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1. Februar 1928Geburt
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Oktober 1942Theresienstadt
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28. September 1944Auschwitz
Petr ging gern in die Synagoge, nur nicht besonders oft. Manchmal begleitete er seine Großmutter, aber auch nur an hohen jüdischen Feiertagen. In Petrs Familie war es Tradition, zwei- bis dreimal im Jahr zum Gottesdienst zu gehen.
Nach den Regeln des Judentums galten Petr und seine Schwester Eva gar nicht als jüdisch. Denn traditionell wird die jüdische Identität von der Mutter und nicht vom Vater an die Kinder weitergegeben. Petrs Mutter aber war christlich und lernte erst nach und nach, wie man einen jüdischen Haushalt führt.
Das machte jedoch niemandem etwas aus. Die Familie lebte, wie viele andere, sowieso nicht besonders streng nach den Glaubensregeln.
Petr und seine zwei Jahre jüngere Schwester Eva wuchsen liebevoll behütet heran. Ihr Vater war Geschäftsmann in einem Textilunternehmen. Die Familie lebte in Prag, der Hauptstadt der heutigen Tschechischen Republik. Ihre Kindheit war schön und friedlich.
Bis die Nationalsozialisten Petrs Heimatland besetzten. Sie sahen das Judentum als »Rasse« an, nicht als Religion. »Menschenrassen« gibt es selbstverständlich nicht. In der Vorstellung der Nationalsozialisten war »jüdisch sein« damit jedoch genetisch vererbbar. Menschen mit einem jüdischen Elternteil, so wie Petr und seine Schwester Eva, wurden von ihnen als »Mischlinge« oder »halbjüdisch« bezeichnet. Eine Kategorie, die im Judentum nicht existiert.
Nun änderte sich für die kleine Familie alles.
Eine seltsame Sprache brachte Petrs Eltern zusammen
Petrs Eltern lernten sich auf einer Konferenz kennen. Beide interessierten sich sehr für die Sprache Esperanto. Das ist eine künstlich geschaffene Sprache mit vereinfachter Grammatik. Mit Hilfe von Esperanto sollten sich die Menschen überall auf der Welt verständigen können. Marie und Ota verliebten sich und heirateten am 8. März 1927.
»Unsere Eltern waren fortschrittliche Menschen, sie achteten auf gute Bildung und gesunde Ernährung. Wir alle trieben viel Sport, fuhren im Winter Ski und liefen Schlittschuh, im Sommer gingen wir schwimmen und wandern, insbesondere in den Ferien. […] Mutter liebte Musik, sie hatte eine wunderschöne Stimme, und als wir klein waren, sang sie gerne Arien aus Opern und Operetten.«
Petr lebte in der »Goldenen Stadt«
In Prag wurde neben Tschechisch auch viel Deutsch gesprochen. Die Stadt an der Moldau war schon immer ein beliebtes Ziel für Tourist/-innen. Die engen Gassen der Altstadt inspirierten Künstler/-innen, Maler/-innen und Musiker/-innen. Auch Petr liebte seine Heimatstadt, widmete ihr Gedichte und zeichnete die Dächer der Stadt.
Schon seit dem zehnten Jahrhundert wohnten Juden und Jüdinnen in Prag. Obwohl sie im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Verfolgungen ausgesetzt waren, bildete sich eine große, blühende jüdische Gemeinde heraus. Prag war ein Zentrum der Gelehrsamkeit, viele bedeutende Rabbiner unterrichteten dort.
Im Jahr 1935 lebten etwa 35.000 Juden und Jüdinnen in Prag. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt dieselben Rechte wie die nichtjüdische Bevölkerung.
Heute ist Prag die Hauptstadt der Tschechischen Republik. Sie wird aufgrund ihrer Schönheit auch die »Goldene Stadt« genannt. Das historische Zentrum zählt seit 1992 zum Weltkulturerbe der UNESCO. Beliebte Ausflugsziele und Fotomotive sind die Karlsbrücke (auf der Postkarte zu sehen), der Wenzelsplatz und der Stadtteil Hradschin mit der Prager Burg. All diese Orte erwähnte Petr schon in seinen Tagebüchern.
Schon früh begann Petr zu zeichnen
Petrs Mutter Marie erinnerte sich, dass ihr Sohn schon früh anfing zu zeichnen und zu schreiben.
»Petr war ein leidenschaftlicher Leser. Damals fesselte ihn vor allem Jules Verne, und er begann auch selbst zu schreiben. Zuerst waren es naive Kindergeschichten, zu denen er gleich auch Illustrationen zeichnete. Darin ahmte ihn auch Eva nach, die in ihm stets ihr Vorbild sah, und so begann auch sie zu schreiben. […]
Petr fand Gefallen an langen Spaziergängen, fuhr bis hinter Prag ins Šárka-Tal und wollte stets tunlichst allein sein. Was spann er bei diesen einsamen Ausflügen in seinem Kopf, in welcher erträumten Welt suchte er Zuflucht?«
Plötzlich hatte der Frieden ein Ende
»Nach dem Willen des Führers sind deutsche Truppen in Euer Land eingerückt«
Nicht einmal Hitlers Name musste noch erwähnt werden, denn Alle wussten wer »der Führer« war. Und es gab keine offizielle Kriegserklärung. Die besetzten Gebiete gehörten nun einfach zum sogenannten Großdeutschen Reich. Prag wurde zur Hauptstadt des neu geschaffenen »Protektorats Böhmen und Mähren«.
»Schutz der Bevölkerung«
Vor wem sollte die Bevölkerung denn beschützt werden? Es gab doch gar keinen Feind.
Das tschechische Gebiet sollte germanisiert werden. Viele Tschech/-innen wurden als billige Arbeitskräfte zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt. Widerstand wurde gewaltsam unterdrückt. Mit einer Reihe von antisemitischen Gesetzen wurde die jüdische Bevölkerung Prags völlig entrechtet. Darüber schrieb Petr viel in seinen Tagebüchern:
3. Mai 1942 (Sonntag)
»Nachmittags mit Papa und Eva in Maniny. Das ist jetzt fast der einzige Ort, wo die Juden noch spazieren gehen dürfen, daher ist es richtig voll dort […].«
Petr führte zwei Jahre lang Tagebuch. Er schrieb über die Schule, seine Familie und seine Freund/-innen. Petr liebte Science Fiction und dachte sich viele Geschichten aus. Er erfand Ungeheuer, die im Begriff waren, die Erde zu verschlingen, und er schickte seine Abenteuerheld/-innen auf eine Reise nach China oder sogar in einer einzigen Sekunde um die Welt. Er fing an, ganze Bücher zu schreiben. Sie trugen Titel wie »Das Geheimnis der Teufelgrotte« und »Besuch aus der Urzeit«.
Außerdem dachte sich Petr eine eigene Geheimschrift aus, weil niemand die besonders geheimen Stellen in seinen Tagebüchern lesen sollte. Nur seine kleine Schwester Eva konnte den Code entziffern. Sie sammelte auch Altpapier für ihn, um ihm zum Geburtstag eine Freude zu machen. Denn Papier war für Juden und Jüdinnen unter der deutschen Besatzung so gut wie unerreichbar.
Manchmal zählte Petr in seinen Tagebüchern auch einfach nur auf, was er als sogenannter »Halbjude« plötzlich alles nicht mehr durfte.
Wenn Petr gerade nicht mit Schreiben beschäftigt war, dann zeichnete und malte er, vor allem Blumen, Schiffe und Landschaften. Oft traf er sich mit Freund/-innen zum Spielen. Er war viel draußen, ging spazieren, rodeln oder Schlittschuh laufen - solange er noch durfte.
Was erlebte Petr in der Schule?
Diese Fahrkarte für die Straßenbahn brauchte Petr, um in die Schule zu kommen. Später benötigte er eine Sondergenehmigung, um überhaupt mit der Straßenbahn fahren zu dürfen. Petr war ein guter Schüler und sogar Klassensprecher. Er spielte seinen Lehrer/-innen und Mitschülern aber auch oft Streiche. Dafür musste er dann Strafarbeiten schreiben.
»27. Oktober 1941 (Montag)
Die Lauscherová hat uns fürs Dazwischenreden eine ordentliche Strafe verpasst: 25 deutsche Wörter deklinieren. […]
24. November 1941 (Montag)
Vormittags in der Schule.
In der Pause habe ich mit einem Stück Draht drei Vorturner im Umkleideraum eingesperrt.
4. März 1942 (Mittwoch)
Vormittags in der Schule. Wir haben einen Test in Musik geschrieben. Darauf war ich zwar nicht vorbereitet, habe aber geschickt alles abgeschrieben. […]
13. März 1942 (Freitag)
Vormittags in der Schule; es gab Zeugnisse, zweisprachig natürlich, auch die Zensuren sind auf Tschechisch und auf Deutsch. Bis auf eine Zwei in Ordnung, Rechnen, Erdkunde und Musik habe ich lauter Einsen.
18. Mai 1942 (Montag)
Muss nochmals die Karte des Großdeutschen Reichs zeichnen, auf der aus meinem Heft sah Mähren wie eine Wurst aus.«
Was machte Petr in seiner Freizeit?
Dies ist eine Zeichnung von Petr. Er hat den Schlachthof in Prag gezeichnet, einen Ort am Fluss Moldau, an dem er oft mit seinem besten Freund Harry Popper und anderen Freund/-innen spielte. Häufig erwähnt Petr dies in seinen Tagebüchern. Außerdem kaufte er Harry manchmal Bücher ab und besuchte ihn, wenn er krank war.
»6. Dezember 1941 (Samstag)
Vormittags mit Popper unten am Schlachthof, nachmittags bei Martin, wo wir Tischfußball gespielt haben. Habe Popper mit 12:1 geschlagen, Martin hat mich mit 4:3 geschlagen. […]
20. Dezember 1941 (Samstag)
Vormittags war ich bei Popper, er hat wieder etwas mit den Augen und darf nicht raus. […] Deswegen war ich bei ihm, wir haben verschiedene Spiele gespielt.
8. August 1942 (Samstag)
Am Schlachthof. Auf den Flößen gelegen, Sonne und Wasser genossen, es uns gut gehen lassen.«
Welche Rolle spielte Religion in Petrs Leben?
Petr und seine Familie waren nicht besonders religiös, aber die wichtigsten jüdischen Feiertage wurden trotzdem eingehalten. Manchmal ging Petr mit seiner Oma auch in die Synagoge.
»22. September 1941 (Montag)
Vormittags Oma »Schana tova« gewünscht, dann habe ich sie nach Smíchov in die Synagoge begleitet. Wegen Rosch ha-Schana keine Schule nachmittags. Wir sind alle zum Schlachthof und spielten bis zum Abend auf den Flößen.
1. Oktober 1941 (Mittwoch)
Den ganzen Tag Regen. Heute haben wir Jom Kippur, von Dienstagabend bis Mittwochabend habe ich gefastet. Dafür habe ich aber abends viel gegessen.
14. Dezember 1941 (Sonntag)
Heute ist der erste Chanukkatag, also bin ich zur Feier der Parallelklasse (IV.C) gegangen. Ich wurde als Klassenvorsteher der IV.B eingeladen. […] Herr Glanzberg musizierte auf der Geige, man sang und spielte Theater. […] Die Kinder haben sich gegenseitig etwa 200 Geschenke (zwei volle Wäschekörbe) geschenkt. […]«
»Vormittags Hausaufgaben. Ansonsten keine besonderen Vorkommnisse. Eigentlich passiert viel, aber man nimmt es kaum wahr.«
In seinen Tagebüchern hielt Petr alles fest, was um ihn herum geschah. In kurzen, stichwortartigen Sätzen erzählte er von der Schule, seinen Freund/-innen und Verwandten. Er listete die vielen Süßigkeiten auf, die er zum Geburtstag bekommen hatte. Er berichtete von seinem Zeugnis und von den Streichen, die er spielte.
Und nicht zuletzt schrieb Petr immer wieder von der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in seiner Heimatstadt Prag. Was war ihnen noch erlaubt und was war neuerdings verboten? Auf welchen Straßen durften sie noch laufen, welche Lebensmittel essen? Das zu wissen war wichtig, denn es betraf ihn ja selbst.
Petr erwähnte solche Dinge in seinen Tagebüchern ganz nebenbei:
»Kirschen werden nur an Deutsche verkauft. […] Die Juden werden wohl ihre Pullover abgeben müssen.«
Nach und nach musste Petr erleben, wie um ihn herum Menschen verschwanden: Im Oktober 1941 begannen Deportationen aus Prag in das besetzte Polen, einen Monat später in das nah gelegene Ghettolager Theresienstadt. Petr litt sehr. Seine Schulfreund/-innen, die Lehrer/-innen, Onkel, Tanten und seine geliebte Großmutter bestiegen Züge und kehrten nicht zurück.
Petrs Tagebücher brechen am 9. August 1942 ab. Das war zwei Monate, bevor der 14-Jährige selbst in einen Zug steigen musste. Dieser führte ihn weg von der Familie, weg aus seinem geliebten Prag, an einen Ort, an dem Petr die nächsten zwei Jahre ganz allein leben sollte.
Was stand in Petrs erstem Tagebucheintrag?
Das ist die erste Seite von Petrs Tagebüchern. Sie beginnen am 19. September 1941, dem Tag, an dem im gesamten Deutschen Reich das Tragen eines gelben Sternes für Juden und Jüdinnen Pflicht wurde. Auch Petr und seine Schwester Eva mussten so einen Stern tragen.
»Wir gingen mit der Aktentasche unter dem Arm und Petr zeigte mir, wie man damit den Stern verdecken kann.«
Den Stern zu verdecken war eigentlich strafbar. Zum Glück wurden die Geschwister nicht erwischt.
Immer, wenn man das Haus verließ, musste der gelbe Stern auf der Kleidung gut zu erkennen sein. Das trieb manchmal seltsame Blüten. Petr erzählt von einer Sportveranstaltung:
»Wir turnten nur in Hemden, deswegen musste auch auf das Hemd ein Stern genäht werden. Also hatte ich drei Sterne übereinander: auf dem Überzieher, auf dem Mantel und auf dem Hemd.«
Die Nationalsozialisten waren nicht die Erfinder dieser erniedrigenden Kennzeichnung. Schon im Mittelalter, seit 1215, mussten sich Juden und Jüdinnen in einigen europäischen Ländern zeitweise mit einem gelben Fleck auf der Kleidung kennzeichnen. Damals ging die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung von der christlichen Kirche aus, hatte also religiöse Hintergründe.
Daraus entwickelten sich später die antisemitischen und unwissenschaftlichen Ansichten, dass Juden und Jüdinnen eine »Menschenrasse« seien und »minderwertige Gene« hätten. Dieser Meinung waren auch die Nationalsozialisten, die Juden und Jüdinnen verfolgten und ermordeten.
Wer hat das Recht zu bestimmen, auf welcher Straße man laufen darf?
»Ab Samstag um 15 Uhr bis Montag um acht Uhr dürfen die Juden die Straßen Am Graben, Nationalstraße, Wenzelsplatz und viele andere Orte nicht betreten. Bevor ich mir das alles merke, bleibe ich lieber zu Hause.«
»Die Juden werden wohl ihre Pullover abgeben müssen.«
»Wir haben Evas Skischuhe abgeben müssen, weil das die Deutschen so wollten.«
»Der Schnee schmilzt, das Tauwetter ist da. Und die Juden fegen den schweren und nassen Schnee weg von der Straße.«
»Wir wurden aufgefordert, alle Pelzmäntel wie auch alle Pelzsachen, Wollunterwäsche, Pullover und anderes abzugeben. Man darf nur eine Garnitur Wäsche behalten.«
»Vormittags in der Stadt; auf dem Wenzelsplatz hängt im Schaukasten der Zeitung ›Politika‹ ein Schild, dass die Juden keine Zeitung lesen dürfen.«
»Habe eine Genehmigung bekommen, dass ich drei Wochen lang die Elektrische nutzen darf.«
»Kirschen werden nur an Deutsche verkauft.«
»Auf dem Zeugnis werde ich lauter Einsen haben. Die Lauscher hat es mir erzählt, damit ich es noch Oma sagen kann, bevor sie wegfährt. […] Oma hat eine Vorladung zum Transport bekommen.«
»Keine Juden in den ersten Wagen!«
1. Januar 1942 (Donnerstag)
»Das, was heute ganz gewöhnlich ist, hätte in einer normalen Zeit bestimmt Aufsehen erregt. Zum Beispiel haben die Juden gar kein Obst, keine Gänse und überhaupt kein Geflügel oder Käse, Zwiebeln, Knoblauch und anderes. Gefangenen, Geisteskranken und Juden werden keine Tabakmarken zugeteilt. In der Elektrischen und im Trolleybus dürfen sie nicht den ersten Wagen benutzen; spazieren an der Uferpromenade ist ebenfalls verboten u.s.w. u.s.w.«
4. Juli 1942 (Samstag)
»Nachmittags kann ich nicht fahren, weil die Juden am Samstag ab 15 Uhr wie auch den ganzen Sonntag keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen dürfen, genau wie sie auch die verbotenen Straßen meiden müssen.«
Abschied von den Eltern
»Im Oktober 1942 wurde Petr in einen Transport nach Theresienstadt eingereiht. Beim Abschied hielt er sich tapfer, um es mir nicht noch schwerer zu machen, und tröstete mich sogar: ›Wein nicht Mutti, hab keine Angst um mich, ich komme zu dir zurück.‹«
»In der Nähe des Messegeländes Prag-Letná gab es geräumige Schuppen, in denen die Opfer versammelt wurden, die man nach Theresienstadt transportierte. […] Dorthin habe ich an einem Oktobermorgen des Jahres 1942 unseren Petr begleitet. […] Wir gingen gemeinsam bis zu der Stelle, wohin die Begleiter mitkommen durften, ich zog Petr an mich, wir küssten einander und er ging auf den Eingang zu. Einige Male wandte er sich noch um, wir winkten einander und dann verschwand er im Tor. Wie ich zurück nach Hause kam, weiß ich nicht. Ich war mir gut dessen bewusst, dass die Nerven meiner Frau diesen Abschied, den ich gerade hinter mir hatte, nicht ertragen hätten.«
Petr musste sich an einem Oktobermorgen des Jahres 1942 von seinen Eltern und seiner Schwester trennen. Mit vielen anderen, ihm völlig unbekannten Menschen wurde er in das Ghettolager Theresienstadt verschleppt. Das lag zwar nicht weit von seiner Heimatstadt Prag entfernt, aber man durfte dort keinen Besuch bekommen. In Theresienstadt war der 14-Jährige auf sich allein gestellt: Er war einer unter 140.000 Gefangenen. Mit ihm waren mehrere tausend Kinder und Jugendliche an diesem Ort, viele davon in Petrs Alter.
Petr wurde in einem Heim für Jungen untergebracht. Dort schlief er in einem großen Schlafsaal mit Stockbetten. Nach und nach lebte Petr sich ein; er traf auch seine Großmutter und seinen Onkel wieder, die vor ihm deportiert worden waren. Schließlich fand er ein paar Freunde. Mit den Jugendlichen aus seinem Heim suchte er nach einer Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben. Nur wenig war überhaupt erlaubt.
Doch Petr hatte schon immer gerne geschrieben und gezeichnet. Um sich sinnvoll zu beschäftigen, verfassten er und die anderen Jungen aus Heim I heimlich Kurzgeschichten über das Leben in Theresienstadt. Einige zeichneten, andere schrieben sogar Gedichte. Jeden Freitagabend kamen die Jungen zusammen, um sich gegenseitig ihre Arbeiten zu zeigen und vorzulesen.
So entstand die Zeitschrift Vedem. Es war nicht einfach, Papier zu besorgen. Anfangs schrieben die Jugendlichen ihre Beiträge auf einer alten Schreibmaschine, bis das Farbband leer war. Danach verfassten sie ihre Beiträge handschriftlich. Es gab immer nur ein Exemplar der Zeitung, das herumgereicht wurde.
Petr sorgte dafür, dass sich alle Jungen an der Zeitschrift beteiligten. Manche Artikel schrieb er selbst unter verschiedenen falschen Namen, nur damit die aktuelle Ausgabe der Vedem jede Woche rechtzeitig fertig wurde. Und damit sich seine Eltern keine Sorgen um ihn machten, schmuggelte er einen Brief aus dem streng bewachten Lager Theresienstadt.
Aus Theresienstadt schmuggelte Petr einen Brief an seine Eltern
Die Jugendlichen in Theresienstadt durften ihren Eltern offiziell nur auf Deutsch schreiben. Doch viele konnten nur ein paar Brocken der Sprache. Petr schaffte es, einen Brief aus dem Lager zu schmuggeln, in dem er seiner Familie die Lebensbedingungen in Theresienstadt schilderte. Wahrscheinlich hatte er dafür einen tschechischen Wachmann bestochen. Der Brief ist im Original auf Tschechisch und stammt wohl aus dem Jahr 1943. Petr beschönigte seinen Bericht, um seine Eltern nicht zu beunruhigen.
»Lieber Vater, Mutter und Eva,
Mir geht es immer noch gut, obwohl nicht mehr so wie früher. In dieser Hinsicht müsst ihr also um mich keine Sorgen haben. […] Schickt bitte irgendwelche Lutschbonbons für Oma (sie hat nämlich Husten), mir schickt Gummiarabikum, ein paar Hefte, einen Esslöffel, ein Geschirr, Brot und ein paar Gravüren.
[…]
Die Zeitschrift, die ich redigiere, erscheint immer noch. Ich schreibe für sie Geschichten ernsten Inhalts, manchmal pfusche ich sogar in Philosophie. Ansonsten besuche ich die Quinta. Das Lernen geht gut. In einer Woche sollen wir Prüfungen haben. Was meine materiellen Angelegenheiten anbelangt: Ich gehe jeden Abend zu Oma, die mir immer etwas zu essen gibt. Auch von Onkel bekomme ich oft etwas zu beißen. Zu den Schuhen: Auf der Pritsche neben mir wohnt ein Junge, der in der Schusterei arbeitet, sodass für meine Schuhreparaturen gesorgt ist. Zur Kleidung: Den braunen Anzug kann ich nicht mehr tragen, jetzt trage ich die Hose, die ihr mir geschickt habt, und Vaters wattierte Weste. […]
Kuss von Petr«
Petr spricht von »Prüfungen« und »Lernen«. Schulunterricht war in Theresienstadt aber nicht erlaubt und wurde illegal abgehalten. Trotzdem nahm Petr die Schule ernst.
Noch im selben Jahr starb seine Großmutter, auch sein Onkel überlebte nicht. Petrs Vater und seine Schwester Eva wurden kurz darauf ebenfalls nach Theresienstadt verschleppt.
»Schon bald ein Jahr hock’ ich in diesem Loch.«
Dieses Gedicht schrieb Petr 1943 für die heimlich herausgegebene Zeitschrift Vedem. Sehnsuchtsvoll dachte er an seine Heimatstadt Prag zurück. Die Orte, die er in dem Gedicht erwähnt, kannte er gut: Oft ging er dort spazieren oder spielte dort mit Freund/-innen.
Wie lang ist’s her,
dass ich dort hinterm Petřín
die Sonne sinken sah.
Mein Blick voll Tränen küsste Prag,
wie’s sich in seine Schatten hüllte.
Wie lang schon hat mein Ohr
Der Moldau lieblich’ Rauschen nicht vernommen.
Und all das Treiben dort am Wenzelsplatz,
lang ist’s mir nicht mehr in den Sinn gekommen.
Ihr unbekannten Prager Ecken,
am Schlachthof und an Moldaus Seitenarm,
seid ihr noch da? Nicht nötig, die Erinnerung in mir zu wecken
nach einem Jahr. – Noch kenn ich euren Charme.
Schon bald ein Jahr hock’ ich in diesem Loch.
Statt deiner Schönheit, Prag, nur graue Straßen um mich.
Dem Raubtier gleich im Käfig leben, das ist unser Joch.
Du Märchen aus Stein – ich denke an dich!
Was stand denn nun in der geheimen Zeitung?
Die Idee zu der geheimen Zeitschrift hatte der Leiter von Heim I, Walter Eisinger. Er war sehr beliebt bei Petr und den anderen Jungen. Gemeinsam organisierten sie auch heimlich Vorträge oder Liederabende. Das war verboten und sehr gefährlich.
In der Vedem gab es unterschiedliche, wiederkehrende Rubriken. Unter der Überschrift »Einer von uns« wurde immer jeweils ein anderer Junge aus Heim I humorvoll beschrieben. Dann gab es noch die »Streifzüge durch Theresienstadt«, kurze Artikel über das Leben im Ghettolager. Von Fußballspielen berichteten die Jungen, von den Aufgaben der Torwache und von den Leichenwagen, die durch das Lager fuhren. Witzige Zitate, die sie gehört hatten, kamen in den »Ausspruch der Woche«. Und nicht zuletzt schrieben die Jugendlichen erfundene Kurzgeschichten und eigene Gedichte in ihre Zeitung.
Von den etwa hundert Jungen, die zwischen 1942 und 1944 zusammen mit Petr im Heim I wohnten und sich an der Zeitschrift beteiligten, überlebten nur 15 den Holocaust. Alle anderen wurden in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet. Auch ihr Heimleiter Walter Eisinger überlebte nicht.
Doch die Zeitschriften überstanden den Krieg nahezu unbeschadet. Ein Junge aus Heim I, Zdeněk Taussik, hatte die Blätter in der Schmiede von Theresienstadt verstecken können, wo sein Vater arbeitete. Über Umwege gelangte sie schließlich in das Archiv der Gedenkstätte Theresienstadt.
Was schrieben seine Mitbewohner über Petr?
Unter der Überschrift »Einer von uns« schrieb Petrs Mitbewohner Jiří Bruml einen witzigen, nicht ganz ernst gemeinten Artikel. Er nahm die Tatsache aufs Korn, dass Petr oft Pakete von seinen Eltern erhielt. Darum wurde Petr natürlich beneidet.
»Fast jeden Tag bekommt Petr wenigstens zwei Päckchen. Gerade nascht er aus einem und auf seiner Pritsche kann man ein Stillleben von allen möglichen und unmöglichen Gegenständen sehen. Auf der neuen Nummer von ›Vedem‹ türmen sich Eierschalen, auf einem nicht zu Ende gezeichneten Diplom kollern zwei Zitronen, und ein aus der Bibliothek geliehenes Buch liegt unter einer Schicht von Keksen, Palatschinken und Krapfen. Da tritt Herr Fišer ein: Er ruft die Namen der Glücklichen auf, die Päckchen erhalten haben: Pollak Erik, Löwy, Ginz. […]
Mit Paketen beladen kehrt er zurück. Aber – oh Schreck - der ganze Reichtum auf der Pritsche ist rätselhaft verschwunden. Eine Hälfte davon kann man nach längerem Suchen bei Orče finden, wohin sie infolge der Anziehungskraft der Erde gelangt ist, die andere befindet sich in der Regel auf dem Dachboden oder im Garten. Aber so etwas kann Petr nicht umwerfen. Er winkt resigniert mit der Hand und nimmt das neue Päckchen in Angriff.«
Mit einer von Petrs Zeichnungen passierte das, wovon er selbst nie zu träumen gewagt hatte: Sie flog im Jahr 2003 an Bord der US-amerikanischen Raumfähre Columbia ins Weltall. Wie kam es dazu?
Die Besatzung der Columbia bestand aus sieben Personen. Einer von ihnen war der israelische Astronaut Ilan Ramon. Er war der erste Israeli überhaupt, der ins Weltall starten sollte. Für das kleine Land war das eine Sensation! Ramon wollte daher etwas Symbolisches mit ins Weltall nehmen. Er wählte die Zeichnung »Mondlandschaft« von Petr Ginz. Petr hatte sie in Theresienstadt angefertigt.
Für Ilan Ramon war die mitgenommene Kopie ein sehr persönliches Bild: Seine eigene Mutter hatte den Holocaust überlebt. Nahezu sechs Millionen anderer Juden und Jüdinnen, darunter Petr, waren von den Nationalsozialisten ermordet worden. Ihrer wollte Ilan Ramon gedenken.
Doch es kam zur Katastrophe: Am 1. Februar 2003 stürzte die Columbia beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre ab. Sie zerbrach um neun Uhr Ortszeit in 63 Kilometern Höhe über dem US-amerikanischen Bundesstaat Texas. Alle sieben Besatzungsmitglieder, auch Ilan Ramon, kamen dabei ums Leben.
Die Medien berichteten über das furchtbare Unglück. So gelangte auch die Bleistiftzeichnung ins Fernsehen. Der Name und das Schicksal des 16-jährigen Zeichners wurden bekannt: Petr Ginz, geboren am 1. Februar 1928, wurde 1944 im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Der Tag des Absturzes wäre sein 75. Geburtstag gewesen.
Was passierte mit Petr?
Was passierte mit Petr, nachdem er zwei Jahre lang im Ghettolager Theresienstadt leben musste? Am 28. September 1944 wurde er zusammen mit seinem Cousin Pavel in einen Transport nach Auschwitz eingereiht. Seine Schwester Eva und die Cousine Hanka schafften es noch, sich von den Jungen zu verabschieden.
»Von allen Seiten hörte man nur Weinen. Wir rannten schnell und brachten den Jungen noch zwei Scheiben Brot für jeden, damit sie keinen Hunger hatten. Ich drängelte mich durch die Menge, schlüpfte unter dem Strick durch […] und reichte Petr das Brot durch das Fenster. Ich konnte ihm noch die Hand durch das Gitter reichen […]. Jetzt sind die beiden Jungen weg, und uns bleiben nur ihre leeren Pritschen.«
Kurz nach der Ankunft im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurden Petr und sein Cousin Pavel mit dem Giftgas Zyklon B ermordet.
Erst viel später wurden Petrs Tagebücher auf einem Dachboden entdeckt
Ein Mann in Prag sah die Berichte über die verunglückte Raumfähre. Diese Bleistiftzeichnung, die da gezeigt wurde, kam ihm bekannt vor! Auf dem Dachboden seines neu erworbenen Hauses hatte er zuvor ganz ähnliche Zeichnungen, alte Tagebücher und Linolschnitte entdeckt.
Daraufhin setzte er sich mit der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel in Verbindung. Vielleicht wollte ja jemand die Bilder kaufen? Als Chava Pressburger, wie sich Petrs überlebende Schwester Eva nun nannte, von dem Fund erfuhr, reiste sie unverzüglich von Israel nach Prag. Und tatsächlich: Sofort erkannte sie die Schrift ihres Bruders in den Tagebüchern und erinnerte sich an die dort beschriebenen Ereignisse.
»Der Anblick von Petrs Arbeiten brachte mich ganz durcheinander. Plötzlich kam es mir vor, als ob Petr gar nicht wirklich tot wäre, sondern aus der Ewigkeit eine Botschaft senden würde, um von sich zu berichten.«
Wie Petr auf eine Briefmarke kam
Anlässlich des tragischen Absturzes der Raumfähre Columbia brachte die tschechische Post am 20. Januar 2005 eine Briefmarke heraus. Auf der Marke ist die berühmte Mondlandschaft, die ins Weltall flog, und ein Porträt von Petr zu sehen. Auf dem Briefmarkenbogen ist außerdem eine kleine gezeichnete Raumfähre zu sehen.
An Petr erinnert heute eine Straße in seiner Heimatstadt Prag. Außerdem wurde ein Asteroid im Weltraum nach ihm benannt.
Eva vermisste ihren Bruder ihr ganzes Leben lang
Petrs Schwester Eva überlebte den Holocaust. Sie heiratete, wanderte nach Israel aus und nannte sich ab da Chava (hebräisch für Eva) Pressburger. Sie wurde eine bekannte Künstlerin. Wie sehr Chava ihren Bruder vermisste, zeigt ihre Aussage aus dem Jahr 1972.
»Oft denke ich darüber nach, wie mein Leben geworden wäre, wenn mich Petr weiter begleitet hätte, so wie meine ersten zwölf Jahre. Petr war mein begabterer und stärkerer Bruder, den ich bewunderte, der immer mein Vorbild war, der mir den Weg wies. Die Welt wäre mit den Millionen von Seelen, die nicht mehr da sind, reicher, anders. Ich glaube, die menschlichen Seelen sind irgendwie miteinander verknüpft, eine an die andere gebunden. Wenn eine gewaltsam umkommt, leidet die andere für immer, etwas fehlt ihr.«