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28. Januar 1925Geburt
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1938Bar Mitzwa
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Juli 1943Abitur
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26. April 1944Auschwitz
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Januar 1945Todestransport
Sándor Hoffmann wurde 1925 in Ungarn geboren. Seine Eltern nannten ihn liebevoll »Sanyi«. Die Familie lebte in Szombathely, einer Stadt an der Grenze zu Österreich. Sándors Großvater und sein Bruder waren Eigentümer eines blühenden Kolonialwarenhandels und einer Essigfabrik.
In Ungarn gab es, wie in vielen europäischen Ländern, einen weit verbreiteten Antisemitismus, der sich je nach politischer Situation mal stärker, mal schwächer äußerte. Jüdische Menschen durften nicht immer das werden, was sie wollten: Quoten und Begrenzungen schränkten ihre Berufswahl ein.
Bereits 1920, Sándor war noch gar nicht geboren, ließ Staatsoberhaupt Miklós Horthy den Anteil der jüdischen Studierenden an den Universitäten auf fünf Prozent der Gesamtzahl verringern. Später in seinem Leben sollte auch Sándor von antisemitischen Regelungen betroffen sein.
Sándors Daten schwarz auf weiß
Dies ist ein Auszug aus dem Geburtsregister. Darin steht Sándors genaues Geburtsdatum, der 28. Januar 1925. Außerdem erfährt man hier die Namen seiner Eltern, János und Helén Hoffmann, geb. Schütz. Auch Sándors Geburtsort, die ungarische Stadt Szombathely, ist vermerkt. Dieser Auszug wurde erst 1997 erstellt, weil er für ein Entschädigungsverfahren gebraucht wurde.
Sándors Mutter Helén führte nach einer Ausbildung in Hauswirtschaft, Gartenbau und Biologie vor allem den Haushalt. Sie sprach fließend Deutsch, weil sie in Deutschland und Österreich gelebt hatte. Sándors Vater János, Kaufmann und Jurist mit Doktortitel, arbeitete im Familienbetrieb Samu Hoffmanns Söhne, der Essigfabrik mit eigenem Ladenverkauf.
In diese malerische Stadt zog Sándor im Alter von fünf Jahren
Dann kam das Jahr 1929: Weltwirtschaftskrise. Viele Menschen stürzten in Armut und Arbeitslosigkeit. Es waren chaotische Zeiten. Auch Sándors Familie blieb nicht verschont: Die Essigfabrik ging bankrott. Damit war ihnen die Lebensgrundlage unter den Füßen weggezogen. Was nun?
Sándor zog mit seiner Familie nach Nagykanizsa. Dort hatte nämlich sein Großvater mütterlicherseits, Frigyes Schütz, ein Textilgeschäft gegründet, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Sándors Vater wurde Leiter dieses großen Warenhauses.
Sándor war zu dieser Zeit gerade fünf. Mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Judit wuchs er in Nagykanizsa heran. Sie besuchten dort die jüdische Grundschule.
Um 1900 hatte Nagykanizsa mehrere Schulen, Banken, eine elektrische Straßenbeleuchtung und ein modernes Krankenhaus. Die Stadt war wohlhabend und zog immer mehr Menschen an. Es gab genug Arbeitsplätze, unter anderem in der Bürstenfabrik, im Ziegelwerk und in der Brennerei. Bis 1918 gehörte Nagykanizsa zu Österreich-Ungarn. Viele der Einwohner/-innen sprachen Deutsch.
Schon seit dem frühen 18. Jahrhundert lebten Juden und Jüdinnen in Nagykanizsa. Bereits vor Beginn des Zweiten Weltkrieges verließen jedoch viele von ihnen die Stadt. Im Jahr 1941 zählte die jüdische Bevölkerung noch 2.091 Menschen. Sie machten etwa sechs Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
Nach seiner Bar Mitzwa galt Sándor als erwachsen
Im Jahr 1938 hatte Sándor seine Bar Mitzwa, das heißt, er wurde nach jüdischem Recht religionsmündig. Der Ausdruck bezeichnet sowohl die Feier ( »Bar Mitzwa haben«) als auch den Status des Jugendlichen ( »Bar Mitzwa sein«). Von nun an war es Sándors Pflicht, die jüdischen Gebote einzuhalten. Gleichzeitig durfte er aber auch aktiv am Gottesdienst teilnehmen, etwa aus der Tora vorlesen. Bei seiner Bar Mitzwa-Zeremonie musste Sándor zeigen, dass er Hebräisch beherrschte, denn in dieser Sprache ist die Tora verfasst.
Auch heute wird dieser Tag in jüdischen Familien noch festlich begangen, oft mit einer groß ausgerichteten Feier. Jungen haben ihre Bar Mitzwa in der Regel mit 13, Mädchen haben ihre Bat Mitzwa mit 12 Jahren. Gleichzeitig wird der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenwerden gefeiert. Von nun an war Sándor also voll für seine Taten verantwortlich.
»Sanyi wurde in dieser Zeit Bar Mitzwa. Seine Weihe im Gotteshaus von Nagykanizsa vollzog sich unter besonders großem Prunk. Es kam in Anbetracht alter familiärer Beziehungen Dr. József Horowitz, Oberrabbiner in Szombathely, und so legte Sanyi das Gelübde in die Hände zweier Geistlicher.«
Quelle: János Hoffmann (2010): Nebelschleier.
Sándor mit Freund/-innen am Balaton
Nach der vierjährigen jüdischen Elementarschule kam Sándor auf ein katholisches Gymnasium. Schon früh zeigten sich seine mathematische Begabung und seine Begeisterung für alles Technische.
Doch die Ausgrenzung von Juden und Jüdinnen machte sich immer weiter bemerkbar. Aus der mehrheitlich katholischen Bevölkerung Ungarns gab es immer wieder Anfeindungen gegenüber der jüdischen Minderheit. Um etwas Praktisches zu lernen und den Diskriminierungen zu entgehen, verließ Sándor das Gymnasium in Nagykanizsa und besuchte das Technische Gymnasium der israelitischen Gemeinde in Budapest. Dort legte er 1943 sein Abitur ab. Auch seine Schwester Judit ging später auf diese Schule.
»Sanyi ist mit seinem ausgezeichnet bestandenen Abitur, Juci mit einem sehr guten Zeugnis nach Hause gekommen, und jetzt sind wir vier beisammen. […]
Die Kinder hatten sich tüchtig an die Arbeit gemacht, fleißig, ausdauernd und mit Lust gearbeitet, wahr ist: Sie bauten ihr eigenes Nest. Wie Vögel im Sturm.«
Quelle: János Hoffmann (2010): Nebelschleier.
Sándors Eltern versuchten trotz aller Widrigkeiten, ihm und seiner Schwester eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Das bedeutete für sie eine erhebliche finanzielle Anstrengung. Da die Kinder in einer anderen Stadt zur Schule gingen, mussten sie für Unterkunft und Verpflegung aufkommen. Sándor dankte es ihnen mit guten Noten, er war intelligent und ein fleißiger Schüler. Ihm lagen vor allem Mathematik, Physik, Geschichte und Literatur.
Sándor träumte davon, nach seinem Abitur selbstständig zu werden. Mit seinem Notenschnitt hätte er auch durchaus die Technische Universität besuchen können. Die ungarischen Gesetze machten ihm dies jedoch unmöglich. Juden und Jüdinnen waren an den Universitäten nicht mehr erwünscht; seit Mai 1939 durften nur noch höchstens sechs Prozent der Studierenden jüdisch sein.
So musste Sándor sich nach etwas anderem umschauen. Das war schlimm: Er hatte ein tolles Abitur, konnte aber trotzdem nicht das werden, was er wollte. Und für Juden und Jüdinnen in Ungarn wurde es immer schwieriger, eine Arbeit zu finden.
Sándor und seine Schwester wollten um ihre Zukunft kämpfen
Zwar sind von Sándor selbst keine Aufzeichnungen erhalten. Aber seine Schwester Judit erzählte später viel von ihm und fand auch die Tagebücher ihres Vaters. Dieser schrieb am 8. September 1942, wie sehr seine Kinder um ihre ungewisse Zukunft kämpften.
»Die Kinder sind sehr ernst, sie fühlen die Schwere ihrer Lage, trachten danach, tüchtige und verdienende Mitglieder der Familie zu werden, und daneben möchten sie sich mit all ihrem Willen bilden. Eine bloße Berufsausbildung genügt ihnen nicht. […]
Und wir beide, ich mit meiner Helén, wir spüren, dass wir unseren Kindern in diesem Kampf beistehen müssen, obwohl uns das mitunter das Herz zerreißt und auch finanziell wirklich eine ganz gewaltige Anstrengung bedeutet. Aber mit Blick darauf ist das unser Standpunkt: Heute ist jedes jüdische Vermögen unsicher, aber Wissen und Kenntnisse kann uns die Gewalt nur zusammen mit unserem Leben nehmen.«
Quelle: János Hoffmann (2010): Nebelschleier.
In diesem schönen Saal wurden Dinge beschlossen, die Sándor schadeten
Nach und nach wurden die ungarischen Jüdinnen und Juden durch Gesetze gezielt aus dem wirtschaftlichen wie öffentlichen Leben gedrängt.
So beschränkte das sogenannte Erste »Judengesetz« vom 29. Mai 1938 beispielsweise die Anzahl jüdischer Arbeitskräfte in der Wirtschaft und in freien Berufen auf zwanzig Prozent. Später waren es sogar nur noch fünf Prozent.
»Juden dürfen keine Richter, Anwälte, Lehrer und Mitglieder des Parlamentes mehr werden.
Juden dürfen nicht mehr wählen.
Juden kann die ungarische Staatsbürgerschaft aberkannt werden, wenn sie nach dem 1. Juli 1914 erteilt worden ist.
Juden und Nichtjuden dürfen nicht mehr untereinander heiraten.
Juden dürfen keine Beziehungen zu Nichtjüdinnen ungarischer Staatsangehörigkeit eingehen.«
Im Gegensatz zu der Gesetzgebung im Deutschen Reich betrafen diese Verbote jedoch vor allem Menschen mit jüdischer Religionszugehörigkeit. Verfolgung von Juden und Jüdinnen aus »rassischen« Gründen, die Menschen zum Beispiel auch dann traf, wenn sie sich christlich taufen ließen, spielte nur eine untergeordnete Rolle.
Ungarn arbeitete mit den Nationalsozialisten eng zusammen
Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich waren schon im Ersten Weltkrieg (1914-1918) Verbündete gewesen und als Verlierer daraus hervor gegangen. Nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns hatte Ungarn zwei Drittel seines Territoriums verloren. Zugleich musste das Land hohe Reparationen zahlen. Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich zusehends, auch weil viele ungarische Flüchtlinge aus den abgetrennten Gebieten ins Land strömten.
Die Situation in Ungarn ähnelte also jener im Deutschen Reich. Auch deutsche Gebiete mussten nach dem Ersten Weltkrieg abgetreten werden und es herrschte eine hohe Arbeitslosigkeit. In beiden Ländern wuchsen nationalistische Strömungen. Der ungarischen Regierung ging es vor allem darum, die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen. Daher näherte sich Ungarn politisch immer mehr an das Deutsche Reich an. In bestimmten Kreisen gab es außerdem antisemitische Haltungen.
Durch die sogenannten Wiener Schiedssprüche (1938 und 1940) gelang es Ungarn mit Hilfe des Deutschen Reiches, einen Teil der abgetrennten Gebiete wiederzuerlangen. Im Gegenzug versorgte Ungarn das Deutsche Reich mit Lebensmitteln und Rüstungsgütern wie Munition oder Kampfflugzeugen. Am 27. Juni 1941 trat Ungarn auf Seiten des Deutschen Reiches in den Krieg gegen die Sowjetunion ein.
Sándor versuchte so gut es ging, ein unbeschwertes Leben zu führen. Er unternahm in der Freizeit viel mit seinen Freund/-innen. Oft trieben sie Sport, gingen klettern oder schwimmen.
Nachdem es dem 18-Jährigen verwehrt worden war, an der Budapester Universität zu studieren, kehrte er 1943 zu seiner Familie nach Nagykanizsa zurück. Dort fand er Arbeit als technischer Zeichner in einer holzverarbeitenden Fabrik. Sándors Familie war glücklich, ihn endlich wieder zu Hause zu haben.
»Gestern haben wir Deinen 19. Geburtstag gefeiert, mein lieber Sohn, Deine Mutter und ich waren sehr glücklich, dass Du nach langer, vierjähriger Abwesenheit wieder hier, unter uns bist. Vielleicht ist es Egoismus, aber manchmal glauben wir, es war vielleicht doch kein Unglück, dass trotz unserer gigantischen Bemühungen Deine Aufnahme in die Universität nicht geglückt ist, weil wir so sehen: Du fühlst dich zu Hause wohl, und wir meinen auch, diese Umgebung gereicht Dir in mancher Hinsicht auch zum Vorteil.«
Quelle: János Hoffmann (2010): Nebelschleier.
Sàndors Vater János ging gern mit seinem Sohn segeln
Sándor hatte ein gutes Verhältnis zu seinem Vater. Er verbrachte mit ihm viel Zeit in der freien Natur. Beim Segeln auf dem Plattensee ließen sich alle Sorgen und Diskriminierungen vergessen.
»Voriges Jahr habe ich Sanyi versprochen, dass wir zusammen zum Plattensee fahren, um dort zu segeln. Morgen fahren wir los. Sanyi wollte ich eine Freude machen, jetzt bin ich es, der den Moment der Abfahrt kaum mehr erwarten kann.
Ich möchte einige Tage von allem weit weg sein – ich liebe den Plattensee, und mit diesem Segelausflug verwirkliche ich eigentlich einen Wunschtraum meiner Kindheit. Wir haben alles sorgfältig vorbereitet und eingepackt – Start morgen Nachmittag um 14 Uhr nach Keszthely, Dienstagmorgen gehen wir an Bord. –
Herrlich gingen die zwei Wochen unseres Ausflugs an den Plattensee dahin. Acht Tage verbrachten wir fast völlig wie Nomaden auf unserem Schiff, kochten größtenteils selbst, hörten kein Radio, lasen keine Zeitung – der helle Strahl der Sonne überzog den wunderschönen See mit glücklichem Frieden, ihr friedlicher Strahl tauchte alles und alle in Freude.«
Quelle: János Hoffmann (2010): Nebelschleier.
Sándor machte aus seiner Situation das Bestmögliche. Er war durchaus zufrieden mit seiner Arbeit, die vielen Aufträge taten seinem Selbstvertrauen gut. Sein erstes Gehalt, das er als technischer Zeichner verdiente, bot er seiner Mutter an, um den Haushalt der Familie Hoffmann zu entlasten. Sándors Familie nahm dieses Angebot in Zeiten finanzieller Engpässe gern an.
Sándor verlor die aktuelle politische Lage nie aus den Augen. Seine Schwester Judit berichtete später, dass er sogar überlegt hatte, als Partisan im Nachbarland Jugoslawien gegen die deutschen Besatzer zu kämpfen.
Sándor wollte es nicht hinnehmen, dass die deutsche Wehrmacht das Nachbarland überfiel
Im April 1941 hatte die deutsche Wehrmacht Jugoslawien besetzt. Das Deutschen Reich und die mit ihm verbündeten Staaten teilten das gesamte Staatsgebiet unter sich auf. Damit kam die deutsche Regierung dem Wunsch der Bündnispartner nach mehr Territorium entgegen und sicherte sich zugleich kriegswichtige jugoslawische Rohstoffe.
Sándors Heimatstadt Nagykanizsa lag in der Nähe der damaligen ungarisch-jugoslawischen Grenze, sodass Sándor das Kriegsgeschehen unmittelbar mitverfolgen konnte. Er beobachtete, dass sich im besetzten Jugoslawien nach und nach bewaffneter Widerstand formierte.
Auch Sándor plante, sich den Partisan/-innen im Untergrund anzuschließen und gegen die Besatzung des Nachbarlandes zu kämpfen. Allerdings hatte er bislang nie etwas mit Waffen zu tun gehabt. Sein Vater János riet ihm von seinem Vorhaben ab, sicherlich weil er Angst um seinen Sohn hatte. So unternahm Sándor nichts und blieb in Ungarn.
Im Frühjahr 1944 besetzte die deutsche Wehrmacht auch Sándors Heimatstadt. Die jüdische Bevölkerung Ungarns war bis zu diesem Zeitpunkt relativ sicher gewesen. Doch plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Bald mussten die ungarischen Jüdinnen und Juden einen gelben Stern tragen. Viele ganz alltägliche Dinge waren ihnen von heute auf morgen verboten.
Warum besetzten deutsche Truppen den Bündnispartner Ungarn?
Im Verlauf des Jahres 1943 zeichnete sich ab, dass das Deutsche Reich und seine Bündnispartner, darunter Ungarn, den Krieg möglicherweise verlieren würden. Angesichts der Kriegslage dachte die ungarische Regierung über einen Seitenwechsel nach. Schon im August 1943 nahm Ungarn erste Verhandlungen mit den Alliierten auf.
Einen Seitenwechsel Ungarns wollte die deutsche Regierung nicht zulassen. Ungarn war zu wichtig: Es belieferte das Deutsche Reich mit Lebensmitteln, kriegswichtigen Rohstoffen und Rüstungsgütern. Außerdem rückte die sowjetische Armee von Osten her immer näher an das Deutsche Reich heran. Ungarn sollte weiterhin als eine Art Puffer dienen. Daher besetzten deutsche Truppen das Land am 19. März 1944. Es wurde eine neue Regierung eingesetzt, die direkt unter deutschem Einfluss stand. So wurde Ungarn gezwungen, den Krieg fortzusetzen.
In einer halben Stunde musste Sándors Familie ihre nötigsten Dinge packen
In den letzten Apriltagen passierte etwas Unfassbares: Sándor wurde zusammen mit seinen Eltern, seiner Schwester, seiner Großmutter und vielen anderen Juden und Jüdinnen in die Synagoge der Stadt gesperrt. Dort mussten sie einige Tage ausharren, unzureichend verpflegt, unter katastrophalen Zuständen.
»Am 26. April 1944 kamen die Gendarmen, um uns ins plötzlich errichtete Ghetto von Nagykanizsa, das heißt in die Synagoge zu begleiten. Sie gaben uns eine halbe Stunde, um das Nötigste zu packen, dann brachen wir auf. Wir waren fünf, da die Mutter meines Vaters, die Witwe von Ignác Hoffmann, gerade bei uns war.
Drei Tage später wurden wir, meine Eltern, mein Bruder und ich, in einen Viehwaggon getrieben. Sechzig Menschen wurden in einen Waggon gezwängt. Meine Großmutter Regina war vorläufig in der Synagoge geblieben; sie kam mit einem weiteren Transport nach Auschwitz und wurde direkt in die Gaskammer geschickt.«
Quelle: János Hoffmann (2010): Nebelschleier.
Familie Hoffmann befand sich in einem der ersten Transporte, die Ungarn Ende April 1944 verließen. Ab Mitte Mai setzten Massentransporte ein. Unter der Leitung Adolf Eichmanns und mit Hilfe der ungarischen Behörden wurden über 437.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder innerhalb weniger Wochen nach Auschwitz-Birkenau deportiert.
Für die Deportation und Ermordung so vieler Menschen erbaute die SS eigens eine Eisenbahnabzweigung ins Innere des Vernichtungslagers.
In Auschwitz sahen sich Judit und Sándor zum letzten Mal
An der sogenannten Rampe, dem Bahngleis in Auschwitz-Birkenau, entschieden SS-Ärzte über Leben und Tod. Bei einem neu ankommenden Transport trennten sie die »arbeitsfähigen« Häftlinge von den vermeintlich nicht »arbeitsfähigen«. Meist gingen sie dabei völlig willkürlich vor, ohne die Häftlinge überhaupt zu untersuchen. Die Losung lautete, höchstens zehn Prozent der ankommenden Menschen im Lager aufzunehmen.
Die SS-Ärzte wählten vor allem Alte, Kranke und Kinder mit ihren Müttern aus, die dann in den Gaskammern der Krematorien ermordet wurden. Frauen und Männer, die diese Selektionen überlebten, wurden getrennt voneinander untergebracht und häufig zur Zwangsarbeit in andere Konzentrationslager verschleppt. Auf diese Weise wurden ganze Familien an der Rampe auseinandergerissen.
Als Sándor, seine Eltern und seine Schwester Judit nach Auschwitz kamen, war diese Rampe noch nicht fertiggestellt. Doch auch sie wurden getrennt.
»Wir vier wurden in Auschwitz zur Arbeit eingeteilt: Männer und Frauen getrennt. Meinen Vater sah ich dort zum letzten Mal und auch meinen Bruder.«
Quelle: János Hoffmann (2010): Nebelschleier.
Auch die »Buna-Werke« gehörten zum Komplex Auschwitz dazu
Sándor wurde als technischer Zeichner zur Zwangsarbeit in einem der kriegswichtigen Betriebe bestimmt. Wahrscheinlich musste er vor allem beim Aufbau des Lagers Auschwitz-Monowitz helfen.
Dort plante die deutsche Firma I.G. Farben einen riesigen Industriekomplex, die Buna-Werke. Vor allem künstlicher Kautschuk sollte dort hergestellt werden. Dieser war wichtig für den Krieg.
Tausende von Zwangsarbeiter/-innen kamen bei der Errichtung der Buna-Werke ums Leben. Sie wurden so lange unter brutalen Bedingungen und in hohem Tempo zu Schwerstarbeiten gezwungen, bis sie umfielen. Manche von ihnen starben entkräftet an Ort und Stelle, viele wurden totgeprügelt.
Wer krank wurde und nicht mehr arbeiten konnte, kam zurück in das nahegelegene Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Dort ermordete die SS die kranken und schwachen Häftlinge mit dem Giftgas Zyklon B. Leicht konnten sie ersetzt werden, denn neue »Arbeitskräfte« gab es in Auschwitz genug. Sándor überlebte die Zwangsarbeit zunächst.
Viele Monate hatte Sándor in Auschwitz Zwangsarbeit leisten müssen. Er hatte die Kälte, den Hunger und die Schikanen durch die SS überlebt. Die sowjetische Armee rückte immer näher an den Lagerkomplex Auschwitz heran. Sándor und die anderen Häftlinge sehnten den Tag der Befreiung herbei. Erst sah es so aus, als ob Sándor Glück haben würde.
Doch die deutsche SS wollte möglichst wenig Zeug/-innen in die Hände der Alliierten fallen lassen. Mitte Januar 1945 ließ sie daher das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau räumen. Unter den Häftlingen herrschte Panik. Wohin würden sie transportiert werden?
Bis zum Schluss sollten die Häftlinge unter der Kontrolle der SS bleiben. Sie waren immer noch Zwangsarbeiter/-innen, billige Arbeitskräfte für den deutschen Krieg. Möglichst viele sollten weiterhin für die Rüstungsindustrie ausgebeutet werden. Daher verschleppte die SS sie in Konzentrationslager auf deutschem Boden.
Zehntausende Häftlinge mussten bei eisiger Kälte hunderte Kilometer zu Fuß zurücklegen. Aufgrund der unzureichenden Verpflegung waren die Menschen bereits völlig entkräftet. Wer zurückblieb, wurde erschossen und am Wegesrand liegen gelassen. Aus diesem Grund gaben Überlebende den Märschen später den Namen Todesmärsche.
Sándor sollte mit dem Zug transportiert werden und wurde zunächst in einen schon überfüllten Waggon gepfercht. Als den SS-Männern klar wurde, dass die Waggons für die vielen Menschen nicht einmal annähernd reichen würden, zwang sie Häftlinge, unterwegs in unbewohnten Gegenden auszusteigen. Sándor wurde mit vielen anderen in einen Wald getrieben. Dort wurden sie von einem SS-Kommando mit Maschinengewehren erschossen.
Erst Jahre später erzählten zwei Überlebende des Massakers Sándors Schwester Judit vom Tod ihres Bruders. Bis heute weiß man nicht genau, wo er und die anderen Häftlinge verscharrt wurden. Möglicherweise liegt das Massengrab in der Nähe von Prag.
Nach ihrer Rückkehr nach Ungarn fand Sándors Schwester einen Familienschatz
Sándors Schwester Judit überlebte. Als sie nach Ungarn zurückkehrte, war sie erst 18 Jahre alt und völlig auf sich allein gestellt. Ihre gesamte Familie war von den Nationalsozialisten ermordet worden. In einem Interview, das sie 1999 der Shoah Foundation gab, erwähnte Judit beiläufig, dass sie nach ihrer Rückkehr die Tagebücher ihres Vaters gefunden hatte. Ihre Mutter hatte ihr, bevor sie im Lager starb, verraten, wo sie zu finden waren.
»Eines Tages sagte mir ein Mithäftling, dass meine Mutter mich bittet zu kommen. Ich ging zu ihrer Pritsche. Dort lag sie, abgemagert bis auf die Knochen. Ihre Worte werde ich nie vergessen. ›Mein Kind‹, sagte sie, ›ich werde jetzt sterben. Du wirst das Ende des Krieges erleben. Wenn du zurückkehrst, sammle, was von unseren Sachen übrig ist.‹ Dann zählte sie auf, bei wem ich was finden könne. Ihr verdanke ich es, dass ich die Tagebuchhefte meines Vaters gefunden habe.«
Quelle: János Hoffmann (2010): Nebelschleier.
Die Aufzeichnungen János Hoffmanns hatte ein Nachbar für die Familie aufbewahrt. Sándors Schwester Judit, die einzige Überlebende der Familie, hat das Tagebuch ihres Vaters János Hoffmann im Jahre 2001 unter dem Titel »Ködkárpit« (»Nebelschleier«) veröffentlicht.
Auf dieser Steintafel stehen auch die Namen von Familie Hoffmann
Sechzig Jahre nach den Deportationen aus Ungarn, im Sommer 2004, weihte die jüdische Gemeinde von Nagykanizsa ein Denkmal für die ermordeten Juden und Jüdinnen aus der Stadt und der Umgebung ein. Das Denkmal befindet sich im Hof der inzwischen recht baufälligen Synagoge. Auf der zerbrochenen Steintafel sind die Namen aller namentlich bekannten Opfer der Region eingraviert. Vor der Tafel steht ein siebenarmiger Leuchter (genannt Menora), ein Hauptsymbol des Judentums.
An Sándor erinnert ein einfaches Blatt Papier
Dies ist ein Gedenkblatt, das Sándors Schwester Judit 1989 für ihn ausgefüllt hat. Sie trug darin persönliche Informationen wie Geburtsdatum, Namen der Eltern, Wohn- und Sterbeort ihres Bruders ein.
Solche Gedenkblätter wurden von der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel ab den 1950er Jahren gesammelt. Bislang haben Überlebende des Holocaust und deren Nachkommen Gedenkblätter zu über drei Millionen ermordeten Verwandten, Freund/-innen und Bekannten ausgefüllt. Das ist etwa die Hälfte der Gesamtanzahl der Ermordeten. Viele Namen werden jedoch für immer unbekannt bleiben.