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15. August 1924Geburt
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1939Gedichte
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Oktober 1941Ghetto
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Juni 1942Zwangsarbeit
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16. Dezember 1942Flecktyphus
Selma war erst zwei Jahre alt, als ihr Vater starb – viel zu jung, an Tuberkulose. Sie erinnerte sich später kaum an ihn, behielt nur seinen Namen: Meerbaum. Selmas Eltern hatten ein kleines Geschäft geführt, in dem sie Schuhe und Kleinkram verkauften. Einige Zeit später bekam Selma einen Stiefvater, weil ihre Mutter erneut heiratete. Von da an trug sie den Doppelnamen Meerbaum-Eisinger.
Selma wurde in Czernowitz geboren, einer multikulturellen Stadt in der heutigen Ukraine.
Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf.
»Sie wohnte mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater im Süden der Stadt am Fuße der Habsburghöhe. Die Wohnung bestand aus einer Küche und einem großen Zimmer. Man ist reingekommen durch einen langen Gang, ein paar Stiegen führten in den ersten Stock direkt in die Küche. Elektrisches Licht gab es nicht. Im großen Zimmer standen die Ehebetten. Am Fußende ein Sofa, auf dem Selma schlief; dann zwei Schränke und dazwischen ein kleiner Schreibtisch für Selma. Kein fließendes Wasser, kein Bad.«
Zu Hause sprach Selma mit ihrer Familie Deutsch, doch in der Schule musste Rumänisch gesprochen werden. Selma war ein ruhiges, verträumtes Mädchen. Sie las schon früh Gedichte und liebte es, neue Sprachen zu lernen. Als sie älter wurde, wurde sie ausgelassener: Am liebsten traf sie sich mit ihren Freund/-innen und ging tanzen. Manchmal stritt sie sich mit ihrer Mutter. Und ab und zu, wenn sie in der Schule einfach keine Lust auf den Unterricht hatte, rutschte sie unter den Tisch und machte etwas völlig anderes.
Warum sich Selma mit ihrer Mutter stritt und unter die Schulbank rutschte
Renee Abramovici-Michaeli war eine von Selmas besten Freund/-innen. Sie saß mit Selma in der letzten Reihe. Morgens gingen die Mädchen zusammen zur Schule.
»Sie war 1,60 Meter groß, hatte braune Augen, gekräuseltes brünettes Haar. Solange sie Zöpfe tragen musste, gab es zwischen ihr und ihrer Mutter morgens immer Krach. Die Mutter bürstete und flocht das Haar. Die Prozedur war zeitraubend, sodass wir Mühe hatten, rechtzeitig in die Schule zu kommen. […] Wenn Selma der Unterricht nicht interessierte, ist sie unter die Bank gerutscht und hat dort gelesen, was ihr Spaß machte.«
Selma begann mit 15 Jahren Gedichte zu schreiben. Ihre Freundin Renee erinnert sich, dass sie die fertigen Werke nicht jedem zeigte. Vielleicht schrieb Selma ja manche Gedichte unter der Schulbank, wo sie sich unbeobachtet fühlte.
In Czernowitz lebten viele Menschen mit ganz verschiedenen Hintergründen
Czernowitz war eine sehr vielfältige Stadt. Die etwa 150.000 Einwohner/-innen gehörten unterschiedlichen Gruppen an. Im Jahr 1939 lebten dort vor allem Deutsche, Rumän/-innen, Ukrainer/-innen, Pol/-innen, Ungar/-innen und Armenier/-innen. Etwa ein Drittel der Bewohner/-innen waren jüdisch.
Zeitungen erschienen in sechs Sprachen: Deutsch, Ukrainisch, Rumänisch, Polnisch, Jiddisch und Ungarisch. Selma, ihre Familie und Freund/-innen sprachen wie fast die Hälfte der Stadtbewohner/-innen Deutsch.
Die ursprünglich slawische Siedlung Czernowitz kam Anfang des 16. Jahrhunderts unter türkische Herrschaft. Fast 250 Jahre gehörte die Region zum Osmanischen Reich. 1775 verdrängte der österreichische Kaiser mit seinen Truppen die Osman/-innen aus dieser Region. Czernowitz und die umliegende Region Bukowina war nun ein Teil Österreichs und entwickelte sich nach und nach zur Großstadt.
Mit dem Zerfall von Österreich-Ungarn im Jahr 1918 fiel sie an das Königreich Rumänien. Im Zweiten Weltkrieg wechselte die Zugehörigkeit der Stadt mehrmals. Nach dem Krieg wurde Czernowitz Teil der Sowjetunion.
Was Selmas Freundin aus dem Fenster ihres Klassenzimmers beobachtete
Folgenschwere Veränderungen erfuhr die multikulturelle Gesellschaft in Czernowitz ab 1940. Rumänien musste die Nordbukowina an die Sowjetunion abtreten. Etwa ein Jahr lang war die Region russisch besetzt. Unter der sowjetischen Herrschaft kam es zu Verhaftungen und Verschleppungen.
»Aus unserem Klassenzimmer konnten wir damals in die Mensa der Universität schauen. Wir haben gesehen, wie jüdische Studenten verprügelt wurden, und wir haben erfahren, dass man einen von ihnen gezwungen hat, aus einem Fenster im dritten Stock des Gebäudes zu springen. Als die Rumänen Czernowitz an die sozialistische Sowjetunion abtreten mussten, haben wir zuerst gedacht, jetzt wird alles besser. Wir haben ja an den Sozialismus geglaubt. […] Doch dann haben auch die Russen viele Juden verschleppt.«
Das Foto zeigt Selma mit ihren Freund/-innen auf einem Ausflug im Jahr 1940. Sie gehörten einer jüdisch-sozialistischen Jugendgruppe an, die den hebräischen Namen Haschomer Hatzair trug. Diese Gruppe war ähnlich organisiert wie die Pfadfinder. Selma und ihre Freund/-innen machten gemeinsam viele Ausflüge, sie betrieben Sport und Selbstverteidigung. Oft hielten die Jugendlichen Vorträge oder lasen sich gegenseitig Selbstgeschriebenes vor. Nur einmal steuerte auch Selma eines ihrer Gedichte bei.
Politisch folgten Selma und ihre Freund/-innen den Ideen des Zionismus. Das bedeutet, dass für viele die Vorbereitung auf ein Leben in Palästina und die Errichtung eines jüdischen Staates im Mittelpunkt stand. Deswegen beschäftigten sich die Jugendlichen viel mit der hebräischen Sprache und der jüdischen Kultur.
Selma hatte zwar noch keine Pläne, in Palästina ein neues Leben zu beginnen. Aber andere in der Gruppe, wie zum Beispiel Lejser, träumten schon lange davon. Dort sollten in einer Siedlung, Kibbuz genannt, gleichberechtigte Formen des Zusammenlebens entstehen. Für viele aus Selmas Gruppe hätte dies bedeutet, ohne ihre Eltern dauerhaft in einem anderen Land zu leben.
Was passierte, als Selma eines Tages ein Gedicht vorlas?
Auch Selmas Freundin Else Schächter gehörte dem Jugendverband Haschomer Hatzair an. Else und Selma schlossen Freundschaft, nachdem Selma, ganz gegen ihre Gewohnheit, eines ihrer Gedichte vor der Gruppe vorgetragen hatte – und ausgelacht worden war.
»Ich fand ihre Gedichte schön, ich sagte es ihr, ich begleitete sie nach Hause. Sie war immer in Bewegung. Abends um zehn kam sie noch zu unserem Haus und pfiff mich raus. ›Der Tag ist doch so lang, warum müsst ihr abends so spät spazieren gehen?‹ fragte meine Mutter, und Selma lachte, sagte: ›Lassen Sie uns doch.‹«
»Der Wächter ist mutig, unabhängig, denkt kritisch und handelt dementsprechend.«
Der Jugendverband Hashomer Hatzair hatte 1940 rund 70.000 Mitglieder, die meisten von ihnen lebten in Osteuropa. Er entstand aus Pfadfinderbewegungen, und einzelne Jugendgruppen waren schon bald in ganz Europa verteilt.
Die Mitglieder von Hashomer Hatzair stellten zehn verbindliche Regeln auf, die auf hebräisch »Divrot« (Gebote) genannt wurden.
»Der Wächter [so nannten sich die Mitglieder der Gruppe] ist mutig, unabhängig, denkt kritisch und handelt dementsprechend.
Der Wächter respektiert die Natur, sie ist ihm wichtig; er lernt sie kennen, lernt in ihr zu leben und handelt nachhaltig.
Der Wächter ist von seiner Vernunft geleitet und übernimmt volle Verantwortung für sein Handeln.
Der Wächter ist politisch aktiv und ein Vorkämpfer im Streben nach Freiheit, Gleichberechtigung, Frieden und Solidarität.«
Mit Beginn des 2. Weltkrieges verlagerten die Jugendgruppen ihre Aktivitäten auf den Kampf gegen die deutschen Besatzer. Zum Teil bewaffnet leisteten sie Widerstand gegen die zunehmenden Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung.
Ein Staat nur für Juden und Jüdinnen?
Ende des 19. Jahrhunderts war ein immer stärker ansteigender Antisemitismus vor allem in Europa zu bemerken. Es kam an vielen Orten zu gewaltsamen Ausschreitungen und Anfeindungen gegen Juden und Jüdinnen.
Innerhalb der jüdischen Bewegung gelangten viele zu der Überzeugung, dass sie nur in einem eigenen jüdischen Staat dauerhaft sicher wäre. Daher setzten sie sich für eine Staatsgründung in Palästina ein. Sie nannten sich Zionist/-innen. Im Judentum bezeichnet das Wort »Zion« den Sitz Gottes auf Erden, nämlich seinen Tempel in Jerusalem.
Der österreichische Schriftsteller Theodor Herzl war einer der ers^ten, der in seinem Buch »Der Judenstaat« die Möglichkeiten für ein gemeinsames jüdisches Siedlungsgebiet abwog.
Dabei hatte Herzl nicht von Anfang an Palästina als Ziel im Blick, ihm war Südamerika oder Ostafrika genauso Recht. Hauptsache, Juden und Jüdinnen würden in Frieden an einem Ort leben können.
Erst mit der Zeit einigten sich die Zionist/-innen auf das Siedlungsgebiet Palästina. Es galt nach religiösen Vorstellungen als das gelobte Land, das den Juden und Jüdinnen von Gott versprochen war. 1948 wurde auf dem Gebiet Palästinas der Staat Israel gegründet. Auch Selma und ihre Freund/-innen waren angesichts der ständigen antisemitischen Diskriminierungen von den Ideen des Zionismus begeistert.
Selmas großer Schwarm hieß Lejser und war ein Jahr älter als sie. Gemeinsam unternahmen sie Ausflüge in die Natur oder trieben Sport.
»Sie tanzte sehr gern, war die Ausgelassenste in der zionistischen Gruppe. Sie wollte jeden Moment ausleben. In der Gruppe hat sie auch Lejser Fichman kennengelernt, der sie oft nach Hause begleitete und mit dem sie auf der Habsburghöhe im Süden der Stadt spazieren ging.«
Über Lejser ist nicht viel bekannt, nicht einmal, ob er Selmas Gefühle erwiderte. Wahrscheinlich führten die beiden keine feste Beziehung. Aber Selma schrieb ihm Liebesgedichte, die sie in einem kleinen Heft sammelte. Eines Tages sollte er diese Gedichte bekommen, dachte sie. Den Gedichtband nannte sie Blütenlese. Selma war ein empfindsamer Mensch, und viele ihrer Gedichte handelten nicht nur von Liebe, sondern auch von der Schönheit der Natur.
Was weiß man über Lejser?
Lejser Fichman hatte einen Traum: Er wollte nach Palästina auswandern. Dort, so hoffte er, würde er ein besseres Leben haben. Selma und ihre Freund/-innen waren sich nicht so sicher, ob sie tatsächlich so weit gehen würden, ihre Heimat zu verlassen.
Doch die Lage in Czernowitz verschlimmerte sich immer mehr: Die jüdische Bevölkerung wurde erst unter den sowjetischen, dann unter den rumänischen Besatzern, die mit dem Deutschen Reich verbündet waren, zur Zwangsarbeit an unbekannte Orte verschleppt. Unter der deutschen Besatzung war es kaum mehr möglich zu fliehen.
Was schrieb Selma ihrem Schwarm für Gedichte?
(Zu singen nach der Melodie von Mordechaj Gebirtik’s Di zun iz fargangen)
O lege, Geliebter,
den Kopf in die Hände
und höre, ich sing' dir ein Lied.
Ich sing' dir von Weh und von Tod und vom Ende,
ich sing' dir vom Glücke, das schied.
Komm, schließe die Augen,
ich will dich dann wiegen,
wir träumen dann beide vom Glück.
Wir träumen dann beide die goldensten Lügen,
wir träumen uns weit, weit zurück.
Und sieh nur, Geliebter,
im Traume da kehren
wieder die Tage voll Licht.
Vergessen die Stunden, die wehen und leeren
von Trauer und Leid und Verzicht.
Doch dann - das Erwachen,
Geliebter, ist Grauen –
ach, alles ist leerer als je –
Oh, könnten die Träume mein Glück wieder bauen,
verjagen mein wild-heißes Weh!
Selma musste plötzlich in einem abgetrennten Stadtteil wohnen
Im Sommer 1941 geriet Czernowitz wieder unter rumänische Herrschaft. Rumänien war ein Verbündeter des Deutschen Reiches. Bald nach der Besetzung wurden hunderte Czernowitzer Juden und Jüdinnen von der deutschen Einsatzgruppe D unter der Leitung von Otto Ohlendorf ermordet.
Selma und ihre Familie mussten ab Oktober des Jahres zusammen mit rund 50.000 anderen Menschen in einem Ghetto leben. Sie waren gezwungen, ihre Häuser und ihren gesamten Besitz zurück zu lassen und durften fortan nur in bestimmten, vom Rest der Stadt abgetrennten, Straßenzügen wohnen.
Die Bedingungen im Ghetto waren unmenschlich. Selmas Freundin Else erinnerte sich später, dass Selma mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater unter einem Bogengang wohnen musste, der notdürftig mit Decken verhängt war. Es gab für sie in den Häusern keinen Platz.
Dies sind Selmas letzte Worte an Lejser
Selma merkte, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleiben würde. Kurz vor ihrer Deportation übergab sie den Gedichtband einer Freundin. Diese sollte ihn Lejser zukommen lassen. Selma blieb nicht einmal mehr Zeit, um ihn ein letztes Mal zu sehen.
Das ist das Schwerste: sich verschenken
Und wissen, dass man überflüssig ist,
Sich ganz zu geben und zu denken
Dass man wie Rauch ins Nichts verfließt
Das Gedicht kann verschieden verstanden werden: Selma ahnte vielleicht, wie sehr sie und Lejser vom Tod bedroht waren. Doch möglicherweise fühlte sie ihre Liebe von ihm auch nicht genügend erwidert. Ganz ohne Probleme scheint die Freundschaft jedenfalls nicht abgelaufen zu sein, denn anscheinend hatte der Geliebte sich vor ihrer Deportation nicht einmal von ihr verabschiedet. Auf die letzte Seite ihres Gedichtbandes schrieb sie mit rotem Stift:
»Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben. Schade daß du dich nicht von mir empfehlen wolltest. Alles Gute Selma«
Im Juli 1942 wurde Selma mit ihrer Familie in Czernowitz auf einen LKW geladen und in ein Lager im Gebiet Transnistrien (heute Ukraine und Moldawien) verschleppt. Am Fluss Dnjestr wurden sie auf Flößen aus Baumstämmen ans andere Ufer übergesetzt. Das Foto zeigt so ein Floß.
Schließlich wurde Selma erneut auf einen LKW verladen und bei dem Dorf Michailowka, jenseits des Flusses Bug, in ein Zwangsarbeitslager gebracht. Dort musste sie fortan in einem riesigen Pferdestall schlafen.
Mit vielen anderen Jüdinnen und Juden sollte Selma für eine Baufirma, die der nationalsozialistischen Organisation Todt unterstellt war, schwere Straßenarbeiten verrichten. Für den geplanten Ausbau der Durchgangsstraße IV dienten die verschleppten Menschen den Nationalsozialisten als billige Arbeitskräfte, die sie bis zu ihrem Tod ausbeuten konnten.
Was war die Organisation Todt?
Die Organisation Todt (OT) wurde 1938 gegründet und war nach deren Leiter Fritz Todt benannt. Dieser wurde am 17. März 1940 Reichsminister für Bewaffnung und Munition. Die OT sollte sogenannte kriegswichtige Bauarbeiten ausführen, vor allem in den deutsch besetzten Gebieten. Dazu zählte der Bau von Autobahnen und Bunkern.
Die meisten Arbeiter/-innen der Organisation Todt wurden unter Zwang herbeigeschafft. Es waren KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Zivilpersonen aus allen Ländern Europas. Gegen Ende des Krieges befehligte die OT über eine Million Zwangsarbeiter/-innen. Tausende von ihnen kamen aufgrund der schweren Arbeiten, mangelnder Ernährung und Krankheiten ums Leben.
Wofür musste Selma eigentlich arbeiten?
Selma musste schwere Zwangsarbeit im Straßenbau leisten. Geplant war eine über 2000 Kilometer lange Straße, die am Ende von Berlin aus bis in das Gebiet der heutigen Ukraine führen sollte. Oder anders gesagt: Die Zwangsarbeiter/-innen sollten mit einfachsten Werkzeugen eine Straße bauen, die von der Länge her der Luftlinie zwischen Hamburg und Istanbul entspricht.
Im Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942, in dem Details zur Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen zusammengefasst wurden, heißt es dazu:
»Unter entsprechender Leitung sollen im Zuge der Endlösung der Judenfrage die Juden in geeigneter Weise zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen […] werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird.«
Das bedeutet im Klartext: Man plante die Arbeit bewusst so, dass beim Bau der Durchgangsstraße IV viele, viele Menschen sterben würden. »Natürliche Verminderung« bedeutete nichts anderes als Tod durch Verhungern, Erfrieren oder Krankheiten. Juden und Jüdinnen sollten die Zwangsarbeit beim Straßenbau und in anderen Arbeitskommandos nicht überleben.
Durch die katastrophalen Lebensbedingungen erkrankten viele Menschen. Es gab keine medizinische Versorgung, kein sauberes Wasser und nur wenig Nahrung. Läuse und anderes Ungeziefer konnten sich schnell verbreiten. Sie verursachten Wunden, die nicht mehr heilten, und übertrugen lebensgefährliche Krankheiten. Auch Selma erkrankte wenige Monate schwer an Fleckfieber.
Zufällig hielt ein Maler in seinem Tagebuch Selmas letzte Tage fest
Im Zwangsarbeitslager Michailowka musste Selma mit vielen Menschen in einem Raum leben. Unter ihnen war auch der Maler Arnold Daghani, mit dem sie sich bald anfreundete. Sie mochte seine Bilder, nur manchmal fand sie, dass er die Grausamkeit des Alltags nicht gut genug abbildete.
Als Selma an Flecktyphus erkrankte, muss es ihrer Mutter und ihrem Stiefvater gelungen sein, die SS-Männer über ihren Gesundheitszustand zu täuschen. Denn wer in Michailowka diese ansteckende Krankheit bekam, wurde von der SS sofort erschossen. Selma starb im Lager, da war sie gerade 18 Jahre alt.
»16. Dezember 1942. Gegen Abend hauchte Selma Meerbaum-Eisinger ihr Leben aus.«
»17. Dezember 1942. Professor Dr. Gottlieb ist an Entkräftung gestorben. Er und Selma wurden zusammen begraben [...] «
»18. Dezember 1942. Frau Eisinger [Selmas Mutter] hat mir erzählt, dass Selma, bevor sie krank wurde, die Absicht gehabt hat, mit einem Milizmann zu flüchten. Sie erfuhr dies aus einem Abschiedsbrief an sie, der in Selmas Mantel gefunden wurde. Ich erfuhr auch so, dass Selma schöne Gedichte verfasst hatte.«
Auf dem Bild siehst du den Einband des Gedichtbandes, den Selma für ihren Schwarm Lejser verfasst hat. Sie muss sehr verliebt in ihn gewesen sein, das hört man aus den Worten heraus. Kurz bevor Selma aus Czernowitz verschleppt worden war, hatte sie es geschafft, ihm die Gedichte zukommen zu lassen. Ob sie Lejser wohl gefallen haben?
Was passierte mit Selmas Schwarm?
Zusammen mit über 300 anderen jüdischen Flüchtlingen wollte Lejser auf dem türkischen Schiff Mefkure nach Palästina entkommen. Am 3. August 1944 lief die Mefkure von der Hafenstadt Constanța aus. Am 5. August um 0.10 Uhr wurde das Schiff kurz vor dem Bosporus von einem sowjetischen U-Boot gesichtet.
Das aufgetauchte U-Boot feuerte eine Leuchtrakete und begann kurz darauf, das Schiff zu beschießen. Etwa dreißig Minuten nach Beginn des Angriffes sank die Mefkure. Nur eine Handvoll der über 300 Menschen an Bord überlebte das Unglück. Lejser Fichman war nicht unter ihnen. Er starb, ohne zu wissen, was aus Selma geworden war.
Die 57 Gedichte von Selma versanken nicht zusammen mit dem Schiff im Schwarzen Meer. Weil Lejser Angst hatte, dass sie unterwegs verloren gehen könnten, hatte er sie vor seiner Abreise einer Freundin von Selma übergeben. So überstanden die Gedichte den Krieg unbeschadet.
Was passierte weiter mit den Gedichten?
Nach dem Krieg trafen sich die Freundinnen Else und Renee wieder. Keine von ihnen wusste zunächst, was aus Selma und Lejser geworden war. Renee nahm den Gedichtband schließlich im Handgepäck mit, als sie nach Palästina auswanderte. Das war Glück, denn ihr Koffer ging unterwegs verloren. Wieder wurden die Gedichte auf wundersame Weise gerettet.
Viele, viele Jahre später wurden Selmas Werke schließlich als Buch herausgegeben. Ihr Schicksal und ihr tragischer Tod wurden einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Viele Musiker/-innen sorgten dafür, dass Selmas Gedichte vertont wurden. Ihre Texte sangen unter anderem Joy Denalane, Sarah Connor, Stefanie Kloß und Thomas D.
Hier kannst du dir eines von Selmas vertonten Gedichten anhören
Ich bin die Nacht. Meine Schleier sind
viel weicher als der weiße Tod.
Ich nehme jedes heiße Weh
mit in mein kühles, schwarzes Boot.
Mein Geliebter ist der lange Weg.
Wir sind vermählt auf immerdar.
Ich liebe ihn, und ihn bedeckt
mein seidenweiches, schwarzes Haar.
Mein Kuss ist süß wie Fliederduft –
der Wanderer weiß es genau...
Wenn er in meine Arme sinkt,
vergisst er jede heiße Frau.
Meine Hände sind so schmal und weiß,
dass sie ein jedes Fieber kühlen,
und jede Stirn, die sie berührt,
muss leise lächeln, wider Willen.
Ich bin die Nacht. Meine Schleier sind
viel weicher als der weiße Tod.
Ich nehme jedes heiße Weh
mit in mein kühles, schwarzes Boot.
Text: Selma Meerbaum-Eisinger
Musik: Olivier Truan, World Quintet 2005
Gesang: Jasmin Tabatabai
Hier erfährst Du noch mehr über die Vertonung von Selmas Gedichten, die Idee von David Klein und die beteiligten Musiker/-innen: http://www.selma.tv/de/interpreten.
Was denken Jugendliche heutzutage über Selma?
An dem Schreibwettbewerb »Was geht mich eigentlich Selma an?« beteiligten sich 500 Jugendliche aus Deutschland, Österreich, Luxemburg, der Schweiz und Italien. Manche schrieben kurze Gedichte, manche aber auch seitenlange Aufsätze.
Diese hier gezeigten Zeilen wurden von der 16-jährigen Amelia geschrieben, die den zweiten Platz belegte. Sie machte sich Gedanken über das letzte Gedicht in Selmas Album. Amelia kam zu dem Schluss, dass es nicht nur als Liebesgedicht interpretiert werden könnte. Lies selbst, welchen persönlichen Zugang Amelia zu Selmas Gedicht gefunden hat.