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8. Juni 1927Sabinas Geburt
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August 1942Ermordung der Mutter
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1943Versteck unter einem Kaninchenstall
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April 1944Versteck im Waldbunker
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7. August 1944Befreiung und Neuanfang
Am 10. Mai 2005 hielt Sabina eine Rede in Berlin, in »der Höhle des Löwen«. Sie war sehr aufgeregt. Im Publikum saßen der Bundeskanzler und der Bundespräsident, Botschafter/-innen aus der ganzen Welt und Vorsitzende bedeutender Organisationen.
»Ich bin zutiefst beeindruckt angesichts dieser Ehre und überwältigt von der Verantwortung. Denn ich bin die Stimme der sechs Millionen misshandelten und ermordeten Juden, darunter eineinhalb Millionen Kinder, und ich bin auch die Stimme der wenigen, die davongekommen sind, – die Stimme der Überlebenden.«
Sabina van der Linden-Wolanski, Diana Bagnall (2015): Drang nach Leben, Berlin, S. 227.
Sabina war fast 80 Jahre alt, aber die Bilder der Vergangenheit, der Verfolgung der Juden und Jüdinnen in ihrer Heimat, sah sie noch genau vor sich.
»Ich bin die einzige in meiner gesamten Familie, die überlebt hat. Ich bin Zeugin der unerträglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Versucht nicht die ältere Frau zu sehen, die vor euch steht, sondern ein elfjähriges Mädchen aus Borysław, einem kleinen Ort im damaligen Polen. Es ist der 1. Juli 1941, ein wichtiges Datum – die Wehrmacht besetzt unsere Stadt. […] Ich […] werde Zeugin von unbeschreiblichen Grausamkeiten, Morden, Vergewaltigungen und Folterungen. Bestürzung, völliges Unverständnis – warum? Warum geschieht dies? Wie können Menschen, ganz normale Menschen, so herzlos und grausam sein? Warum tut man uns dies an?«
Sabina van der Linden-Wolanski, Diana Bagnall (2008): Drang nach Leben (eigene Übersetzung des Autors), Sydney, S. 284.
Damals, im Sommer 1941, war Sabina 14 Jahre alt.
Sabina hatte ihren eigenen Willen
Sabina Haberman wurde am 8. Juni 1927 in Borysław geboren, einer kleinen Stadt im damaligen Polen. Sie hatte einen drei Jahre älteren Bruder, Josef, der immer nur Josek genannt wurde. Sabina hieß Binka. Ihre Mutter nannte sie zuweilen »Zosia Samosia«. Das war der Name eines eigensinnigen, willensstarken Mädchens in einem Gedicht von Julian Tuwim. Die Texte dieses polnisch-jüdischen Schriftstellers waren damals sehr beliebt.
Ihre Eltern führten einen Getreidegroßhandel. Sabina liebte ihre Mutter über alles. Am liebsten war sie im hinteren Raum des Geschäfts, lag auf einem Reis- oder Zuckersack, ließ die Beine baumeln und schaute sich ein Buch an, während ihre Mutter vorne Kund/-innen bediente.
Sabina war ein Stadtkind. Sie wollte nicht reiten, sie konnte keinen Baum von dem anderen unterscheiden und Gartenarbeit langweilte sie. Aber sie liebte es zu lesen, durch die Stadt zu laufen und sich schicke Kleider anzuziehen. Sabina erhielt auch Klavierunterricht.
Borysław – eine dreckige Stadt
Borysław war eine Stadt mit 45.000 Einwohner/-innen. Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte man Erdölvorkommen in der Gegend von Borysław. 1861 wurde dort einer der ersten Erdölfördertürme der Welt errichtet. Die Stadt boomte und war fünfzig Jahre später eines der wichtigsten Erdölfördergebiete der Welt.
Borysław war eine schmutzige Industriestadt. Für Sabina war es ihre Heimat. Als Kind konnte man in den Gassen und verwinkelten Hinterhöfen und Gärten spielen. Kinder aus jüdischen, und christlichen Familien waren zusammen unterwegs und niemand fragte nach der Herkunft oder ob sie zuhause Jiddisch, Polnisch oder Ukrainisch sprachen. Nur bei Streitereien tauchten manchmal Vorurteile auf.
Borysław liegt in einer wunderschönen Landschaft, am Fuße der Karpaten mit ihren schier endlosen Wäldern. Als Borysław 1939 von der Roten Armee und 1941 von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde, war es wegen der Ölindustrie von großer wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung.
Sabina musste ihr schönstes Kleid verschenken
Sabina fehlte es an nichts. Es gab ein Dienstmädchen, Kasia, die Sabinas langes, dickes Haar wusch und daraus Zöpfe flocht und ihr die Stiefel schnürte. Zweimal im Jahr erhielt sie neue maßgeschneiderte Kleider. In Borysław gab es ein Café, in dem Sabina ein eigenes Kreditkonto hatte, so dass sie dort regelmäßig mit ihren Freund/-innen heiße Schokolade bekam und Kuchen essen konnte.
Aber die Mutter hatte ein großes Herz und half regelmäßig ärmeren Menschen, auch noch in Zeiten, als es der Familie Haberman nicht mehr so gut ging. Sie versorgte sie zum Beispiel mit frischgebackenem Brot. Einmal gefiel Sabina ein neues Kleid nicht und sie schenkte es ihrer besten Freundin Klara. Sabina dachte, sie sei genauso warmherzig und großzügig wie ihre Mutter.
Aber als die Mutter das herausfand, forderte sie Sabina auf, Klara ihr Lieblingskleid zu schenken. Sabina war sehr traurig und heulte Rotz und Wasser. Aber sie hatte etwas gelernt: Wenn man etwas Gutes tut, dann muss es von ganzem Herzen sein. Etwas zu verschenken, was man ohnehin nicht haben will, ist keine gute Tat.
Schon kurz nach Kriegsbeginn 1939 besetzten deutsche Soldaten am 18. September Borysław. Sabina war beeindruckt von ihren schicken Uniformen und großen Motorrädern. Nach wenigen Tagen verließen sie die Stadt wieder. Laut einem Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vom 23. August 1939 marschierte die Rote Armee in das östliche Polen ein.
Von jetzt an gehörte Borysław zur Sowjetunion, deren Regierung kommunistisch war. Besitzer/-innen von Fabriken, Geschäften, Häusern oder landwirtschaftlicher Nutzflächen wurden vom Staat enteignet. Dadurch veränderte sich das Leben der Familie Haberman einschneidend. Sie verloren ihren Großhandel und mussten in ein ärmeres Viertel umziehen. Auch das Dienstmädchen Kasia mussten sie entlassen.
Sabina bemerkte die Unterschiede zu früher auch in der Schule. Sie liebte Fremdsprachen und Geschichte. Mit Russisch kam eine neue Fremdsprache hinzu. Der Geschichtsunterricht wurde plötzlich ganz anders. Alles, was ihr vorher beigebracht worden war, zählte jetzt nicht mehr. Aber da Sabina das Fach mochte, gewöhnte sie sich an die neue Sichtweise.
Sabina bemerkte auch noch etwas anderes: Vorher gab es immer mal wieder Lehrer/-innen, die antisemitisch eingestellt waren und jüdische Kinder benachteiligten. Das war jetzt verboten.
Ostgalizien unter sowjetischer Herrschaft
Seit 1939 gehörte Ostgalizien, wo Borysław lag, zur Ukraine, einem Teilstaat der Sowjetunion. Die sowjetische Besatzungsmacht ging mit aller Härte gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner/-innen vor. Zigtausende Menschen wurden verhaftet und deportiert. Das betraf auch Juden und Jüdinnen, allerdings nicht Sabina und ihre Familie.
Viele Ukrainer/-innen in Ostgalizien waren nationalistisch gesinnt, auch weil die polnischen Behörden sie unterdrückt hatten, als die Region zu Polen gehört hatte. Sie wollten die Unabhängigkeit ihres Landes und verabscheuten auch das sowjetische Regime. Ähnlich wie es die Nationalsozialisten taten, machten sie auf antisemitische Weise vor allem Juden und Jüdinnen für den Kommunismus und die Gewalttaten in der Sowjetunion verantwortlich.
Kurz bevor die Rote Armee im Sommer 1941 vor den Deutschen aus Ostgalizien floh, ermordete die sowjetische Geheimpolizei noch sehr viele Gefangene. Ein Teil der Bevölkerung machte dafür nicht nur die kommunistischen Besatzer verantwortlich, sondern auch die jüdische Minderheit.
Der Pogrom in Borysław
Gerade 14 Jahre alt, erlebte Sabina die Rückkehr der Deutschen: Im Sommer 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Am 1. Juli 1941 marschierten die deutschen Soldaten wieder in Borysław ein.
Schon nach zwei Tagen gab es ein Pogrom. Aber es waren nicht die deutschen Besatzer, die wüteten. Diese waren nur Zuschauer. Sabina konnte nicht verstehen, dass es ihre ukrainischen und auch polnischen Nachbar/-innen waren, die über sie herfielen. Etwa 200 jüdische Borysławer/-innen wurden ermordet. In diesen Tagen erlebte Sabina erstmals richtige Angst. Sie hatte bis dahin geglaubt, Angst hätte man, wenn einem zur Strafe Süßigkeiten weggenommen werden.
Gewalt gegen Juden und Jüdinnen war fortan Alltag unter der deutschen Besatzungsherrschaft.
»Nichts in meinem Leben hatte mich darauf vorbereitet – auf das Morden, Verstümmeln, Vergewaltigen und Misshandeln, das in den Straßen unserer Stadt wütete. [...] Es traf uns gänzlich unvermutet. Nichts war organisiert. Niemand war vorbereitet. Von der Straße her hörten wir Rennen und Schreien und wir versteckten uns, wo wir nur konnten; im Keller, hinterm Regal, unterm Bett, egal wo – wie Mäuse, die auseinanderstieben und auf jedes Loch zustürzten.«
Sabina van der Linden-Wolanski, Diana Bagnall (2015): Drang nach Leben, Berlin, S. 36f.
Sabinas Eltern
Sabinas Vater war Bankdirektor im nahe gelegenen Drohobyc, während er gleichzeitig mit seiner Frau Sala den Großhandel betrieb. Sabina hatte kein gutes Verhältnis zu ihm. Früher war er viel auf Handelsreisen unterwegs. Jetzt war er ein gebrochener Mann und konnte seine Familie nicht mehr beschützen.
Dafür war Sabinas Mutter Sala da. Sie war eine starke Frau, die alles für die Familie tat. Immer wieder lief sie ins Umland zu den Bauernhöfen und tauschte Wertsachen gegen Lebensmittel, die sie in einem großen Rucksack nach Hause brachte. Im offiziellen Sprachgebrauch hieß das »Schleichhandel« und wurde bestraft.
Sabinas Mutter sorgte dafür, dass sie nie hungern mussten. Nachdem sie 1942 verschleppt worden war, übernahm der ältere Bruder Josek die Verantwortung für Sabina. Ohne ihn hätte sie nicht überlebt.
Berthold Beitz – der »gute Deutsche«
Ein junger Deutscher, Berthold Beitz, kam im Juli 1941 in das besetzte Polen und wurde zum Chef der Erdölindustrie in Borysław. Er war über die Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung zutiefst entsetzt. Schon bald leistete er Widerstand gegen ihre Verschleppung, indem er sie als unersetzliche Arbeitskräfte beanspruchte.
Er zog teilweise noch Menschen aus den Deportationszügen heraus, mit denen sie in Vernichtungslager gebracht werden sollten. Er rettete mehrere hundert Juden und Jüdinnen, von denen etwa einhundert das Kriegsende erlebten.
Auch Sabina wurde durch Beitz gerettet. Ein Zettel mit seiner Unterschrift bescheinigte ihr, dass sie für die Erdölindustrie arbeitete. Als sie 2010 einmal wieder zu Besuch in Deutschland war, wollte sie ihn daher unbedingt treffen, weil er ihr und so vielen anderen Menschen geholfen hatte. In Essen kam es zu einer herzlichen Begegnung mit dem 96-jährigen Mann, der mittlerweile zu einem der einflussreichsten Industriemanager Deutschlands geworden war.
Kurz vor ihrem 15. Geburtstag schrieb Sabina viel in ihr Tagebuch. Sie erwähnte dort ihre Angst, die sie wegen der schrecklichen Dinge, die rund herum passierten, um ihre Familie und Freund/-innen hatte. Seit dem Pogrom in den ersten Tagen der deutschen Besatzung hatte es mehrere »Aktionen« gegeben, bei denen die deutsche Sicherheitspolizei und die ihr unterstellte ukrainische Miliz Juden und Jüdinnen verhafteten und in Vernichtungslager verschleppten oder gleich an Ort und Stelle erschossen.
Trotz der schrecklichen Umstände hatte Sabina auch glückliche Momente - sie verliebte sich. Imek war ein Freund ihres Bruders. Sabina himmelte ihn an und schrieb seitenweise über ihn im Tagebuch des Jahres 1942. Eine Woche vor ihrem Geburtstag schrieb Sabina, dass sie mit Imek zusammen sei.
»Hipp, hipp, hurra! Ich gehe mit Imek. Er hat gesagt, dass er auf mich steht, und überhaupt. Ich bin unglaublich glücklich, falls das möglich ist.«
Sabina van der Linden-Wolanski, Diana Bagnall (2015): Drang nach Leben, Berlin, S. 61.
Zu ihrem 15. Geburtstag am 8. Juni erhielt Sabina von ihrem Bruder eine reparierte Uhr als Geschenk. Zur Feier des Tages wurde sie von Josek und Imek zum Kuchen essen eingeladen. Sabina und Imek verbrachten viel Zeit miteinander.
Sabina sah ihre Mutter zum letzten Mal
Wenig später fand eine weitere »Aktion« der Deutschen statt. Sabina versteckte sich mit ihrer Mutter, doch sie wurden schon bald entdeckt. Sie wurden zu einem Kino getrieben, das als Sammelstelle diente. Dort wurden sie getrennt.
»Ein SS-Mann brüllte mich an, ich solle nach vorne kommen. Ich wich gegen den Körper meiner Mutter zurück und umklammerte verzweifelt ihre Hand. Er schlug mir mit einem Holzknüppel auf meinen Hinterkopf und riss mich von ihr fort. Hat sie geschrien? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß überhaupt nichts mehr von diesem letzten Augenblick, den ich mit meiner Mutter verbrachte. Nichts außer einer überflutenden, lähmenden Angst und völligem Unverständnis. Das konnte nicht wahr sein – das konnte doch nicht geschehen.«
Sabina van der Linden-Wolanski, Diana Bagnall (2015): Drang nach Leben, Berlin, S. 65.
Auch Sabinas Bruder Josek wurde von der Polizei aufgestöbert und zum Bahnhof gescheucht. Dort traf er seine Mutter. Aber dann wurde er aus der Menge herausgriffen, weil er als junger, kräftiger Mann Zwangsarbeit leisten sollte. Zum Abschied rief die Mutter ihm noch zu: »Pass auf die Kleine auf!«
Sabina wurde für mehrere Tage zur Zwangsarbeit herangezogen, kam dann aber wieder frei. Sie durfte wieder nach Borysław zurückkehren. Als sie ihre Mutter dort nicht mehr antraf, fiel sie in einen Schockzustand. Sie sagte wochenlang kein Wort mehr und schnitt sich ihre langen Haare ab. Josek versorgte sie.
Im Ghetto
Ab Oktober 1942 wohnten Sabina, Josek und ihr Vater im Ghetto. So wurden die Wohnbezirke bezeichnet, in denen die jüdische Bevölkerung wohnen mussten. Später kam noch das Arbeitslager für die Beschäftigten der Erdölindustrie dazu. Dort arbeiteten und wohnten Josek und Sabinas Vater. Sabina lebte jetzt allein im Ghetto.
Seit der deutschen Besatzung arbeitete Walek Eisenstein, der Vater von Sabinas Freund Imek, als Chef des jüdischen Ordnungsdienstes. Diese oft als »jüdische Polizisten« bezeichneten Männer waren in den besetzten Gebieten im Einsatz, um die Verordnungen der deutschen Behörden durchzusetzen. Darüber hinaus musste der jüdische Ordnungsdienst Gelder eintreiben, das Ghetto bewachen, Schleichhandel unterbinden, versteckte jüdische Männer, Frauen und Kinder ausfindig machen.
Sabina wurde von Imeks Vater als Teil der Familie angesehen und geliebt. Später wohnte sie auch bei ihnen und wurde dort versteckt.
Als alle Juden und Jüdinnen, die keine Zwangsarbeit leisteten, deportiert wurden, musste Sabina ein Versteck finden. Josek baute ihr ein Erdloch unter einem Kaninchenstall. So saß sie an ihrem 16. Geburtstag im Versteck. Dort gab es eigentlich nichts zu tun. Daher schrieb sie Tagebuch.
Sabina besitzt ein Foto, das sie bei ihrer späteren Verhaftung zeigt. Als das Foto aufgenommen wurde, wollte Sabina den Deutschen auf keinen Fall ihre Angst zeigen. Deshalb drehte sie sich zur Seite. Die deutsche Polizei dokumentierte ihre Arbeit und ließ die Filme in Fotolabors entwickeln. Dort arbeiteten Einheimische, die verbotenerweise Abzüge behielten.
Sabina war eine der Wenigen, die diese Verhaftung überlebte. Imeks Vater Walek, der Chef des jüdischen Ordnungsdienstes, besorgte ihr ein Versteck im Arbeitslager. Er kümmerte sich auch um Medizin, als Sabina an Diphterie, einer gefährlichen Lungenkrankheit, erkrankte.
Nachdem Sabina wieder gesund war, musste sie sich woanders verstecken. Josek fand immer wieder Familien, bei denen sie für einige Tage untertauchen konnte. Die Pol/-innen, die sie versteckten, riskierten dabei ihr Leben. Sabina versuchte, sich jeweils gut anzupassen.
Um nicht erkannt zu werden, musste Sabina so tun, als sei sie ein katholisches Mädchen. Polnisch war ihre Muttersprache, das war kein Problem. Sie musste aber auch regelmäßig in die Kirche gehen, die Gebete aufsagen und die religiösen Regeln auswendig lernen. Soviel hatte sie von ihrer jüdischen Religion nie gewusst.
»Wenn ich die Augen schließe, dann habe ich das Bild vor Augen, wie ich mit einem Rucksack von Haus zu Haus zog. Ich trug ein Kopftuch über dem Haar und eine Art Mantel. Bei wem und wo auch immer ich mich aufhielt, wollte ich mich gut einfügen. Ich bemühte mich sehr, alles richtig zu machen und mich gut zu benehmen, um diesen anständigen Menschen zu gefallen. [...] Mein Bruder war mein Fels in der Brandung, meine Verbindung zur Welt, während ich von einem Versteck zum nächsten weitergereicht wurde – immer in der Angst vor dem nächsten Abschied.«
Sabina van der Linden-Wolanski, Diana Bagnall (2015): Drang nach Leben, Berlin, S. 94.
Der Waldbunker
In den Wäldern von Borysław gab es viele Erdbunker, die von verzweifelten Juden und Jüdinnen als Verstecke errichtet wurden. Häufig halfen die Bewohner/-innen sich gegenseitig beim Bau, der Beschaffung und Verteilung von Lebensmitteln und beim Wachdienst. Auch Josek hatte es monatelang nach der körperlich anstrengenden Zwangsarbeit noch fertiggebracht, nachts in den Wald zu laufen und mit Freunden eine geschützte Höhle zu bauen.
m April 1944 war es endlich soweit. Das seit einem Jahr vorbereitete Waldversteck war fertig. Gemeinsam mit neun anderen Personen hauste Sabina hier gut drei Monate lang. Sie wurden von Helfer/-innen versorgt, die hin und wieder Nahrungsmittel brachten: Brot, Marmelade, Kräutertee, selten eine warme Mahlzeit. Wasser gab es im Wald zur Genüge, man konnte sich aber nur nachts waschen.
In diesem Erdbunker, wo sie kaum einmal Tageslicht zu sehen bekam, verbrachte Sabina ihren 17. Geburtstag. Sie wusste, dass die sowjetische Armee näherkam und dass die Befreiung nahte. Aber würde sie bis dahin versteckt überleben können?
»Am 8. Juni war mein 17. Geburtstag. Doch weder erwartete ich, dass irgendjemand ihn feiern würde, noch wusste ich, ob ich Josek in diesem Monat sehen würde oder überhaupt jemand herauskäme, um nach uns zu sehen.«
Sabina van der Linden-Wolanski, Diana Bagnall (2015): Drang nach Leben, Berlin, S. 101.
Eine andere Person aus Borysław, Chaim Segal, hatte als Jugendlicher ebenfalls in einem Erdbunker überlebt. Später baute er ein Modell davon für die israelische Gedenkstätte Yad Vashem.
Der Chef des jüdischen Ordnungsdienstes
Nach einigen Wochen wurde die Lage im Erdbunker immer schwieriger. Nur noch selten kamen Helfer/-innen, um Lebensmittel vorbeizubringen. Dann wurde das Versteck verraten. Deutsche Polizisten und ihre ukrainischen Helfer kamen mit Hunden und zogen die verängstigten Menschen aus dem Erdloch. Sie wurden allesamt sofort umgebracht. Aber Sabina war an diesem Tag nicht dort.
Morgens war ein Mann erschienen, der sie abholte und ins Arbeitslager brachte. Dort saß sie den ganzen Tag in einem Raum eingesperrt. Imeks Vater Walek Eisenstein sagte kein Wort zu Sabina. Er saß zusammen mit ihr und weinte.
Als Chef des jüdischen Ordnungsdienstes wusste Walek von der bevorstehenden »Aktion« und hatte Sabina gerettet. Er selbst wurde wenig später zusammen mit seiner Familie deportiert und im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.
Über Walek Eisenstein gehen die Meinungen auseinander. Er half den Deutschen, versteckte jüdische Menschen zu finden, und wurde von einigen Überlebenden sogar als besonders brutal beschrieben. Aber Sabina hat eine andere Erinnerung an ihn. Für sie war er der Vater ihres Freundes, der sie geliebt und als Teil seiner Familie betrachtet hat. Sabina verdankte ihm ihr Leben.
»Ich liebte diesen Mann und kannte ihn nur als einen wunderbaren Menschen, der mich vergötterte und der mich liebte. Und hinterher, nach dem Krieg, fand ich heraus, dass ihm vorgeworfen wurde, versteckte Juden gesucht und hervorgeholt zu haben.
Ich glaube, dass die Rolle der jüdischen Polizei sehr fragwürdig ist. Vielen Menschen wurde vorgeworfen, sehr brutal gewesen zu sein, [...] aber ich liebte den Mann, ich liebe ihn noch immer. [...] Habe ich aufgehört, ihn zu lieben? Ich liebte den Mann, er war solch ein anständiger Mensch, er war der Vater meines Freundes.«
Der Tod des Bruders und Vaters
Sabina überlebte die Verhaftung im Wald, weil Walek sie an jenem Tag ins Arbeitslager holen ließ. Aber als sie zurück in den Wald kam, gab es kein Versteck mehr und alle Leute waren weg. Was sollte sie tun? Sie lief zurück in die Stadt, um ihren Bruder und Vater zu suchen. Erst nach einer Weile erfuhr sie, dass die beiden wenige Tage zuvor umgebracht worden waren.
Josek, der zur Zwangsarbeit beim Bau einer Landebahn für Flugzeuge eingeteilt war, hatte seinen Arbeitsplatz verlassen. Vielleicht wollte er sich zur nahen sowjetischen Front absetzen oder sich irgendwo verstecken, vielleicht wollte er auch einfach nur zu seiner Schwester, um sie die letzten Tage vor der Befreiung noch zu schützen. Aber er wurde entdeckt und am 19. Juli 1944 gemeinsam mit Sabinas Vater erschossen – zwei Wochen vor der Befreiung Boryławs durch die Rote Armee.
In Sabina breitete sich große Leere aus. Alle geliebten Menschen waren tot. Es gab nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. Sie setzte sich auf eine Bank und sah die letzten Juden und Jüdinnen aus Borysław, die zum Bahnhof geprügelt und in den Tod gefahren wurden. Sabina wäre am liebsten mitgelaufen.
Was sie beobachtete, war nicht nur die letzte Deportation aus Borysław, sondern aus dem gesamten Distrikt Galizien.
Zwei Wochen später kamen die sowjetischen Soldaten. Sabina war befreit. In Borysław, wo vor dem Einmarsch der Deutschen 17.000 Juden und Jüdinnen lebten, hatten gerade einmal 350 überlebt. Sabina war eine davon. Aber alle Verwandten und auch Imek waren tot. In der Stadt wurde die Befreiung gefeiert, aber Sabina war nicht zum Feiern zumute.
Sabina wurde im Sommer 1944 befreit. Für sie begann ein neues Leben, sie machte ihren Schulabschluss und arbeitete, um Geld zu verdienen. In der wenigen Zeit, die dann vom Tag noch übrigblieb, wollte sie aber endlich auch das Leben genießen. Anfangs gab es auch immer wieder Momente, in denen sie sehr traurig war, sich einsam und verlassen fühlte.
Sie wanderte über das ehemals deutsche, nun polnische Schlesien und Paris nach Australien – an das andere Ende der Welt – aus, wo sie mit ihrem Mann Zdenek eine Firma aufbaute und eine Familie gründete. Als sie sich unmittelbar nach dem Krieg kennenlernten, arbeitete er in einer Fleischerei, und wurde dann ein erfolgreicher Fabrikant und Geschäftsmann in Australien. Ihre Tochter Josie wurde 1950 geboren und ihr Sohn Phillip vier Jahre später. Für Sabina war es wichtig, Kinder zu bekommen, gerade weil sie ihre gesamte Familie verloren hatte.
»Mit meinem jetzigen Alter kann ich sagen, dass ich niemals aufgehört habe, eine enorme Menge Liebe zu benötigen. Das war mir immer sehr wichtig – ich bin ein sehr emotionaler Mensch, und der Verlust aller Menschen, einer absolut wunderbaren Mutter, die ein großes Vorbild war und immer noch ist, eines großartigen Bruders und meines Vaters, der Verlust der Familie in einer Situation, in der es eine große Fürsorge gab. [...]
Ich versuche, dass im täglichen Leben mit meiner Familie zu zeigen, als ich die Familie gründete, was... – für mich war es sehr wichtig, Kinder zu bekommen.«
Nach 18 Jahren ging die Ehe zu Ende. Sabina zog mit ihren Kindern in ein anderes Haus und gründete eine eigene Firma. Als Sabina fünfzig Jahre alt war, lernte sie Kjeld aus Dänemark kennen. Er war ihre große Liebe für den Rest des Lebens.
Sabina half, den Mörder ihres Bruders und ihres Vaters zu verurteilen
1967 wurde Sabina als Zeugin zu einem Gerichtsprozess nach Bremen geladen. Angeklagt war der Kommandant des Arbeitslagers in Borysław, Fritz Hildebrand. Er hatte die Erschießung von Sabinas Bruder und Vater befohlen.
Nun stand dieser Mörder vor Gericht. Sabinas Aussage trug dazu bei, dass Fritz Hildebrand zu lebenslanger Haft verurteilt werden konnte.
Sabina gab Steven Spielberg ein Interview
Erst in den 1990er-Jahren, Sabina war schon 65 Jahre alt, begann sie, sich ernsthaft mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ihre Kinder erfuhren erst sehr spät von dem, was Sabina während des Krieges durchgemacht hatte. 1993 fuhr sie nach Borysław, in die Stadt, in der sie ihre Kindheit, aber auch die schreckliche Zeit der Verfolgung erlebte. Die Erinnerungen trafen sie stärker als erwartet. Sabina war froh, ihre Kinder Josie und Phillip an ihrer Seite zu haben.
Zwei Jahre später wurde Sabina für die Shoah Foundation interviewt. Das ist eine 1994 gegründete Organisation, die versucht, möglichst viele Gespräche mit Überlebenden des Holocaust aufzuzeichnen. Der weltberühmte Regisseur Steven Spielberg hat sie gegründet, nachdem er den Film »Schindlers Liste« fertiggestellt hatte.
Mit »E.T.«, den »Indiana Jones«-Filmen und »Jurassic Park« hatte er Welterfolge geschaffen, bevor er sich reif genug fühlte, einen Film über den Holocaust zu machen. Da er jüdisch ist, war ihm dieses Thema eine Herzensangelegenheit. Der Film »Schindlers Liste« handelt von einem deutschen Firmenchef, der ähnlich wie Berthold Beitz in Borysław seine Stellung nutzte, um möglichst viele Juden und Jüdinnen zu retten.
Sabina schrieb ein Buch über ihr Leben
Zehn Jahre nach ihrem Interview erhielt Sabina eine Einladung nach Berlin, zur Eröffnung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas, wo sie ihre beeindruckende Rede hielt.
Sabina hatte sich nicht versprochen, als sie in ihrer Rede sagte, sie sei elf Jahre alt gewesen, als die Deutschen 1941 ihre Stadt besetzten. Im Jahr 2005 glaubte sie noch, sie sei 1930 geboren worden. Ihre Eltern hatten sie jünger gemacht, um sie vor Zwangsarbeit zu bewahren. In allen offiziellen Dokumenten stand fortan das Geburtsjahr 1930.
Ein Jahr nach ihrer Rede in Berlin reiste sie 2006 nach Polen und in die Ukraine, um für ihren Lebensbericht zu recherchieren. Erst jetzt fand sie ihr wirkliches Geburtsdatum, den 8. Juni 1927, heraus.
2008 veröffentlichte Sabina ihre Erinnerungen als Buch in Australien. Zwei Jahre später wurde es ins Deutsche übersetzt und von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas herausgegeben.
Sabina starb im Jahr 2011 im Alter von 84 Jahren. Ihre Mutter wurde getötet, als sie etwa 42 Jahre alt war, ihr Vater starb mit 46 Jahren. Ihr Bruder Josek und ihr Freund Imek wurden umgebracht, als sie zwanzig waren.