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14. März 1931Geburt
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8. September 1941Hungerblockade
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Dezember 1942Kinderheim
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2005Erinnerungen
Rita war zehn Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht 1941 in die Sowjetunion einfiel. Den Sommer verbrachte sie bei ihren Großeltern in Puschkin, einer Stadt in der Nähe von Leningrad. Rita liebte ihre Großeltern sehr. Ihr Großvater schrieb Gedichte, die in der örtlichen Zeitung veröffentlicht wurden. Als der Krieg begann, verfasste er Gedichte für die sowjetischen Soldat/-innen, um ihnen Mut zu machen. Ritas geliebte Großmutter war ihr absolutes Vorbild.
Im Laufe der Zeit hatte Ritas Heimatstadt viele verschiedene Namen
Ritas Heimatstadt Leningrad wurde 1703 von Zar Peter dem Großen auf Sumpfgelände gegründet. Er gab ihr den Namen seines Schutzheiligen, Apostel Simon Petrus. So hieß die Stadt zunächst Sankt Petersburg.
Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde der deutsche Stadtname russifiziert, weil Russland und das Deutsche Kaiserreich nun Feinde waren. Die Stadt trug fortan den Namen Petrograd (Peterstadt). Bis zur kommunistischen Oktoberrevolution 1918 war sie die Hauptstadt des Russischen Reiches.
Nach dem Tod des russischen Revolutionsführers Lenin im Jahr 1924 wurde entschieden, der Stadt, in der die Oktoberrevolution stattgefunden hatte, seinen Namen zu geben. Ab Januar 1924 hieß sie daher Leningrad.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde in einer Volksabstimmung mit knapper Mehrheit entschieden, die zweitgrößte Stadt Russlands und die nördlichste Millionenstadt der Welt wieder in Sankt Petersburg umzubenennen.
Rita erinnert sich an die Vorkriegszeit bei ihren Großeltern in Puschkin:
»Diesen Sommer verbrachte ich sehr friedlich. Unser Haus stand am Stadtrand, neben dem Feld; nicht weit davon verlief eine Eisenbahnstrecke. Dort pflückte ich mit meinen Freundinnen Blumen. So lebte ich vor dem Krieg. […] Wir lebten sehr gut. Ich habe mit meiner Großmutter auf den Beeten Kartoffeln gepflanzt und Unkraut gejätet.«
Wegen der Krankheit des Großvaters waren Ritas Großeltern von Leningrad nach Puschkin umgezogen. So verbrachte Rita bis Kriegsbeginn ihre Sommerferien in der hübschen Kleinstadt südlich von Leningrad.
Puschkin wurde 1710 als Sommerresidenz der russischen Zar/-innen gegründet und trug bis 1917 den Namen Zarskoe Selo (Kaiserliches Anwesen). Die Eisenbahnstrecke, an der Rita so gerne Blumen pflückte, war die erste in Russland. Sie wurde in den 1830er Jahren errichtet.
Ab 1937 trug die Stadt den Namen des großen russischen Nationaldichters Alexander Puschkin. 1941 besetzten deutsche Truppen die Stadt.
Nach dem Krieg wurde die zerstörte Sommerwohnanlage der russischen Zar/-innen nach altem Muster wiederaufgebaut. Auch heutzutage gilt Puschkin als eine der schönsten Städte der Welt und wurde von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes der Menschheit aufgenommen.
Auf die schöne Stadt fielen Bomben
An einem Junisonntag bemerkte Rita, dass ihre Eltern besorgt aussahen und leise etwas besprachen. Die Großmutter weinte. Das Mädchen wollte wissen, was los sei. Statt zu antworten, schwiegen die Erwachsenen und schickten sie ins Bett.
Von Freund/-innen erfuhr Rita am nächsten Morgen, dass das Deutsche Reich den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt gebrochen hatte. Es herrschte Krieg. Rita verstand nun, warum ihre Großmutter so heftig geweint hatte: Sie machte sich Sorgen um ihren Sohn, Ritas Onkel Boris. Er war schon im Mai 1941 zum Wehrdienst einberufen worden und kämpfte nun als Soldat im Krieg.
Zwei Jahre später, im Winter 1943/44, notierte Rita in einem Tagebuch ihre Erinnerungen an die Luftangriffe auf Puschkin. Ihre Familie hatte im Hof des Hauses einen Schützengraben ausgehoben, um sich dort während der Bombardierungen zu verstecken. Ritas Großvater, der bereits sehr krank war, kam dabei auf eine ungewöhnliche Idee: Damit die Familie es während der Luftangriffe bequem hatte, ließ er in das Versteck ein Sofa stellen.
Der Nichtangriffspakt auf Papier sollte nicht lange halten
Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt wurde am 23. August 1939 in Moskau unterzeichnet. Er sollte im Kriegsfall die Neutralität des jeweils anderen Staates garantieren. Für das Deutsche Reich bedeutete das: Bei dem geplanten »Blitzkrieg« gegen Polen würde die Sowjetunion nicht auf Seiten Polens eingreifen. Und nicht nur das: In einem geheimen Zusatzprotokoll wurde unter anderem geregelt, dass Polen zwischen den beiden Ländern aufgeteilt werden sollte.
Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt wurde nach dem deutschen und dem sowjetischen Staatschef auch Hitler-Stalin-Pakt genannt. Die ebenso geläufige Bezeichnung Molotow-Ribbentrop-Pakt geht auf die Außenminister der beiden Staaten zurück. Ursprünglich war der Nichtangriffspakt auf zehn Jahre befristet. Doch schon knapp zwei Jahre nach der Unterzeichnung, am 22. Juni 1941, überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion.
Die Ziele des Krieges auf deutscher Seite waren die sogenannte Eroberung von Lebensraum im Osten, der Kampf gegen den Kommunismus und die Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Im Zuge des sogenannten Generalplan Ost sollten etwa dreißig Millionen Slaw/-innen vertrieben oder getötet werden. Sie wurden rassistisch als »Untermenschen« angesehen. Auf die Bauernhöfe der vertriebenen und ermordeten Menschen sollten deutsche Familien angesiedelt werden. Die verbliebenen slawischen Einwohner/-innen wollte man wirtschaftlich ausbeuten. Auf diese Weise wollte die Reichsführung die Versorgung der deutschen Bevölkerung und der Soldaten sicherstellen.
Viele Millionen Tote, darunter sieben Millionen Zivilisten
In keinem der vom Deutschen Reich zwischen 1939 und 1944 eroberten Gebiete kamen im Kriegsverlauf oder durch Mordaktionen mehr Zivilist/-innen und Soldat/-innen ums Leben als in der besetzten Sowjetunion. 2,8 Millionen männliche und weibliche sowjetische »Ostarbeiter« mussten zudem Zwangsarbeit im Deutschen Reich leisten. Die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten richtete sich insbesondere gegen Kriegsgefangene und Zivilist/-innen, die von vielen Deutschen rassistisch als »slawische Untermenschen« angesehen wurden.
Der Krieg gegen die Sowjetunion war von der nationalsozialistischen Führung ursprünglich als »Blitzkrieg« gedacht, in dem schnell ein Sieg errungen werden sollte. Schon im Winter 1941/42 wurde jedoch klar, dass diese Taktik nicht aufgehen würde. Schritt für Schritt eroberte die Rote Armee die zuvor besetzten Gebiete wieder zurück. Schließlich gelang es den sowjetischen Truppen, bis zur Reichshauptstadt Berlin vorzudringen.
Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht wurde in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst unterzeichnet. Dies bedeutete das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Die russische Bevölkerung bezeichnet den Krieg als Großen Vaterländischen Krieg.
Nach den Sommerferien 1941 ging Rita in die zweite Klasse. Als die Kriegsfront im September immer näher an Puschkin heranrückte, nahm Ritas Mutter das Mädchen mit zu sich nach Leningrad. Bei den Großeltern in Puschkin zu bleiben, war für Rita zu gefährlich. Zudem waren Lebensmittelkarten eingeführt worden. Rita konnte diese Karten aber nur in Leningrad erhalten, denn dort war sie offiziell gemeldet.
Ritas Großvater befand sich schon in Leningrad, ihre Großmutter entkam nur knapp den deutschen Truppen. Am 17. September 1941, zwei Stunden, bevor die Wehrmacht in Puschkin einmarschierte, lief sie zu Fuß die etwa dreißig Kilometer nach Leningrad. Einige Verwandte schafften es nicht mehr, aus der Stadt herauszukommen. Rita hörte nie wieder von ihnen.
Da in Leningrad keine Straßenbahn mehr fuhr, musste Ritas Mutter jeden Tag den weiten Weg zur Arbeit laufen. Währenddessen gingen Rita und ihre Großmutter Koka Lebensmittel organisieren. Sie fragten in Kantinen nach Essensresten oder standen stundenlang Schlange, um ihre Lebensmittelkarten einzutauschen. Es wurde immer schwieriger, an Essen zu gelangen, denn die deutsche Wehrmacht belagerte die Stadt und schnitt sie unerbittlich von jeglicher Versorgung ab.
Im Winter 1941/42 verhungerten Ritas Großeltern. Jahrzehnte später fragte sich Rita, wie sie und ihre Mutter es schafften, die Hungerblockade zu überleben. Manchmal bekamen sie etwas Geld von Ritas Vater oder Onkel und konnten sich zusätzlich zur kargen Verpflegung 200 Gramm Brot oder Kohlstrünke leisten. Ansonsten kochten sie Suppe aus Gras und suchten überall nach Essen, sogar in Abfalleimern.
Der Mülleimer aus dem Hof einer Kantine rettete vielen Menschen das Leben. Eines Tages, es war ein Sonntag, fand Rita geräucherte Fischköpfe darin. Das war ein Festschmaus für sie und ihre Mutter! Rita bemerkte allerdings nicht, dass der Mülleimer zusätzlich mit Asche gefüllt war. Die Fischköpfe wurden dreckig und es gab kein Wasser, um sie abzuspülen. Der Hunger war so groß, dass Rita und ihre Mutter sie trotzdem aßen.
Wie die deutsche Armee die Leningrader Bevölkerung aushungerte
Im Sommer 1941 eroberte die deutsche Wehrmacht die westliche Sowjetunion mit einer rasanten Geschwindigkeit. Mitte August, zwei Monate nach Kriegsbeginn, standen die deutschen Truppen bereits vor Leningrad. Im Norden belagerten finnische Truppen die Stadt. Die letzte Landstraße, die Leningrad mit dem Rest des Landes verband, besetzte die deutsche Wehrmacht am 8. September 1941.
Dies war der Beginn der 872 Tage andauernden Leningrader Blockade. Aus strategischen Gründen nahm die deutsche Wehrmacht Leningrad nicht ein, sondern hungerte die Bevölkerung der Stadt gezielt aus. Dies stellt eines der schlimmsten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs dar.
Die Rote Armee unternahm im Laufe der Jahre 1941 und 1942 viele Versuche, die Blockade zu durchbrechen. Erst am 18. Januar 1943 gelang den sowjetischen Truppen, das südliche Ufer des Flusses Newa zu befreien. Dies ermöglichte die Anbindung Leningrads an den Rest des Landes und die notdürftige Versorgung der Stadtbevölkerung. Die endgültige Auflösung der Leningrader Belagerung erfolgte am 27. Januar 1944.
Während der Leningrader Blockade kamen über eine Million Menschen ums Leben. Die meisten von ihnen verhungerten, andere starben bei Luftangriffen oder aufgrund fehlender medizinischer Versorgung.
Hunger. Was heißt das eigentlich?
Nach Beginn der Blockade durch deutsche Truppen stand schnell fest, dass die Lebensmittel in Leningrad nicht mehr lange reichen würden. Zur Verfügung standen:
Mehl und Getreide für 35 Tage
Getreidekörner und Teigwaren für 30 Tage
Fleisch für 33 Tage
Fett für 45 Tage
Zucker und Süßwaren für 60 Tage
Aus diesem Grund wurde im September 1941 die Lebensmittelkarte eingeführt. Kleine Papierabschnitte konnten so in Geschäften gegen Nahrungsmittel getauscht werden. In ihrem Tagebuch erzählt Rita, wie die Menschen stundenlang in der Schlange standen, um einen solchen Zettel gegen ein kleines Stück Brot einzutauschen.
Ab dem 20. November 1941 wurden die Lebensmittel noch zusätzlich rationiert: Je nach Leistung, die sie erbrachten, bekamen die Menschen mehr oder weniger Brot. Für Frontkämpfer/-innen war das ein halbes Kilo pro Tag, Industriearbeiter/-innen erhielten 250 Gramm Brot. Die kritischsten Monate der Blockade waren Dezember und Januar, als die Rationen noch weiter verringert wurden. Rita und ihre Mutter mussten mit lediglich 125 Gramm Brot pro Person auskommen. 125 Gramm – das entspricht etwa zwei bis drei Scheiben Brot.
Das Brot in Leningrad bestand aus Baumrinde und Sägespänen
Im Winter 1941/42 starben in Leningrad täglich bis zu 7.000 Menschen an Hunger und Kälte. Auch Ritas Großeltern fielen im ersten Blockadewinter dem Hunger zum Opfer. Vor dem Tod bat Ritas Großvater um ein Stück Butter. Rita machte sich schwere Vorwürfe, weil keine aufzutreiben war. Hilflos musste sie dabei zusehen, wie ihr Großvater qualvoll verhungerte.
Auch waren die rationierten Lebensmittel nicht mit den Lebensmitteln aus der Vorkriegszeit zu vergleichen. Das so schwer zu erlangende Brot bestand zu fünfzig Prozent, ab Januar 1942 sogar zu sechzig Prozent aus »Zusätzen«.
»Wir bekamen nur sehr wenig Brot, 125 Gramm für einen Tag, die Arbeiter 250 Gramm, Getreide, Fleisch, Butter und Zucker auch nur ganz wenig. Später gab es gar keinen Zucker […] Brot bestand auch aus Presskuchen, Papier, Sägespänen und Baumrinde.«
Ritas Großmutter Koka verhungerte Ende Februar 1942. Dies war besonders tragisch, da die Lebensmittelrationen ab Mitte Februar erhöht worden waren. Koka war vor ihrem Tod sehr schwach: Sie war an Durchfall erkrankt und hatte zudem Kopfläuse. Als sie starb, hatten weder Ritas Mutter noch ihre Tante die Kraft, die Leiche durch den Schnee zum Friedhof zu tragen. Sie waren durch den ständigen Hunger zu geschwächt. Daher blieb der Körper von Ritas toter Großmutter in der Wohnung. Begraben wurde die Leiche erst im Frühling.
Über den gefrorenen Ladogasee fuhren Lastwagen
Die Erhöhung der Rationen im Februar 1942 war nur dank der »Straße des Lebens« über den Ladogasee möglich. Diese Seefahrtstraße, im Winter eine Eisstraße, war die einzige Verbindung zur eingekesselten Stadt Leningrad.
Einer der Leningrader Bahnhöfe war durch das Schienennetz mit dem Ufer des Ladogasees verbunden. Die Fahrt über den See selbst war jedoch wegen der deutschen Luftangriffe und plötzlich auftretender Unwetter extrem gefährlich.
Die »Straße des Lebens« wurde zum ersten Mal im September 1941 benutzt, als zwei Lastkähne mit Mehl und Getreide beladen über den Ladogasee Richtung Leningrad fuhren. In der letzten Novemberwoche konnte der inzwischen gefrorene See zum ersten Mal mit LKWs befahren werden. Doch erst ab dem 22. Dezember war das Eis ausreichend dick, so dass die Lastkraftwagen mit mehr Lebensmitteln beladen werden konnten.
Im ersten Winter wurden über den zugefrorenen Ladogasee 550.000 Leningrader und über 35.000 verwundete Soldaten evakuiert. Insgesamt rettete die »Straße des Lebens« ungefähr 1,3 Millionen Menschen das Leben.
Nach dem Tod der Großmutter lag die Verantwortung für das tägliche Überleben bei Rita. Ihre Mutter konnte sich darum nicht kümmern: Der Weg zur Arbeit und die Arbeit selbst raubten ihr viel Energie und machten sie schwach und krank.
So musste Rita oft den Arzt holen oder den Krankenschein ihrer Mutter verlängern. Außerdem tat die Zehnjährige ihr Möglichstes, um ihre Mutter zu entlasten: Sie kümmerte sich um den Haushalt und wusch Wäsche.
Ritas Hauptaufgabe aber war weiterhin, Lebensmittel zu besorgen. Das war im belagerten Leningrad sehr schwierig: Im Winter musste sie stundenlang bei Eiseskälte in Warteschlangen ausharren.
Das Haus, in dem Rita und ihre Mutter vor dem Krieg gewohnt hatten, war abgerissen worden. So wohnten sie zunächst bei einer Verwandten, durften dort jedoch nicht allzu lang bleiben. Deshalb suchte Rita im Alter von zehn Jahren eine neue Bleibe für sich und ihre Mutter. Im Frühjahr 1942 organisierte sie den Umzug fast allein. Das wenige Hab und Gut der Familie beförderte sie mit einem Handwagen. Kurz nach dem Umzug nahm Rita die Schule wieder auf. Oft besuchte sie ihre Schulfreundinnen, die manchmal etwas zu essen für sie übrig hatten.
Manchmal ging Rita völlig abwesend durch die ausgestorbene Stadt und träumte von einem heißen Glas Milch und einem Stück Brot. Auf dem Boden suchte sie nach etwas Essbarem. Rita hatte keine Angst vor den herabfallenden Bomben und versteckte sich während der Luftangriffe nicht einmal. Das Mädchen glaubte fest daran, dass all die Bomben nicht für sie bestimmt seien. Bald konnte Rita mit bloßem Auge die unterschiedlichen deutschen Flugzeugtypen unterscheiden und anhand des Lärms einschätzen, welcher Stadtteil gerade bombardiert wurde.
Zusammen mit den Jungen aus ihrem Haus verbrachte Rita viel Zeit auf den Dächern. Dort schauten sie dabei zu, wie die sowjetischen Flugabwehrkanonen deutsche Flugzeuge abschossen. Doch die Kinder von Leningrad hatten auch eine wichtige Aufgabe: Wenn nach einer Bombardierung die Dächer der Stadt brannten, mussten sie ausschwärmen und die Brände löschen.
So lebten Kinder im belagerten Leningrad
Zu Beginn der Blockade im September 1941 befanden sich etwa 400.000 Kinder in Leningrad. Während der Blockade mussten Kinder die gleichen Arbeiten verrichten wie Erwachsene: Sie hoben Schützengräben aus, sammelten Flaschen für Molotowcocktails und Altmetall, aus dem in Fabriken Geschosse produziert werden konnten.
Die Kinder dienten auch als Bot/-innen oder prüften, ob die Wohnhäuser gut genug gegen Luftangriffe getarnt waren. Zusammen mit Erwachsenen bewachten sie Dachböden und Dächer, um diese im Falle einer Bombardierung mit Brandbomben löschen zu können. Daher bezeichnete man die Kinder auch als Wachmannschaften der Leningrader Dächer.
Mädchen nähten Wäsche und Tabakbeutel für Soldaten der Roten Armee und strickten ihnen warme Schals, Strümpfe und Handschuhe. In der kalten Jahreszeit halfen Schüler/-innen beim Sammeln warmer Kleidungsstücke für die Soldaten.
Viele Schulen wurden zu Militärkrankenhäusern umfunktioniert. Schüler/-innen lasen den verletzten Soldaten aus Büchern und Zeitungen vor, schrieben für sie Briefe, gingen den Ärzt/-innen und Krankenschwestern zur Hand und veranstalteten Konzerte, um die Verletzten auf andere Gedanken zu bringen.
Noch heute wird an die unglaublichen Leistungen der Kinder erinnert
Zur Erinnerung an alle Kinder Leningrads, Verteidiger/-innen der Stadt und Opfer der Blockade, wurde am 8. September 2010 in Sankt Petersburg ein Denkmal aus weißem Stein errichtet. Es befindet sich in einem Apfelgarten, der 1953 von Schüler/-innen einer Leningrader Schule zur Erinnerung an die Kinder der belagerten Stadt gepflanzt wurde.
Der Gedenkstein »Für die Kinder – Opfer der Leningrader Blockade« entstand auf Initiative des Leningrader Bürgers Anatoli Ewplow, der während der Blockade all seine Geschwister verloren hatte. Das Gedenkzeichen wurde am 27. Januar 2009, dem 65. Jahrestag des Blockadeendes, eingeweiht. Es steht auf einem Friedhof, auf dem sich auch Massengräber befinden. In ihnen ruhen zahlreiche Opfer der Hungerblockade.
Die Winter im belagerten Leningrad waren für Rita und ihre Mutter besonders hart. Wegen des Hungers und der Kälte wurden beide oft krank. Sie konnten sich nur sehr langsam bewegen und beim Laufen mussten sie sich, geschwächt wie sie waren, an den Wänden festhalten: Mit 13 Jahren sah Rita bereits aus wie eine alte Frau.
Im zweiten Blockadewinter musste Ritas Mutter ins Krankenhaus. Rita ging zunächst weiterhin zur Schule und besuchte ihre Mutter im Krankenhaus. Kurz darauf wurde sie in ein Kinderwohnheim aufgenommen.
Den Sommer 1943 verbrachte Rita mit anderen Kindern aus dem Wohnheim in einem Ferienhaus am Rand der Stadt. Im September musste sie in ein anderes Heim umziehen. Als es Winter wurde, kamen die Mädchen auf die Idee, ihre täglichen Erlebnisse und Erinnerungen aufzuschreiben. So entstand auch Ritas Tagebuch.
Zwar vermisste Rita ihre Mutter, doch das Leben im Kinderwohnheim hat sie im Nachhinein in erstaunlich guter Erinnerung. Einen besonderen Eindruck hinterließen die Bibliothek, die Bibliothekarin und der Leiter der Theatergruppe. Die gruseligste Erinnerung ist mit den Ratten im Schlafsaal verbunden. Diese sprangen in der Nacht die Wände hoch, um das in Beuteln aufgehängte Essen zu erreichen.
In der Schule und in den Kinderwohnheimen beteiligte sich Rita sehr aktiv am Theaterspiel. Mit anderen Kindern trat sie vor verwundeten Soldat/-innen in Krankenhäusern auf. Rita freute sich immer sehr, wenn sie im Anschluss an das Schauspiel fröhliche Gesichter sah. Aber auch das Essen, das die jungen Schauspieler/-innen nach dem Auftritt erhielten, war für sie von großem Wert.
Rita beherrschte außergewöhnliche Tänze
Die schönsten Erinnerungen aus der Blockadezeit hat Rita an die Schauspielgruppen, bei denen sie in der Schule und im Kinderwohnheim mitwirkte. Besonders das Tanzen und Singen liebte sie: Bereits vor dem Krieg hatten die Kinder in Puschkin ihr den Spitznamen »Ritka-artistka« (kleine Artistin Rita) gegeben.
Zusammen mit den anderen Kindern aus ihrem Wohnheim tanzte Rita Ballett und Volkstänze. Die Kostüme nähten sie sich selbst. Besonders gern mochte Rita den kaukasischen Volkstanz »Kabardinka«, der auch »Lesginka« genannt wurde.
»Я одену рваные ботинкиИ станцую танец ›Кабардинку‹…«
»Ich werde zerfetzte Schuhe anziehenund den Tanz ›Kabardinka‹ tanzen…«
Rita und ihre Mutter bekamen die »Leningrader Krankheit«
Nahezu alle Einwohner/-innen des belagerten Leningrads litten an der sogenannten Dystrophie. Durch den ständigen Hunger kam es zu Mangelerscheinungen im Körper. Muskelschwäche, Skelettverformungen und Wunden auf der Haut, die nicht mehr verheilten, waren die Folgen. Nach dem Krieg nannten die Menschen in der Sowjetunion diese Krankheit auch »Leningrader Krankheit«.
Rita beschreibt in ihrem Tagebuch, wie sie eines Tages selbst erkrankte: Sie fühlte sich sehr schlecht, konnte es sich aber nicht leisten, krank zu sein. Es gab einfach so viel zu tun. Auch Ritas Mutter erkrankte und musste schließlich ins Krankenhaus. Sie war sehr schwach, aber der Aufenthalt im Krankenhaus bedeutete ihre Rettung: Dort bekam man regelmäßig Essen. Ritas Mutter verbrachte mehrere Monate im Krankenhaus. Erst 1944 konnte sie nach Hause zurückkehren und Rita aus dem Kinderwohnheim zu sich holen.
Die Straßenbahn schien das einzige Lebenszeichen in der verhungernden Stadt
Weil der Straßenbahnbetrieb im Dezember 1941 eingestellt worden war, musste Ritas Mutter Maria von nun an zu Fuß zur Arbeit laufen. Dies bedeutete für sie viele Stunden Fußmarsch durch Eis und Schnee. Zudem sank das Thermometer im Winter 1941/42 auf Temperaturen von bis zu minus vierzig Grad. Für Maria Malkowa wäre der Energieaufwand für tägliche Märsche viel zu hoch gewesen. Sie wusste: Wer einmal entkräftet zu Boden sank, erfror ohne Hilfe innerhalb kürzester Zeit. Daher kehrte sie immer nur am Wochenende zu ihrer Tochter zurück.
Mit Kriegsbeginn übernahm die Leningrader Straßenbahn viele neue Funktionen: Sie brachte die Soldaten an die Front, denn eine der Straßenbahnlinien endete direkt an der Frontlinie. Einige Waggons wurden zu Krankenwagen umgebaut, andere für die Postbeförderung eingesetzt. Ab Ende 1941 transportierte die Straßenbahn auch Flüchtende direkt zum Ladogasee, über den sie dann evakuiert wurden.
Die Straßenbahnen waren für die Bewohner/-innen Leningrads von enormer Bedeutung. Da sie beim Fahren Lärm machten und klingelten, brachten sie Leben in die ausgestorbenen Straßen der Großstadt. Das erste Klingeln bei der Wiederaufnahme des Betriebes am 15. April 1942 wurde daher fast schon als ein kleiner Sieg gewertet.
Rita überlebte die Blockade von Leningrad. Als sie 66 Jahre alt war, übergab sie dem Museum zur Erinnerung an die Verteidigung und die Blockade Leningrads ihr Tagebuch, das sie mit zwölf Jahren geschrieben hatte. Sie fühlte sich verpflichtet, ihre Lebensgeschichte weiterzugeben. Viele ihrer Verwandten und Freund/-innen waren während des Zweiten Weltkriegs ums Leben gekommen. 2005 erschienen Ritas Erinnerungen in der Sankt Petersburger Zeitschrift Newa.
Aus diesen Erinnerungen geht hervor, dass auch Ritas Eltern den Krieg überlebten. Ihre Mutter Maria wurde mit der Medaille »Für die Verteidigung Leningrads« geehrt. Ihr Vater Sergej war vom ersten bis zum letzten Tag des Krieges Granatwerferschütze an der Front gewesen. Er wurde mit vielen Orden geehrt.
Später heiratete Rita und lebte mit ihrem Mann, Walerij Tschepurko, glücklich in ihrer Heimatstadt Leningrad. Das Paar bekam zwei Kinder, den Sohn Wadim und die Tochter Irina, die beide Naturwissenschaftler/-innen wurden. Ritas Tochter lebt heute in Deutschland.
Rita mag es nicht, an die Leningrader Hungerblockade erinnert zu werden – die Erinnerungen sind zu schmerzvoll. Die Leningrader Blockade nennt sie »Block-ada«, was übersetzt »Block der Hölle« bedeutet. Gleichzeitig hält sie es aber für ihre Pflicht, die Erinnerung wachzuhalten.
Ein Komponist schrieb ein ganzes Stück über Leningrad
Ihr ganzes Leben lang begleitete Rita die Liebe zur Kunst, zu Musik und Tanz. Viele Blockadeüberlebende erzählten später, dass eine künstlerische Betätigung ihnen dabei half, für kurze Zeit die Grausamkeit des Krieges zu vergessen.
Das wohl bekannteste Musikstück, das an die Leningrader Hungerblockade und ihre Opfer erinnert, ist die Siebte Symphonie des bekannten sowjetischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch. Er begann das Stück kurz vor dem Krieg in Leningrad zu komponieren. Im Oktober 1941 wurde Schostakowitsch mit seiner Familie aus der belagerten Stadt ausgeflogen. Den letzten Takt der Symphonie schrieb er 1942 in seinem Fluchtort.
Die Notenblätter erreichte das belagerte Leningrad mit dem Vermerk des Komponisten auf dem Titelblatt: »Unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem kommenden Sieg, meiner Heimatstadt Leningrad gewidmet«.
Für die Aufführung der Symphonie brauchte man etwa hundert Orchestermusiker/-innen, doch nur 15 Musiker/-innen waren in Leningrad geblieben. Alle anderen waren entweder an Hunger und Erschöpfung gestorben oder kämpften aktiv gegen die deutsche Wehrmacht. Daher wurden alle Musiker/-innen, die in der Armee in der Nähe von Leningrad dienten, in das Orchester des Leningrader Rundfunks berufen. So konnte die Siebte Symphonie schließlich Anfang August 1942, mitten in Krieg und Elend, aufgeführt werden.
Hier kannst Du dir einen Auszug aus der Sinfonie anhören: https://www.youtube.com/watch?v=nOKL_q-Ribs.
Ein späterer Song über Ritas Heimatstadt
Der Erinnerung an die Leningrader Hungerblockade lebt auch in Werken von Künstler/-innen aus aller Welt weiter. So auch im Lied »Leningrad« des US-amerikanischen Sängers Billy Joel.
In dem Lied geht es um das Blockadekind Wiktor, das 1944 geboren wurde. Als erwachsener Mann entschied sich Wiktor, Clown zu werden. Er wollte so den Kindern Leningrads Spaß und Freude vermitteln, da er selbst als Kind so wenig davon gehabt hatte.
Hier kannst Du dir das Lied anhören: https://www.youtube.com/watch?v=LgD_-dRZPgs
und hier den Text lesen:
Victor was born the spring of '44
and never saw his father anymore
a child of sacrifice, a child of war
another son who never had
a father after Leningrad.
Went off to school and learned to serve the state
followed the rules and drank his vodka straight
the only way to live was drown the hate
a Russian life was very sad
and such was life in Leningrad.
I was born in '49
a cold war kid in McCarthy time
stop 'em at the 38th parallel
blast those yellow reds to hell
Cold war kids were hard to kill
under their desk in an air raid drill
haven't they heard we won the war
what do they keep on fighting for?
Victor was sent to some red army town
served out his time became a circus clown
the greatest happiness he'd ever found
was making Russian children glad
and children lived in Leningrad
The children lived in Levittown
and hid in the shelters underground
till the Soviets turned their ships around
and tore all the Cuban missiles down
And in that bright October sun
we knew our childhood days were done
and I watched my friends go off to war
what do they keep on fighting for?
And so my child and I came to this place
to meet him eye to eye and face to face
he made my daughter laugh, then we embraced
we never knew what friends we had
until we came to Leningrad.«