1941 durften die Kriegsgefangenen Baracken für sich selbst aufstellen. Nach über einem Jahr, Ende 1942, war der Aufbau des Lagers Zeithain (Stalag IV H) schließlich beendet.
In Zeithain wurden neuankommende Kriegsgefangene in Gruppen aufgeteilt: Arbeitsunfähige blieben im Lager, die anderen wurden auf Arbeitskommandos verteilt. Im Februar 1943 wurde das gesamte Kriegsgefangenenlager Zeithain in ein Lazarett umgewandelt. Sowjetische Zwangsarbeiter, die sich verletzt hatten oder schwer erkrankt waren, wurden dorthin gebracht. So wie Kolja im März 1943.
Das Kriegsgefangenenlazarett Zeithain galt als Sterbelager
Zeithain war für viele sowjetische Kriegsgefangene die letzte Station vor ihrem Tod. Wer in Arbeitskommandos verunglückte oder schwer erkrankte, gelangte dorthin. Meist waren die Menschen dann schon völlig unterernährt, die schwere Zwangsarbeit hatte ihnen alle Kräfte geraubt.
Dies führte dazu, dass sich die Lungenkrankheit Tuberkulose immer weiter ausbreitete. Die Zahl der Erkrankten stieg an. Täglich starben etwa zehn bis zwanzig Gefangene. Kolja war laut Eintrag auf seiner Personalkarte der 18.868ste Tote im Lager Zeithain. Insgesamt kamen dort etwa 30.000 Menschen ums Leben. Als das Lager am 23. April 1945 von der Roten Armee befreit wurde, hörte das Sterben nicht auf: Noch Wochen danach starben befreite Gefangene an den Folgen ihrer Internierung.
Ein unbekannter Onkel
Koljas Nichten Irina und Natalja hatten ihren Onkel nie gesehen. Sie kannten ihn nur aus den Erzählungen ihrer Mutter. Auch Koljas bester Freund Kolja sprach ständig von ihm. Alle hofften, er würde eines Tages doch noch in die Sowjetunion zurückkehren. Doch vergeblich. Die Jahre zogen ins Land und die Nachforschungen verliefen im Sande. Kolja blieb verschollen.
Schließlich starben Koljas Mutter und seine beiden Schwestern. Sie hatten nie in Erfahrung bringen können, was mit dem jungen Soldaten nach seiner Gefangennahme passiert war.
Doch Irina und Natalja gaben nicht auf. Eines Tages, über sechzig Jahre nach Koljas Verschwinden, gelangten die Nichten im Internet auf die richtige Spur. Im Jahr 2006 fanden sie in einer Datenbank Koljas Namen. Nun hatten sie endlich Gewissheit: Ihr Onkel war in einem deutschen Kriegsgefangenenlazarett gestorben.
Irina und Natalja hielt nichts mehr: Sie wollten unbedingt mehr herausfinden. Die beiden alten Damen beschlossen, nach Deutschland zu reisen und Koljas Grab zu suchen. Im Gepäck hatten sie ein Fotoalbum mit Bildern von Kolja aus der Zeit vor dem Krieg.
Das Fotoalbum barg einen kleinen Schatz
Irina und Natalja trafen sich 2010 mit Mitarbeitenden der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain in Sachsen. In diesem Jahr wäre Kolja neunzig Jahre alt geworden. Die Mitarbeitenden erzählten ihnen, dass Kolja am 24. August 1943 im Lazarett gestorben war, wahrscheinlich an einer Lungenerkrankung.
Zwar hatten die Nichten ihren Onkel nie gesehen, doch sie konnten einiges über ihn erzählen. So geschah etwas sehr Seltenes: Wichtige Einzelheiten aus dem Leben eines der 30.000 in Zeithain verstorbenen Kriegsgefangenen wurden bekannt. Und nicht nur das: Irina und Natalja hinterließen der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain sogar das Fotoalbum mit den Familienfotos. Auf einem der Fotos ist Koljas bester Freund zu sehen, der ein hohes Alter erreichte.
Auf die Rückseite schrieben die Nichten eine Nachricht an ihren verstorbenen Onkel:
»Kolja, das ist dein Freund, Kolja Kossolapow. Er überlebte die dreijährige faschistische Gefangenschaft. Hier ist er 88 Jahre alt. Am 3. Mai 2010 feierten wir seinen 90. Geburtstag. Wir erinnerten uns gemeinsam an dich. Wenn es keinen Krieg gegeben hätte, vielleicht hättest du diesen Geburtstag ebenfalls feiern können. […] Deine Nichten Irina und Natalja«
Wo liegt Kolja begraben?
Kolja wurde einen Tag nach seinem Tod, am 25. August 1943, auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Zeithain begraben. Auf seiner Personalkarte wurden genaue Angaben zur Grablage vermerkt: Parzelle 58, Block I, Reihe 10. Der genaue Ort, an dem Kolja begraben liegt, ist heute trotzdem nicht mehr festzustellen: Die entsprechenden Friedhofspläne sind nicht mehr vorhanden. Dass es überhaupt Angaben zu Koljas Tod gibt, ist bereits ein kleines Wunder. In vielen Fällen starben sowjetische Kriegsgefangene oder sie wurden ermordet, ohne dass man sich die Mühe machte, Details aufzuschreiben. So erfuhren Koljas Nichten wenigstens den Zeitpunkt seines Todes und den ungefähren Ort seines Grabes.
Dieses Portal bewacht die Ruhe von tausenden von Toten
1946 beschloss die Sowjetische Militärverwaltung, zum Gedenken an die Opfer einen provisorischen Friedhof anzulegen. Seit 1948/49 gibt es das große Eingangstor, das auf dem Foto abgebildet ist. Es bildet den Eingang zum Ehrenhain. Im Jahr 1985 errichtete die DDR-Regierung auf dem Friedhof Ehrenhain Zeithain eine Gedenkstätte.
Im Jahr 2000 begann ein Projekt zur Digitalisierung von Personalunterlagen sowjetischer Kriegsgefangener. So entstand das Totenbuch, in dem Irina und Natalja den Namen ihres Onkels Kolja fanden.