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23. August 1921Geburt
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15. März 1939Einmarsch der Wehrmacht
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2. Juli 1942Theresienstadt
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Juli 1944Zwangsarbeit
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17. April 1945Tod
Nina Müller wurde 1921 in Prag, der Hauptstadt der jungen Tschechoslowakei, geboren. Sie wuchs als ältere von zwei Töchtern jüdischer Eltern auf. Ihre Mutter Margarethe wurde im böhmischen Wischerowitz (Vyšehořovice) geboren – ein kleiner Ort, der damals noch zur Österreich-Ungarischen Doppelmonarchie gehörte. Ihr Vater Karl Müller führte eine eigene Anwaltskanzlei. Melitta, ihre Schwester, kam 1927 zur Welt.
Die Familie führte ein Leben im Wohlstand, in ihrem Haushalt arbeiteten eine Gouvernante, eine Köchin und ein Stubenmädchen. Die Kinder sprachen fließend Deutsch und Tschechisch, auch das Englische erlernten sie früh. Im Sommer 1937 besuchte Nina einen Ferienkursus in Großbritannien, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern.
»Ich wurde in eine sehr nette, gute Familie geboren. […] Wir sind im Urlaub Ski gefahren, haben Tennis gespielt und sind schwimmen und zur Gymnastik gegangen.«
Am 14. März 1939 erklärte sich die Slowakei für unabhängig, einen Tag später marschierte die deutsche Wehrmacht in die sogenannte Rest-Tschechei ein. Die tschechische Regierung stand nun unter deutscher Kontrolle. Für Ninas Familie bedeutete das weitreichende Einschränkungen ihres alltäglichen Lebens.
»Sudetenkrise« und Zerstörung der Tschechoslowakei
1938 lebten etwa drei Millionen Sudetendeutsche in der Tschechoslowakei. Hitler forderte die Abtretung jener Grenzgebiete, in denen mehrheitlich Deutsche lebten (Sudetenland), und drohte immer wieder mit militärischer Gewalt.
Am 29. September 1938 trafen sich die Staats- und Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs und Italiens mit Adolf Hitler, um über den Umgang mit der sogenannten Sudetenkrise zu beraten. Die Sowjetunion oder die Tschechoslowakei waren nicht geladen.
Noch in dieser Nacht unterzeichneten die Staatschefs das Münchner Abkommen, in dem die Abtretung des Sudetengebiets an das Deutsche Reich festgelegt wurde. Im Gegenzug sicherte der Vertrag den Bestand des tschechoslowakischen Reststaats. Großbritanniens Premierminister Neville Chamberlain erhoffte sich, durch diese Appeasement-Politik den Frieden in Europa sichern zu können.
Am Morgen des 15. März 1939 – einen Tag nach der Unabhängigkeitserklärung der Slowakei – marschierte die deutsche Wehrmacht in die »Rest-Tschechei«, ein und entwaffnete die dortige Armee. Die Besetzung bedeutete den Bruch des Münchner Abkommens und markierte zugleich das Scheitern der britischen Außenpolitik.
Das Gebiet wurde fortan als deutsches »Protektorat Böhmen und Mähren« bezeichnet.
Ninas Vater Karl musste seine Anwaltskanzlei räumen und an einen »arischen« Nachfolger übergeben. Weil das Geld knapp wurde, kündigte die Familie ihr Personal und zog in eine kleinere Wohnung, die sie sich mit einer zweiten Familie teilte.
Nach ihrem Abitur durfte Nina nicht Chemie studieren. Sie arbeitete fortan als Kosmetikerin in einem Salon, bis sie auch dort eines Tages »unerwünscht« war.
Das öffentliche Leben tschechischer Jüdinnen und Juden wurde unter deutscher Herrschaft immer mehr eingeschränkt. Sie durften keine Konzerte, Kinos oder Theater besuchen, das Betreten öffentlicher Parkanlagen und nahe gelegener Wälder wurde verboten. Bald darauf beschlagnahmten die Behörden persönliche Wertgegenstände.
Die Pässe der Familie wurden mit einem »J« versehen, ab September 1941 mussten Jüdinnen und Juden ihre Kleidung sichtbar mit dem »Gelben Stern« kennzeichnen.
»Wir hatten Gold, Schmuck, Pelze, Radio und Grammofon abzugeben und den gelben Judenstern auf der linken Seite zu tragen. Vater hat gesagt, ›wenn du den nicht trägst, werden wir alle erschossen‹.«
Am Vormittag des 27. Mai 1942 verübten tschechische Widerstandskämpfer einen Mordanschlag auf Reinhard Heydrich, den Chef des Reichsicherheitshauptamtes und stellvertretenden Reichsprotektor in Böhmen und Mähren. An diesem Tag durchsuchten SS-Männer Wohnungen von Prager Jüdinnen und Juden.
»Die SS-Männer schrien ›Sau-Juden!‹ und Schlimmeres. Mein Vater hat nicht gedacht, dass er von Deutschen jemals so behandelt wird«
Attentat auf Reinhard Heydrich
Reinhard Heydrich trat im Juli 1931 der NSDAP bei. 1939 wurde er Chef des neu geschaffenen Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), einer organisatorischen Zusammenfassung von Gestapo, Kriminalpolizei und Sicherheitsdienst (SD) der SS.
Unter der Leitung Heydrichs war das RSHA ab Sommer 1941 für die Durchführung des Völkermords an den europäischen Juden verantwortlich. Im Januar 1942 lud Heydrich zur Wannseekonferenz ein.
Am Vormittag des 27. Mai 1942 verübten zwei tschechische Widerstandskämpfer einen Anschlag auf Heydrichs Cabriolet. Heydrich starb acht Tage später an dessen Folgen. Kurz darauf führte die SS »Vergeltungsaktionen« durch, beispielsweise das Massaker in dem kleinen tschechischen Dorf Lidice.
Der Mord an Reinhard Heydrich blieb der einzige erfolgreiche Anschlag auf ein Mitglied der Führung in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Am 2. Juni 1942 wurde Nina mit ihrer Familie, wie viele andere Jüdinnen und Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, nach Theresienstadt deportiert.
Konzentrationslager Theresienstadt
Theresienstadt war zwischen 1941 und 1945 Teil des nationalsozialistischen Zwangslagersystems. Der Ort diente als Durchgangslager für Jüdinnen und Juden, bevor sie weiter in die Vernichtungslager deportiert wurden. Die Lebensbedingungen waren von Kälte, Krankheiten, überfüllten Unterkünften und dem Mangel an Nahrungsmitteln und Medikamenten geprägt. Das führte zu hohen Todeszahlen. Von den 141.000 Häftlingen starben etwa 33.000 in Theresienstadt. Die Mehrheit der anderen wurde weiter in die Vernichtungslager verschleppt. Nur 4.000 überlebten.
In der ehemaligen Garnisonsstadt musste die Familie in einer verfallenen Kaserne leben. Sie hungerte, weil sie nicht genug zu essen erhielt und musste hart arbeiten, unter anderem in Holzwerkstätten und in der Landwirtschaft. Nina wurde oft krank.
»Morgens gab es so etwas, was Kaffee sein sollte, mittags Rübensuppe und abends ein Stück Brot mit Margarine.«
Am 18. Dezember 1943 wurde die gesamte Familie in das Konzentrationslager Auschwitz abtransportiert.
»Wir mussten in Auschwitz das gestreifte Zeugs anziehen, und auf unseren Mänteln war auf dem Rücken ein rotes Kreuz. Nach einer Dusche wurden wir kahl geschoren, das war als Frau schrecklich demütigend. Danach wurden wir tätowiert. Ich trage noch immer die Nummer 73183.«
In Auschwitz starb Ninas Vater zwei Monate nach seiner Einlieferung an einer Lungenentzündung.
Nina, ihre Mutter Margarethe und ihre Schwester wurden im Konzentrationslager Auschwitz für arbeitsfähig erklärt und hatten daher eine Überlebenschance.
Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz
Der Lagerkomplex Auschwitz, der aus dem Stammlager, Birkenau und Monowitz sowie nahezu 50 Außenkommandos bestand, ist zu einem Symbol für den Holocaust geworden.
Nach der Ankunft in Birkenau erfolgte eine »Selektion«. Ein Arzt der SS teilte die Häftlinge in »arbeitsfähig« und »nicht arbeitsfähig« ein. Gefangene, die als »nicht arbeitsfähig« galten, zuvorderst Frauen, Kinder und ältere Menschen, wurden unmittelbar danach in Gaskammern erstickt.
In dem zwischen 1940 und 1945 betriebenen Lagerkomplex ermordete die SS etwa 1,3 Millionen Menschen – darunter 980.000 Jüdinnen und Juden aus ganz Europa.
Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee den geräumten Lagerkomplex. Seit 1996 wird an diesem Tag in Deutschland allers Opfer des Nationalsozialismus gedacht.
Nina, ihre Mutter Margarethe und ihre Schwester Melitta wurden im Juli 1944 an das Dessauer Ufer im Hamburger Hafen, einem Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme, verlegt. Hier mussten sie Aufräumarbeiten leisten.
Aufgrund der schweren Arbeitsbedingungen zog sich die Mutter eine Blutvergiftung zu, die zu spät behandelt wurde. Sie starb noch im Monat ihrer Ankunft.
Nina und Melitta wurden zwei Monate später nach Neugraben, ein weiteres Außenlager von Neuengamme, verlegt. Hier mussten sie Fertigbauteile herstellen, die für die Errichtung der Plattenhaussiedlung Poppenbüttel benötigt wurden. Nach kurzer Zeit wurden die beiden Schwestern in ein weiteres Außenlager von Neuengamme, nach Tiefstack, verlegt.
Bei einem Bombenangriff der Alliierten am 20. März 1945 wurde Nina schwer verletzt.
Als die Räumung der verschiedenen Außenlager von Neuengamme 1945 bevorstand, wurden Nina und Melitta in das Konzentrationsalger Bergen-Belsen verschleppt. Hier erlag Nina am 17. April 1945 ihren Verletzungen. Zwei Tage zuvor hatte die britische Armee das Lager befreit.
Melitta kehrte als Waise in die Tschechoslowakei zurück, wanderte Ende der 1960er-Jahre jedoch in die Vereinigten Staaten aus.
2011 wurde am Falkenbergsweg, dem Standort des ehemaligen Außenlagers Neugraben, ein Stolperstein für Nina verlegt. Außerdem erhielt in derselben Gegend, dem Hamburger Bezirk Süderelbe, ein Weg den Namen Nina Müllers.
Melitta verstarb Ende 2021. Bis zuletzt reiste sie nach Deutschland, um Schulklassen über die Erlebnisse in ihrer Jugend zu berichten und so auch die Erinnerung an ihre Schwester Nina wachzuhalten.