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1933Geburt
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1940Umzug
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Februar 1943Ghetto
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April 1943Versteck
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1945Neuanfang
Wenn Rosina sich später an ihre Wohnung in der Tsimiski-Straße 35 in Saloniki erinnerte, dachte sie zugleich auch an Maria Negreponti, ihre Freundin und Nachbarin. Die Welt um die beiden achtjährigen Mädchen wurde während der deutschen Besatzung immer bedrohlicher und auch unverständlicher. Aber beim Spielen miteinander konnten die beiden ihre Angst vergessen. Ihre Freundschaft sollte ein Leben lang halten.
Die beiden Freundinnen wurden während des Kriegs immer wieder getrennt. Das erste Mal im Oktober 1940. Rosina floh zunächst mit ihren beiden Schwestern, ihren Eltern, ihrer Großmutter Lea und ihrer Hauslehrerin Mathilda vor den italienischen Bombenangriffen aus dem Stadtzentrum in eine kleinere Wohnung im Bezirk Exochés. Dort fanden sie Schutz in einem Bunker. Wenig später, am 9. April 1941, marschierten schließlich die Deutschen in Saloniki ein. Rosina spürte, dass die Gefahr anhielt und registrierte, dass sich auch die Erwachsenen fürchteten. In ihrem Tagebuch hielt sie fest: »Mama weinte, Papa war zu Tode betrübt.«
Aus Sorge vor dem was nun auf sie zukommen sollte, hob Rosinas Vater das gesamte Geld der Familie von der Bank ab. Die griechische Kapitulation bedeutete das Ende des griechisch-italienischen Krieges und der Bombenangriffe. Dadurch war es der Familie zunächst möglich, in ihre Wohnung in der Tsimiski-Straße 35 zurückzukehren.
Ein Zimmer im Haus wurde jedoch von den deutschen Besatzern beschlagnahmt, die dort zunächst einen Offizier unterbrachten. Dieser kam allerdings jede Nacht betrunken nach Hause. Als Rosinas Vater sich schließlich beschwerte zog wenig später eine Familie mit zwei Kindern bei ihnen ein. Der Vater war Türke und die Mutter Deutsche. Rosina mochte beide nicht. So behauptete die deutsche Nachbarin nämlich, dass von nun an alle Sachen im Haus ihr gehörten und die Pardos nur noch Gäste im eigenen Haus seien.
Rosina erinnert sich aber auch daran, dass sie gerne mit den Kindern der Familie, Heinz und Annita, spielte. Als Rosina und ihre Familie später gezwungen wurden in eines der fünf Ghettos von Saloniki zu ziehen, war die andere Familie schadenfroh und freute sich über ihre neuen Besitztümer.
Die jüdische Gemeinde in Saloniki
Im 15. Jahrhundert wurden viele Juden und Jüdinnen von der Iberischen Halbinsel, also aus Spanien und Portugal vertrieben. Sie siedelten sich im religiös toleranteren Osmanischen Reich an, unter anderem in den Städten Konstantinopel (heute: Istanbul), Smyrna (Izmir), Adrianopel (Edirne) und Saloniki. Dort erhielten sie vollständige Religionsfreiheit und durften ihre Gemeinden allein verwalten. Über 20.000 Sephard/-innen, so wurden die iberischen Juden und Jüdinnen genannt, kamen als Flüchtlinge nach Saloniki.
Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts stellten Juden und Jüdinnen die größte Bevölkerungsgruppe – vor den türkischen, griechischen, mazedonischen und bulgarischen Einwohner/-innen. Durch sie erfuhren Medizin, Buchdruck und Waffentechnik eine Blütezeit. Die Sephard/-innen arbeiteten als Handwerker/-innen und Händler/-innen. Sie pflegten eine eigene Sprache, das Ladino. Saloniki war das geistige Zentrum des Judentums im östlichen Mittelmeerraum und wurde auch als das Jerusalem des Balkans bezeichnet.
1913 annektierte Griechenland Saloniki. Die dort lebende jüdische Bevölkerung verlor sowohl den politischen Schutz des Osmanischen Reiches als auch wichtige Wirtschaftsräume im Hinterland. 1917 ereignete sich in Saloniki ein Großbrand, der 70.000 Menschen, darunter bis zu 52.000 Juden und Jüdinnen, obdachlos machte. 32 Synagogen und 8 jüdische Schulen gingen in Flammen auf. Tausende Juden und Jüdinnen mussten über viele Jahre hinweg in Elendsquartieren leben.
Die Regierung in Athen nutzte diese Katastrophe, um ihre Politik der »Hellenisierung« durchzusetzen und aus dem jüdisch geprägten Saloniki eine griechische Stadt zu machen. Grundstücksbesitzer/-innen wurden enteignet und jedes Gespräch mit der Führung der jüdischen Gemeinde verweigert.
Ein nächster Schritt war 1923 die Ansiedlung von über 100.000 griechisch-orthodoxen, also christlichen Flüchtlingen aus Kleinasien in Saloniki als Folge des Vertrages von Lausanne. Juden und Jüdinnen bildeten dadurch nicht mehr die Bevölkerungsmehrheit. Es kam zu politischen Konflikten zwischen jüdischen und christlichen Bevölkerungsteilen.
Die Ausübung der jüdischen Religion wurde zugunsten der christlichen Bevölkerung eingeschränkt. Unter anderem erfolgte 1924 die Verlegung des Markttages vom Sonntag auf den Samstag, den jüdischen Ruhetag. Jüdische Händler/-innen sahen sich gezwungen, nunmehr am Sabbat ihre Geschäfte zu öffnen, wenn sie keine Verluste machen wollten.
Rosinas Familie
Rosinas Großeltern väterlicherseits stammten aus Monastir im damaligen Osmanischen Reich. Die Stadt, die heute Bitola heißt, fiel später an Serbien und gehört heute zu Nordmazedonien. David und Lea Pardo gehörten der dortigen portugiesisch-jüdischen Synagogengemeinde an.
Die Gründe ihrer Flucht nach Saloniki sind nicht genau bekannt, vielleicht war es wirtschaftliche Not oder sie wurden zu Kriegsflüchtlingen. Denn während des Ersten Weltkrieges war Monastir andauerndem Artilleriebeschuss und Angriffen mit Giftgas ausgesetzt. Zusammen mit ihrem Sohn Chaim, Rosinas Vater, und ihren zwei Töchtern kamen sie nach Saloniki. Chaim Pardo gründete ein Geschäft mit elektrischen Anlagen und Heizungen. Er sprach Französisch, Deutsch und sehr gut Griechisch. Chaim war ein engagiertes Mitglied der jüdischen Gemeinde.
1928 heiratete er Eugénie Beraha. Eugénie stammte aus Skopje, sie sprach neben Ladino auch Französisch und etwas Griechisch. Im Kreis der Familie allerdings wurde Ladino gesprochen. Großmutter Lea, eine strenggläubige Jüdin, konnte sogar keine andere Sprache. Daher hatte sie kaum Kontakt mit christlichen Nachbar/-innen. Für Rosina und ihre Schwestern Lily und Denise war sie eine wichtige Stütze. Die Familie wohnte auf dem Tsimiski-Boulevard im Stadtzentrum und pflegte engen Kontakt zu den anderen Juden und Jüdinnen, die aus Monastir nach Saloniki gekommen waren.
Rosina verlor während des Holocaust viele ihrer Angehörigen, darunter ihre Großmütter Lea und Dudu, ihre Tanten Vida und Laura sowie ihre Cousinen und Cousins. Etwa sechzig Familienmitglieder wurden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau umgebracht.
Hungersnot: »Die Menschen starben auf offener Straße«
Im Winter 1941/42 herrschte überall in Griechenland eine große Hungersnot, da die deutsche Besatzungsmacht das Land systematisch ausplünderte. Rohstoffe und Teile der landwirtschaftlichen Güter wurden ins Deutsche Reich verschickt. Gleichzeitig litt die Bevölkerung in Griechenland unter einer kriegsbedingten Blockade durch Großbritannien. In der Folge verhungerten 250.000 Menschen. Rosina hielt die Folgen in ihrem Tagebuch fest:
»Die Menschen starben auf offener Straße, die Leichen wurden von der städtischen Müllabfuhr auf Karren weggebracht. Die Mehrheit der Toten war alt und arm.«
Rosina Asser Pardo (2018): 548 Tage unter falschem Namen, Berlin, S.35.
Die knappen Lebensmittel kosteten auf dem Schwarzmarkt viel Geld. Während Rosinas Eltern diese Preise gerade noch zahlen konnten, waren sie für die meisten unerschwinglich. Viele Angehörige der jüdischen Gemeinde wie Angestellte, Handwerker/-innen oder einfache Arbeiter/-innen litten Hunger. Eines Tages traf Rosina ihre Tante Allegra, die sie verzweifelt darum bat, ihrer Mutter auszurichten, dass sie verhungere. Doch Rosina gab die Nachricht nicht weiter. Sie schämte sich für ihre Tante.
Die Ausgrenzung und Demütigung der jüdischen Bevölkerung durch die deutschen Besatzer hatte begonnen, doch Rosinas Leben ging zunächst scheinbar unbeschwert weiter. Sie vertrieb sich die Zeit mit Biko, einem Büchsenwurfspiel, im Hof der Tsimiski-Straße 33.
Ihre Tagebucheinträge zeigen jedoch, dass sie die angespannte Atmosphäre in der Stadt durchaus wahrnahm. Juden und Jüdinnen wurde der Besuch einiger Restaurants und Cafés verboten. Sie mussten ihre Telefonapparate, Radiogeräte und Klaviere abgeben. Willkürliche Verhaftungen und Demütigungen auf den Straßen nahmen zu. Der jüdische Friedhof wurde enteignet und zerstört. Auf seinem Gelände wurde nach dem Krieg die Aristoteles-Universität errichtet.
Die Bedrohung kam auch für Rosina näher, als die Besatzer befahlen, dass sich jüdische Männer zwischen 18 und 45 Jahren am 11. Juli 1942 auf dem Freiheitsplatz im Zentrum Salonikis einfinden sollten. Wer nicht erschien, wurde verhaftet und möglicherweise hingerichtet. Unter Aufsicht der Gestapo registrierten Beamte rund 9.000 Männer. Sie bekamen eine Karte mit ihrem Namen, Beruf, ihrer Adresse und einer Seriennummer. Männer, die im Krieg gekämpft hatten und Angestellte der jüdischen Gemeinde erhielten einen Freistellungsausweis.
Auch Rosinas Vater war unter den einbestellten Männern. Doch als er sah, dass die Männer unter dem Gelächter deutscher Soldaten in der sengenden Julisonne durch gymnastische Übungen gequält und gedemütigt wurden, kehrte er auf dem Absatz um.
Am 13. Juli 1942 war die Registrierung schließlich abgeschlossen. Rosinas Vater war auch registriert worden und hatte die Nummer 5.917 erhalten. Zusammen mit anderen Männern sollte er Zwangsarbeit auf einer Baustelle leisten. Durch ein ärztliches Attest, das ihm eine Herzerkrankung bescheinigte, gelang es ihm, der Schwerstarbeit in der glühenden Sonne zu entgehen. Die Familie war erleichtert, aber die Angst vor einer Verhaftung durch die Deutschen blieb weiterhin bestehen. Das konnte auch Rosina spüren.
Zwangsarbeit der Saloniker Juden und Jüdinnen
Im Anschluss an die Demütigungen auf dem Freiheitsplatz verschleppten die deutschen Besatzer noch im Juli 1942 9.000 Juden und Jüdinnen aus Saloniki zur Zwangsarbeit in verschiedene Teile Griechenlands. Unzureichende Kleidung und mangelhafte Verpflegung machten die körperliche Schwerstarbeit in der glühenden Hitze für sie zur Qual. Viele überlebten nicht.
Einige konnten gegen die Zahlung eines Lösegelds gerettet werden. Die Mitglieder der Gemeinde legten zusammen, um die Summe von 100.000 US-Dollar aufzubringen und Zwangsarbeiter/-innen freizukaufen. Außerdem musste die Gemeinde den 35 Hektar großen alten jüdischen Friedhof der deutschen Verwaltung übergeben. Diese begann im Dezember 1942 mit der Zerstörung: Die 350.000 Gräber wurden geschändet und die Grabsteine als Baumaterial verwendet.
Die Aufarbeitung der Zwangsarbeit in der deutschen Besatzungszone in Griechenland hat erst begonnen. Vieles ist unerforscht. Dieser Kurzfilm zeigt, wie der zufällige Fund eines Fotoalbums auf einem deutschen Flohmarkt zum wichtigen Teil der Spurensuche wurde:
https://www.stiftung-denkmal.de/aktuelles/kurzfilm-karya-1943-toedliche-zwangsarbeit-im-besetzten-griechenland.
Die Verfolgung von Juden und Jüdinnen in Saloniki
Rechtes Gedankengut und antisemitische Anfeindungen zeigten sich in Saloniki lange vor dem Einmarsch der Deutschen. Hetzkampagnen und Drohungen gegen die jüdische Bevölkerung nahmen bereits Anfang der 1930er Jahre zu. 1931 steckten Antisemiten den jüdischen Stadtbezirk Campbell in Brand. Daraufhin wanderten in den folgenden drei Jahren 10.000 Juden und Jüdinnen nach Palästina aus. Die jüdischen Einwohner/-innen der Stadt fühlten sich im Laufe der Jahre immer schutzloser.
Auch während der deutschen Besatzung Salonikis ab April 1941 tolerierten viele der christlichen Bewohner/-innen stillschweigend die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Umgehend brachten Besitzer/-innen von Restaurants und Cafés in Eigeninitiative Schilder mit der Aufschrift »Juden unerwünscht« an. Zur Zeit des Einmarsches der Wehrmacht lebten siebzig Prozent der jüdischen Bevölkerung Griechenlands in Saloniki, das waren etwa 49.000 Personen.
Im November 1941 verlangte Adolf Hitler bei einem Treffen mit Heinrich Himmler, dem Reichsführer-SS, »jüdische Elemente aus S. [Saloniki] zu entfernen«. Am 20. Januar 1942 sprachen führende Vertreter von deutschen Behörden und der NSDAP am Berliner Wannsee über den systematischen Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas. Das von Adolf Eichmann verfasste Protokoll verwies dabei auch auf 69.000 griechische Juden und Jüdinnen. In Saloniki arbeiteten die Wehrmacht und Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes gemeinsam an der Verfolgung.
Teile Griechenlands waren von Bulgarien und Italien, die mit dem Deutschen Reich verbündet waren, besetzt worden. Die Deutschen versuchten, ihre Verbündeten davon zu überzeugen, auch die dortige jüdische Bevölkerung in Konzentrationslager zu deportieren. In der bulgarischen Besatzungszone stimmte man schließlich zu und verschleppte fast alle dort lebenden Juden und Jüdinnen in das deutsche Vernichtungslager Treblinka im besetzten Polen. Italien dagegen verweigerte die Auslieferung der jüdischen Bevölkerung, bis die italienische Regierung 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten aushandelte und daraufhin von deutschen Truppen besetzt wurde.
Ab März 1943 musste die jüdische Bevölkerung Salonikis in insgesamt fünf verschiedenen Ghettos leben. Das größte war das Baron-Hirsch-Ghetto am alten Bahnhof. Rosina erinnerte sich später noch deutlich, was sie aus dem Fenster ihres Verstecks beobachtete:
»Damals konnten wir aus dem Verborgenen […], die bemitleidenswerten Kolonnen der Salonicher Juden beobachten, die zu Fuß durch die Tsimiksi-Staße zum Übergangslager Baron Hirsch gebracht wurden. Die Augen meines Vaters wurden jedes Mal feucht, weil er damit rechnete, dass auch seine Mutter unter ihnen sein könnte. Tränen habe ich danach nie wieder in seinen Augen gesehen.«
Rosina Asser Pardo (2018): 548 Tage unter falschem Namen, Berlin, 50.
Vom Baron-Hirsch-Ghetto aus verschleppten die deutschen Besatzer Juden und Jüdinnen in insgesamt zwanzig Zugtransporten in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Insgesamt wurden etwa 46.000 Juden und Jüdinnen aus Saloniki deportiert, 97 Prozent der jüdischen Bevölkerung. Bis zu 7.000 Mitglieder der jüdischen Gemeinde konnten sich noch in die italienische Besatzungszone retten, die aber ab September 1943 auch unter deutsche Kontrolle geriet.
Seit dem 6. Februar 1943 lebten Rosina und ihre Familie in einem der fünf Ghettos, die in Saloniki eingerichtet wurden. Ihr Ghetto lag im Stadtbezirk Exochés in der Evzoni-Straße. Zunächst durfte Rosina weiter auf ihre Schule gehen. Sie ging gerne dorthin: Das Treffen mit ihren Freund/-innen bot ihr einen wichtigen Halt. Als es Jüdinnen und Juden nicht mehr erlaubt war, die öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, wurde der Schulweg zur Herausforderung:
»Als uns verboten wurde, die Straßenbahn zu benutzen, und wir gezwungen waren, lange Wege zu Fuß zu bewältigen, kam Resignation in unseren Kinderseelen auf. Ich versuchte herauszufinden, was mich von all den anderen Kindern unterschied, fand aber nichts – und das regte mich sehr auf.«
»Nach dem ersten Fußmarsch mit meiner älteren Schwester Lily kam ich verweint in der Schule von Frau Valagianni an. Ich war müde, wir hatten uns verspätet; ich weinte bitterlich […]. Herr und Frau Valagianni nahmen mich mit ins Büro, um mich zu trösten. Sie kamen mir wie Engel vor, die dem Dunst der Ungerechtigkeit entstiegen.«
Rosina Asser Pardo (2018): 548 Tage unter falschem Namen, Berlin, S. 40.
Kurze Zeit später mussten Rosina und ihre Familie wie alle Juden und Jüdinnen einen gelben Stern aus Stoff auf ihre Kleidung aufnähen. Dadurch sollte erkennbar sein, wer jüdisch war und ausgegrenzt werden sollte. Viele andere jüdische Kinder gingen an diesem Tag nicht zur Schule. Rosina und ihre Schwester aber doch! Sie wollten den Deutschen die Stirn bieten, zeigen dass sie keine Angst hatten und nicht bereit waren, auf den Unterricht zu verzichten.
Nur wenige Tage später wurde das Exochés-Ghetto von der Waffen-SS, der griechischen Polizei und der jüdischen Ghetto-Polizei abgeriegelt. Niemand kam mehr in das Ghetto herein oder heraus. Nun war Rosina von der Außenwelt abgeschnitten: Sie konnte weder zur Schule gehen, noch von ihrer Freundin Marie besucht werden. Rosinas Vater verlor seine Arbeit, denn jüdische Geschäfte wurden geschlossen.
Am 1. März 1943 mussten alle Juden und Jüdinnen ihr gesamtes Eigentum, Bargeld, Gold und andere Wertsachen registrieren lassen. Rosina erinnert sich daran, dass ihre Eltern Bettstützen aufschraubten, um ihren Schmuck darin zu verstecken. Rosina bemerkte, dass auch ihre Familie immer ängstlicher und panischer wurde. Hatte sie doch auch von den Gerüchten gehört, dass jüdische Griech/-innen ins besetzte Polen deportiert werden sollten. Sie bereiteten sich auf eine mögliche Verhaftung vor und kauften warme Kleidung und einen Rucksack für jedes Kind.
Am 15. März 1943 verließen schließlich 2.800 jüdische Menschen in vierzig Zugwaggons das Baron-Hirsch-Ghetto, um in die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka verschleppt zu werden. 2.191 von ihnen wurden sofort nach der Ankunft ermordet.
Die Deportationen endeten erst Monate später, nämlich am 10. August 1943. Mit 19 folgenden Transporten wurden über 46.000 weitere jüdische Frauen, Männer und Kinder in das besetzte Polen verschleppt. 37.387 von ihnen wurden allein in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Viele weitere starben dort an den Folgen von Hunger und den katastrophalen Lebensbedingungen. In Saloniki, einer Stadt, die über 2000 Jahre vom jüdischen Leben geprägt war, gab es im August 1943 keine Juden und Jüdinnen mehr auf den Straßen.
Liste der 104 Männer
Am 7. März 1943 bestellte der Gemeinderabbiner Zvi Koretz Rosinas Vater zusammen mit 103 anderen Männern ein. Er teilte ihnen im Beisein des SS-Hauptsturmführers Alois Brunner mit, dass sie alle Geiseln seien und getötet würden, falls jemand versuchen würde, aus dem Ghetto zu fliehen. Rosina erinnerte sich später, dass ihr Vater sich nach seiner Rückkehr dennoch schwor, keine Flüchtenden zu verraten. Diese Zusammenkunft war letztendlich ausschlaggebend für die Flucht der Familie aus dem Exochés-Ghetto.
Zvi Koretz hatte in der Gemeinde, die er seit 1933 leitete, keinen guten Ruf. Die Gemeindemitglieder vertrauten ihm nicht und sahen den aus Polen stammenden Rabbiner nicht als einen der ihren an. Für sein Amt hatte er innerhalb kurzer Zeit Griechisch und Ladino gelernt. Als 1943 die Deportationen der jüdischen Bevölkerung in die Vernichtungslager begann, versuchte Koretz, diese durch Verhandlungen mit den Deutschen zu stoppen. Gemeinsam mit dem orthodoxen Bischof Gennadios traf er sich mit Kriegsverwaltungsrat Merten. Das Treffen verlief ohne Erfolg.
Am 2. August 1943 wurde auch Koretz zusammen mit seiner Frau und 74 Mitgliedern des Judenrats in das Lager Bergen-Belsen gebracht. Koretz starb kurz nach der Befreiung des Lagers an Typhus. Viele Juden und Jüdinnen glaubten, dass Koretz, der gut Deutsch sprach, auch darüber informiert war, was in Auschwitz-Birkenau geschah. Sie unterstellten ihm, etwas zu verschweigen um Unruhen zu unterdrücken. Sie gingen davon aus, dass er dies womöglich tat, um von den Deutschen begünstigt zu werden.
An einem Sonntag im April 1943 legte Rosina zusammen mit ihrer fünfjährigen Schwester den langen und für die kleine Schwester sehr anstrengenden Weg aus dem Exochés-Ghetto zurück. Zuvor hatte ihre Mutter den gelben Stern, der sie als Jüdin kennzeichnete, von ihrem Mantel abgetrennt.
An einem vereinbarten Treffpunkt wartete Phädra Karakotsos auf sie. Sie und ihr Mann Giorgos, ein Arzt, wollten Rosinas Familie verstecken! Von nun an hieß Rosina Roula, ihren Tarnnamen sollte sie bis zum Ende der Besatzung beibehalten. Noch am selben Abend folgten Rosina ihre ältere Schwester Lily und in der Nacht darauf ihre Eltern ins Versteck. Die Großmutter mussten sie ohne ein Wort des Abschieds zurücklassen, da der Platz für weitere Menschen nicht reichte. Rosina sollte den Anblick der alten Frau ihr Leben lang nicht vergessen können.
Rosinas Eltern wagten sich später noch einmal ins Ghetto: Verkleidet und mit falschen Ausweisen, die sie als Christ/-innen ausgaben, gingen sie dieses Risiko ein, um Gold aus dem Garten einer befreundeten Familie zu holen, das sie vor ihrer Flucht dort vergraben hatten. Im Ghetto stellten sie fest, dass ihr gesamter Hausrat geplündert worden war und erfuhren, dass Rosinas Großmutter und ihre Hauslehrerin verhaftet und ins besetzte Polen deportiert worden waren.
Trotz der bedrückenden Atmosphäre und der schlechten Nachrichten schaffte es Rosina beim Spielen immer wieder dem Schrecken des Alltags zu entkommen. So wurde die Dachterrasse zu einem großen Schiff, das Rosina, ihre kleine Schwester und den Sohn des Ehepaars Karakotsos in freie, ferne Länder brachte. In ihrem Tagebuch gelang es ihr, das Erlebte nicht nur festzuhalten, sondern auch ansatzweise zu verarbeiten. Insgesamt verbrachten Rosina und ihre Familie 548 Tage im Versteck der Familie Karakotsos.
Dass Rosina und ihre Familie die Zeit im Haus der Helfer/-innen unbeschadet überstanden, lag auch daran, dass ein österreichischer Wehrmachtoffizier sie schützte. Er wusste, dass sich dort Menschen versteckten. Um sie zu schützen verhinderte er, dass die Deutschen in der Wohnung Zimmer beschlagnahmten oder unangekündigte Kontrollbesuche durchführten. Einmal gelang es ihm jedoch nicht: Bei einer Kontrolle versteckte sich Rosina mit ihrem Vater im Schlafzimmerschrank, ihre Mutter mit ihrer Schwester auf dem Küchenbalkon.
Flucht und Verstecke der wenigen Überlebenden
Es war risikoreich aber möglich, Verfolgten zu helfen. In Griechenland fanden jüdische Verfolgte vor allem in Dörfern und in Athen Unterstützung. In Athen gab es ein weit größeres Maß an Solidarität und Hilfe als in Saloniki. Rosinas Rettung war eine Ausnahme.
Die multikulturelle Hafenstadt Saloniki hatte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ihre Vielfalt verloren. Türkischsprachige Stadtbewohner/-innen mussten ihre Heimat 1923 in Richtung Türkei verlassen, in umgekehrter Richtung kamen christlich-orthodoxe Griech/-innen aus Kleinasien in Saloniki an. Viele blieben jahrelang in provisorischen Unterkünften und vertraten radikale griechisch-nationalistische Ansichten. Sie hatten Vorurteile gegen die seit Jahrhunderten in Saloniki lebenden Juden und Jüdinnen, deren Sprache Ladino sie nicht verstanden.
Die Politik der griechischen Verwaltung, die sich gegen die jüdische Bevölkerung richtete, tat ihr Übriges. 1932 verbot die Regierung beispielsweise den Kindern, Schulen zu besuchen, in denen auf anderen Sprachen als Griechisch unterrichtet wurde. Viele mussten daraufhin an griechische Schulen und Universitäten wechseln. Während der Verfolgung erlebten nur wenige Juden und Jüdinnen in Saloniki Hilfe von christlichen Griech/-innen. Diese nahmen die Diskriminierung und Verfolgung ihrer jüdischen Nachbar/-innen während der deutschen Besatzung hin.
Aus diesem Grund flohen viele Juden und Jüdinnen nach Athen. Sie hofften in der Anonymität der Großstadt besser untertauchen zu können. Lebten vor dem Krieg etwa 3.000 jüdische Menschen in Athen, so stieg ihre Zahl während des Krieges auf etwa 7.000 an. Athen stand zwar unter deutscher Besatzung, war aber von einem Gebiet umgeben, das von Italien besetzt war.
Griechenland war vom Deutschen Reich, von Italien und von Bulgarien besetzt, die das Land in verschiedene Besatzungszonen aufgeteilt hatten. Vor allem die Italiener/-innen waren wichtige Fluchthelfer/-innen. Militärs und Diplomaten stellten griechischen Juden und Jüdinnen auch bei nur entfernter verwandtschaftlicher Beziehung italienische Papiere aus, die ihnen die Flucht ermöglichten. Außerdem versteckten Orthodoxe und römisch-katholische Geistliche Juden und Jüdinnen in Kirchen und Klöstern. Auch die Athener Polizei und die Ausländerbehörde stellten falsche Papiere aus.
Doch nachdem die italienische Regierung im September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten ausgehandelt hatte und daraufhin von deutschen Truppen besetzt wurde, änderte sich auch in Athen die Lage. Die Deutschen begannen mit den Vorbereitungen für die Deportation der Athener Juden und Jüdinnen wie zuvor in Saloniki. Fast alle Deportierten starben in Auschwitz-Birkenau. Historiker/-innen schätzen heute, dass mehr als achtzig Prozent der griechischen Juden und Jüdinnen ermordet wurden.
Am 26. Oktober 1944 wurde ganz Saloniki und damit auch Rosinas Familie befreit. Ihr Überleben verdankten sie der Familie Karakotsos, bei der sie untergetaucht waren. Die Karakotsos hatten sich durch ihre uneigennützige Hilfe selbst in Lebensgefahr gebracht. Als Dank für ihre Rettung überschrieb Rosinas Vater der Familie zwei Wohnhäuser. Nach dem Abzug der Deutschen packte Rosinas Familie ihre Koffer und mietete sich ein kleines Haus. Ihre erste Mahlzeit dort nahmen sie auf drei Koffern ein, in denen sich ihr gesamter Besitz befand.
Ruhe kehrte in ihrem Leben jedoch noch nicht ein. Die Stadt beschlagnahmte ihr Haus und die Familie musste sich eine neue Unterkunft suchen. Unterschlupf fanden sie in der Tsimiski-Straße 33 bei den Negrepontis, ihren früheren Nachbar/-innen. Ihre eigene Wohnung in der Tsimiski-Straße 35 war weiterhin von Anderen belegt. Die Möbel und Teppiche, die einst ihnen gehört hatten, gab es nicht mehr.
Mit der Zeit im Versteck verband Rosina vor allem Stille. Daher empfand sie ihre wiederbeginnende Schulzeit in Athen als ein »lebenbejahendes, rauschendes Fest«. Sie lernte mit Freude und war fasziniert vom Überfluss an Musik, seien es Radiosendungen, Konzerte, Theater oder Opernaufführungen. Auch ihre Familie versuchte die Zeit der Stille durch abendliche Konzerte in den eigenen Wänden zu verdrängen. Rosinas kleine Schwester begleitete den familiären Gesang am Klavier. Rosina ging mit ihren Freund/-innen auf Partys und tanzte begeistert Samba und Swing. Sie hatte viel nachzuholen!
Später studierte sie Jura in Athen und Paris. Auch in dieser Zeit waren Kunst und Kultur stets ihre Begleiterinnen. Anschließend arbeitete Rosina sowohl in der Firma ihres Mannes als auch in der des Vaters. Sie setzte sich mit der gesellschaftlichen Stellung von Frauen, dem Zionismus, der jüdischen Gemeinde und den Ursachen und Folgen des Holocaust auseinander. Mit ihrem Mann David hatte sie drei Kinder und neun Enkelkinder.
Doch trotz der scheinbaren Sicherheit empfand sie sich selbst als einen Menschen, der voller Ängste und Hemmungen war. Ihre Erinnerungen quälten sie und sie sah es als ihre Verpflichtungen an, die von ihr erlebten und beobachteten Gräueltaten zu dokumentieren.
Rosina erzählte ihre Geschichte
Um die Erinnerungen der Überlebenden festzuhalten, interviewten Wissenschaftler/-innen der Freien Universität Berlin Zeitzeug/-innen des deutschen Terrors in Griechenland. Befragt wurden unter anderen Widerstandskämpfer/-innen, Überlebende von Massakern und Bombenangriffen, Juden und Jüdinnen sowie Personen, die bei Razzien in Athen und anderen Orten verhaftet und in das Deutsche Reich deportiert wurden.
Die Zeitzeug/-innen berichteten auch von ihrem Leben nach dem Krieg und gaben somit ein umfangreiches Bild von der deutschen Besatzung und deren Folgen für die Menschen wieder. Eine von ihnen ist Rosina, deren Bericht Du hier anschauen kannst: https://archive.occupation-memories.org/de/interviews/mog046.
Die Erinnerung an den Holocaust in Saloniki
Lange Zeit erinnerten nur die jüdischen Gemeinden in Griechenland an den Holocaust. Im Mittelpunkt der Erinnerung stand die Hauptstadt Athen. Dies änderte sich, als Saloniki 1997 Kulturhauptstadt Europas wurde. Nun rückten die Verfolgung und Ermordung der dortigen jüdischen Gemeinde in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Zunächst wurde ein Denkmal außerhalb der Innenstadt errichtet. 2005 wurde es schließlich auf den zentralen Freiheitsplatz, wo 1942 die Demütigungen jüdischer Männer stattgefunden hatten, versetzt.