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10. Dezember 1927Geburt
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6. September 1941Ghetto
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Oktober 1942Tagebuch
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23. September 1943Tod
»Belmont. Lehrer Biber klettert mit uns auf die Berge. Unsere Wangen brennen und der Schnee knirscht weiter unter unseren Füßen. In frostiger Pracht entfaltet sich die Winterlandschaft unterhalb der Hügel. Ich stehe auf dem Hügel und atme wie befreit.«
So erinnerte sich Yitzhak Rudashevski an die Zeit, bevor der Zweite Weltkrieg sein Leben völlig verändern sollte. Damals war Yitzhak 13 Jahre alt und lebte zusammen mit seiner Familie in Wilna, der Hauptstadt des heutigen Litauen. Yitzhak liebte seine Familie und ging gern zur Schule. Mit seinen Freund/-innen von den Pionieren traf er sich oft. Er begeisterte sich für die Sowjetunion und die Rote Armee. Im Juni 1941 freute er sich auf die Ferien.
»Die Arbeit in der Schule ist vorbei. Die Tage sind sonnig und warm. Wir möchten raus aus der Stadt. Wir Pioniere werden uns am Schulhof treffen. […] Unser einziges Thema ist das Ferienlager. Unsere Schulfreunde träumen von grünen Feldern, vom fröhlichen Leben im Lager. Sie sehnen sich danach, aus der Stadt zu kommen. Per Dampfer fahren wir nach Werki. Ein sonniges Grün empfängt uns. Gegen Abend kehren wir zurück in die vor Leben pulsierende, laute Stadt. Nie war mein Leben so voller Freude und Sorgenfreiheit wie im sowjetischen Sommer von 1941.«
Was man über Yitzhaks Familie weiß
Yitzhak wurde am 10. Dezember 1927 in Wilna geboren. Die Stadt gehörte damals zu Polen. Er war das einzige Kind von Eli und Rosa Rudashevski. Sein Vater arbeitete für die Druckerei eines Verlagshauses, das die bekannte jiddische Zeitung Vilner Tog herausgab. Als die deutsche Armee am 24. Juni 1941 in Wilna einmarschierte, war Yitzhak Schüler der 7. Klasse am Wilnaer Realgymnasium.
Fotoalbum der Familie Rudashevski
Warum war Yitzhak Mitglied in einer sowjetischen Jugendorganisation?
Am 1. September 1939 überfiel das Deutsche Reich Polen und der Zweite Weltkrieg begann. Das hatte auch Auswirkungen auf Yitzhaks Heimatstadt, denn Wilna gehörte zu dieser Zeit zu Polen. Der polnische Staat wurde jedoch zerschlagen und zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion aufgeteilt. Von da an gehörte Wilna zu Litauen und damit in den Einflussbereich der Sowjetunion. Im Juni 1940 marschierte die Rote Armee in Wilna ein.
Die sowjetische Verwaltung übernahm nicht nur politisch die Macht, sondern gründete auch sowjetische Organisationen. Dazu gehörte auch die Pionierorganisation, die für Jugendliche zwischen 10 und 15 Jahren bestimmt war. Hier war auch Yitzhak begeistertes Mitglied. Die Kinder und Jugendlichen wurden darin zum Kommunismus erzogen, doch standen auch Sport und gemeinsame Ausflüge auf dem Programm.
Am 24. Juni 1941 marschierte jedoch die deutsche Wehrmacht in Wilna ein. Am 5. Dezember 1942, dem Tag, von dem Yitzhak in seinem Tagebuch über den Winterausflug mit Lehrer Biber erzählte, lebte er bereits seit über einem Jahr in einem Ghetto, das die Deutschen in der Stadt errichtet hatten.
Angst, Hektik, Chaos. Nur das Nötigste zusammenpacken: So erinnert sich der 14-jährige Yitzhak an den Morgen des 6. September 1941. An diesem Tag mussten er und seine Familie ihre Wohnung verlassen. Die deutschen Besatzer zwangen sie, in eines der zwei neu eingerichteten Ghettos ihrer Heimatstadt Wilna umzuziehen.
Dort musste sich die Familie Rudashevski – Yitzhak, seine Mutter, sein Vater und seine Großmutter – mit weiteren elf Personen ein kleines Zimmer teilen. In der ersten Nacht im Ghetto blieb ihnen nichts anderes übrig, als eine Tür als Bett zu benutzen.
Es blieb der Familie nicht viel Zeit, um sich im Ghetto einzurichten. Ständig führten die Deutschen sogenannte »Aktionen« durch, bei denen Menschen aus dem Ghetto getrieben wurden und meistens nicht mehr zurückkehrten. Die Männer, Frauen und Kinder wurden nach Ponary, einem ehemaligen Ausflugsort in der Nähe von Wilna, gebracht. Deutsche SS-Männer und litauische Helfer erschossen sie dort.
Nur vier Wochen später schwebte auch Yitzhak mit seiner Familie in Lebensgefahr. Die Deutschen hatten sich erneut eine »Aktion« ausgedacht: Nur wer eine Arbeitsbescheinigung, einen sogenannten Gelben Schein, vorweisen konnte, durfte im Ghetto bleiben. Yitzhaks Mutter konnte in letzter Sekunde eine Arbeitsbescheinigung organisieren, doch galt diese nicht für Yitzhaks Großmutter. Sie mussten sich von ihr verabschieden.
Yitzhaks Mutter tat alles, um solch einen Schein zu ergattern
Die »Aktion Gelber Schein« fand im Oktober 1941 statt. Nur diejenigen, die im Besitz einer Arbeitsbescheinigung waren, durften im Ghetto bleiben.
»Etwas Schreckliches liegt in der Luft. Bald, bald wird etwas explodieren. Ein sorgenvoller Abend steht uns bevor. Die Straßen sind voller Menschen. Die Inhaber einer Arbeitsbescheinigung lassen sich registrieren. Wer kann versteckt sich. Das Wort ›Maline‹ hat an Bedeutung gewonnen. Sich verstecken, sich begraben in einem Keller, auf einem Dachboden, um sein Leben zu retten. […] Die Leute bieten Geld und Gold für das Privileg, registriert zu werden.«
Yitzhaks Mutter konnte in letzter Sekunde eine Arbeitsbescheinigung, einen Gelben Schein besorgen. Doch damit war nicht die gesamte Rudashevski-Familie gerettet.
In seinem Tagebuch beschrieb Yitzhak den Abschied von seiner Großmutter
»Wir nahmen kleine Bündel und ordnen uns bei den Glücklichen ein, die das kleine Ghetto verlassen … Um uns herum weinen alle. Sie verabschieden sich von ihren Verwandten, die keine Wahl haben und sich im kleinen Ghetto verstecken müssen. Wir erfahren, dass alte Menschen, die als Eltern registriert sind, nicht durch das Tor gelassen werden.
Großmutter kann nicht mit uns gehen. Wir sind verzweifelt. Niemand wird mehr in das Versteck im Hof hineingelassen … Wir nehmen nur kurz Abschied von Großmutter – für immer. Wir lassen sie allein mitten auf der Straße stehen und laufen los, um uns selbst zu retten. Ich werde nie die zwei flehenden Hände und Augen vergessen, die bettelten: ›Nehmt mich mit.‹«
Ein SS-Offizier listete die Zahl der in Wilna ermordeten Menschen genau auf
Schon seit Juli 1941 waren deutsche SS-Einheiten in Wilna. Bereits kurz nach ihrer Ankunft hatten sie damit begonnen, Massenerschießungen im kleinen Ort Ponary, einige Kilometer außerhalb Wilnas, zu organisieren. Allein im Monat Oktober, als die »Aktion Gelber Schein« stattfand, ermordete das Einsatzkommando 3a mehrere tausend Menschen.
Der SS-Offizier Karl Jäger, der das Einsatzkommando leitete, listete in einem Bericht für seine Vorgesetzten vom 1. Dezember 1941 feinsäuberlich die Zahl der unter seinem Kommando getöteten Menschen auf. Für das Stadtgebiet Wilna gab er 13 unterschiedliche Tage an, an denen Massenerschießungen an jüdischen Männern, Frauen und Kindern stattgefunden hatten. Und diese Auflistung ist noch nicht einmal vollständig. Insgesamt wurden in Ponary zwischen Juli und Dezember 1941 etwa 33.000 Menschen ermordet.
Der sogenannte Jäger-Bericht dient heute als Beleg für die unter deutschem Kommando erfolgten Massenerschießungen in Litauen.
Das Ghetto Wilna bestand nur aus einigen wenigen Straßen. Im Winter war es dort bitterkalt, die Menschen hatten nichts zum Heizen, waren hungrig und fürchteten sich vor der ungewissen Zukunft. Yitzhak fühlte sich eingesperrt, wie in einem Gefängnis. Jeder Tag glich dem anderen. Er musste sich sogar um den Haushalt kümmern und Essen auftreiben, während sein Vater zur Zwangsarbeit verpflichtet war.
Zum Zeitvertreib begann Yitzhak, vermutlich im Herbst 1942, Tagebuch zu schreiben. Er versuchte zunächst, sich an das, was er bisher erlebt hatte, zu erinnern und es in Worte zu fassen. Fast jeden Tag trug er seine Erlebnisse ein und beschrieb, wie es ihm ging. So konnte er seine furchtbare Situation besser ertragen und verstehen.
Seine Familie und seine Freund/-innen wussten von Yitzhaks Beschäftigung, dennoch sprachen sie ihn nicht darauf an. Seine Cousine, Soreh Voloshin, erinnert sich genau: »Nicht einmal haben wir über seinen Ordner mit Notizen gesprochen. Er hat es geheim gehalten.«
»Mir ist eingefallen, dass heute mein Geburtstag ist. Heute wurde ich 15 Jahre alt. Man merkt kaum, wie die Zeit vergeht. Sie, die Zeit, läuft unbemerkt und plötzlich verstehen wir das, wie ich heute zum Beispiel, und entdecken, dass Tage und Monate vergehen, dass das Ghetto keine schmerzhafte, sich windende Szene eines Traums ist, die ständig verschwindet, sondern ein riesiger Sumpf, in dem wir unsere Tage und Wochen verlieren.«
In dieser Straße schrieb Yitzhak sein Tagebuch
Seinen Alltag im Ghetto beschrieb Yitzhak folgendermaßen:
12. November 1942
»Es ist kalt. Ein strenger, grausamer Winter kommt. […] Es ist immer noch dunkel, wenn ich morgens aufstehe. Ich will nicht aufstehen. […] Winter ist die schrecklichste Zeit des Jahres für Ghettobewohner. Häuser ohne Öfen, ohne Fenster, wir haben kein Holz, keine Besitztümer. Wir heizen unseren Ofen nicht, es lohnt sich nicht. […] Heute wurden im Ghetto Kartoffeln verteilt, 10 kg pro Person. Ich habe den halben Tag in der Schlange gestanden, ohne welche zu ergattern. Danach war ich ganz durchgefroren.«
4. Dezember 1942
»Mutter geht es nicht gut. Deshalb konnte ich nicht zur Schule gehen. Natürlich verbrachte ich den Tag über Töpfen und Pfannen. [...] Wegen meiner Lernerei, dem Kochen und der Hausarbeit werde ich langsam nervös. Ich habe eigentlich keine Lust dazu. Heute Mittag habe ich Linsen mit Klößen gekocht und Mutter eine Mundspülung und Tee gebracht.«
Die engen Straßen und Mauern des Ghettos waren Yitzhak verhasst
18. Oktober 1942
»Ein historischer Tag im Ghetto. Die Menschen ziehen in den neu eingerichteten ›Distrikt‹, die Oshmene Straße. […] Ich bin in einer merkwürdigen, traurigen Stimmung. […] Ich gehe nach draußen und schaue mir den neuen ›Distrikt‹ an. Gleichzeitig überkommt mich ein schönes Gefühl, während ich durch die neuen Höfe laufe, […] was für eine Freude! Das einfache Gefühl eines Gefangenen, der in seiner Zelle eine neue Ecke entdeckt hat.«
10. Dezember 1942
»Muss ich tagein tagaus die von Mauern abgeschlossenen Ghettotore sehen. Muss ich in meinen besten Jahren nur die kleinen Straßen, die wenigen engen Höfe sehen?«
Yitzhak weigerte sich, das Leben als Gefangener hinzunehmen. Er war neugierig auf die Welt außerhalb der wenigen umzäunten Straßen. Neues wollte er lernen und möglichst viele eigene Erfahrungen sammeln. Im Ghetto war es nahezu unmöglich, diese Träume zu verwirklichen.
Im Herbst 1942 eröffnete jedoch ein geheimer Jugendklub. Yitzhak ging regelmäßig zu den Treffen. Hier konnte er sich mit Freund/-innen verabreden, sich unterhalten, das Ghettoleben für einen Augenblick vergessen. Die Freund/-innen brachten Theaterstücke auf die Bühne, sangen und lachten gemeinsam, interviewten Ghettobewohner/-innen für ein Geschichtsprojekt und organisierten Feiern.
»Ein langweiliger Tag. […] was würde wohl passieren, wenn wir nicht zur Schule gehen würden, zum Klub, keine Bücher lesen würden. Wir würden vor Trübsinn […] sterben.«
Yitzhak durchlebte einen inneren Kampf: Ausbildung machen oder doch lieber weiter zur Schule gehen?
Zwar liebte es Yitzhak, in der Ghettoschule zu lernen und mit seinen Freund/-innen im Jugendklub Zeit zu verbringen. Dennoch fragte er sich, ob es nicht besser für ihn wäre, einen Beruf zu erlernen. So würde er seine Familie unterstützen können:
8. Januar 1943
»Neue Studenten werden zu der technischen Schule im Ghetto zugelassen. Ich erlebe jetzt einen großen inneren Kampf, ob ich lieber ein Handwerk lernen oder weiter zur Schule gehen soll, wie ich es bis jetzt getan habe. Ich kann mich nicht entscheiden. Einerseits ist Krieg, im Moment ist es einfacher für jemanden, der irgendein Handwerk gelernt hat. Ich werde erwachsen und früher oder später werde ich arbeiten müssen.
Andererseits denke ich mir, dass der Besuch der technischen Schule eine Unterbrechung meiner Studien bedeuten würde. Denn nach dem viermonatigen Berufskursus ist das Ziel zu arbeiten, und wenn ich erst einmal arbeite, werde ich nie wieder zur Schule zurückkehren. Nach einigem Zögern und langem Nachdenken, habe ich mich dafür entschieden, den Moment zu nutzen. Ich muss lernen; ich habe immer noch passende Bedingungen, deshalb darf ich meine Studien nicht unterbrechen.
Meine Entschlossenheit zu studieren hat sich zu so etwas wie Trotz gegen die Gegenwart entwickelt. Eine Gegenwart, die es hasst zu lernen, aber es liebt zu rackern und zu schuften. Nein, habe ich entschieden. Ich werde mit dem Morgen leben, nicht mit dem Heute. Und wenn von 100 Ghettokindern meines Alters 10 studieren können, muss ich unter den Glücklichen sein, muss ich das ausnutzen. Das Lernen ist mir sogar noch wichtiger als früher.«
In den engen Gassen sammelte Yitzhak Lieder, Witze und Geschichten
»Heute hatten wir ein interessantes Gruppentreffen mit dem Dichter Abraham Sutzkever. Er sprach mit uns über Lyrik, allgemein über Kunst und über Unterkategorien der Lyrik. In unserer Gruppe wurden zwei wichtige und interessante Dinge entschieden. Wir werden unsere Literaturgruppe folgendermaßen unterteilen: Jiddische Lyrik und am wichtigsten: eine Abteilung, die sich mit dem Sammeln von Ghettofolklore beschäftigen soll. Diese Abteilung hat mich besonders interessiert und angezogen. Wir haben bereits einige Details besprochen.«
Die Jugendlichen wollten die Umstände im Ghetto genau festhalten und dokumentieren. Das, was die Deutschen mit ihnen machten, war eine neue und kaum zu beschreibende Erfahrung für sie. Eine eigene Ghettosprache und -kultur war entstanden.
»Im Ghetto werden Dutzende von Sprüchen, Ghettoflüchen und Ghettosegen vor unseren Augen erfunden; Begriffe wie »vashenen«, »ins Ghetto schmuggeln«, sogar Lieder, Witze und Geschichten, die schon wie Legenden klingen. Ich fühle, dass ich eifrig in diesem kleinen Kreis mitarbeiten werde, weil die Ghettofolklore, die unglaublich in Blut entstanden ist und über die kleinen Gassen verstreut ist, gesammelt und als Schatz für die Zukunft festgehalten werden muss.«
Quelle: Yitzhak Rudashevski (1979): Diary of the Vilna Ghetto, Tel Aviv, S. 80 f.
Bei einer Gedenkveranstaltung in Litauen sangen die Anwesenden mit der ehemaligen Partisanin Fania Brancovskaja das Lied »Zog nit keynmol«. Die Szene stammt aus dem Film »Wir sind da! Zeugnisse Überlebender des Holocaust in Litauen« des Alternativen Jugendzentrums Dessau unter Leitung von Jana Müller.
Sage niemals,
dass du den letzten Weg gehst,
auch wenn bleierne Himmel
die blauen Tage verfinstern.
Kommen wird noch unsere ersehnte Stunde,
unser Schritt wird mächtig sein, wir sind da!
Vom grünen Palmenland bis zum
weißen, mit Schnee bedeckten Land
kommen wir her mit unserer Pein
und unserem Schmerz.
Wo immer ein Tropfen unseres
Blutes hinfiel,
werden dort unsere Stärke, unser
Mut hervorwachsen!
Vergolden wird uns
die Morgensonne das Heute,
und das Gestern wird mit dem
Feind verschwinden.
Aber wenn die Sonne und
die Morgendämmerung uns verpassen,
soll das Lied wie eine Hymne sein,
von Geschlecht zu Geschlecht.
Geschrieben ist das Lied
mit Blut und nicht mit Blei.
Es ist kein Lied
eines Vogels in der Freiheit.
Dieses Lied hat ein Volk
Zwischen einstürzenden Mauern
gesungen,
mit Pistolen in den Händen.
So lautet der letzte Satz in Yitzhaks Tagebuch. Er stammt vom 6. April 1943. Obwohl das Tagebuch bereits zu diesem Zeitpunkt abbricht, lebte Yitzhak noch ein halbes Jahr im Ghetto Wilna. Im September 1943 wurde das Ghetto endgültig von den Deutschen aufgelöst. Die letzten Bewohner/-innen wurden entweder in Konzentrationslager gebracht oder in dem kleinen, nahegelegenen Ort Ponary im Wald erschossen.
Auch Yitzhak war unter den Opfern. Er wurde am 23. September, vermutlich zusammen mit seinem Vater und seiner Mutter, in Ponary erschossen. Nur ein Mitglied seiner unmittelbaren Familie hat diese letzte Mordaktion der Deutschen überlebt: Yitzhaks Cousine Soreh konnte sich zu den Partisan/-innen in den Wald retten. Nach der Befreiung der Stadt Wilna durch die Rote Armee suchte sie im Juli 1944 nach Spuren ihrer Familie. Sie fand im verlassenen Ghetto Yitzhaks persönlichen Schatz: sein Tagebuch.
Der Massenmord war von den deutschen Besatzern genau geplant und wurde nahezu perfekt organisiert. Allerdings gab es Augenzeug/-innen, die von den Geschehnissen in Ponary berichten konnten.
Ein deutscher Lastwagenfahrer war Zeuge einer Massenerschießung
Der kleine Ort Ponary war bekannt für seine idyllische Landschaft und daher ein beliebtes Ausflugsziel. Die sowjetischen Behörden hatten dort zuvor Gruben zur Lagerung von Treibstoff ausheben lassen. Nach der deutschen Besetzung nutzten SS-Einsatzkommandos ab Juli 1941 die Baugruben, um dort Juden und Jüdinnen, Kommunist/-innen und Kriegsgefangene zu erschießen und zu verscharren.
Ein deutscher Lastwagenfahrer beobachtete im Juli 1941 die Geschehnisse in Ponary. Erst Jahre später wurde er dazu befragt.
»Ich kann nicht sagen, ob wir am 5. Juli oder 10. Juli nach Ponary gekommen sind. […] Ich kann nicht mehr sagen, ob es am ersten oder zweiten Tag unseres dortigen Aufenthalts war, als ich während der Fahrzeuginstandsetzung plötzlich eine Kolonne von etwa 400 Mann, aus Richtung Wilna kommend, auf der Straße in den Kiefernwald gehen sah.
Die Kolonne, die ausschließlich von Männern im Alter von 25 – 60 Jahren bestand, wurde unter Bewachung von litauischen Zivilisten in den Wald geführt. Die Litauer waren mit Karabinern ausgerüstet. Die Leute waren voll bekleidet und hatten nur das Notdürftigste bei sich. […] Am nächstfolgenden Tag, ich glaube, dass es um die Mittagszeit war, beobachtete ich wieder auf dem gleichen Wege eine Gruppe von 400 Juden aus Wilna herkommend in den gleichen Wald gehen. […]
Dieser Gruppe bin ich nun mit mehreren Kameraden gefolgt. […] Nachdem wir dieser Gruppe etwa 800 – 1000 Meter gefolgt waren, stießen wir auf 2 größere Sandgruben. Der Weg, auf dem wir gegangen waren, lief zwischen den beiden Gruben durch. […] Von der Bewachungsmannschaft sind dann die Personen in kleineren Gruppen in die Kiesgrube zur rechten Seite geführt worden. Am Grubenrand befand sich ein Graben, in den die Juden gehen mussten. Der Graben hatte die Form eines Kreises.«
Ein elfjähriges Mädchen konnte sich aus Ponary retten
Nicht jeder Schuss, den die Deutschen abgaben, traf auch. In diesen seltenen Fällen hatten die Opfer eine Chance zu überleben, wenn sie sich reglos in die Grube fallen ließen und sich tot stellten.
Menschen, die beispielsweise nur einen Streifschuss erlitten hatten, kehrten ins Ghetto zurück und erzählten den anderen Ghettobewohner/-innen von ihren Erlebnissen. So auch die elfjährige Yudis Trojak, die dem Tagebuchschreiber Hermann Kruk über ihre Erlebnisse in Ponary berichten konnte:
»Der Hausmeister nahm allen die Schlüssel zu ihren Wohnungen ab and sie brachten uns von dort zum Gefängnis (Lukiski). Montag und Dienstag blieben wir im Gefängnis. Am Dienstagmorgen ließen sie uns alle hinaus in den Gefängnishof und alle waren sich sicher, dass wir entlassen werden würden.
Aber es kam der Befehl, alle unsere Habseligkeiten zurückzulassen und in die wartenden Lastwagen zu steigen. Während wir in den abgedeckten Lastwagen saßen, sah eine Frau, dass wir durch einen Wald fuhren. Später hörten wir Schüsse. Ein Wehklagen erhob sich. Wir verstanden nicht, was mit den Männern passierte, weil sie zu Fuß weggeführt wurden.
Als wir aus den Lastwagen stiegen, wurden wir in einen Wald geführt, zwischen Sandhügeln, und dort warteten wir…. Erst am Nachmittag gegen fünf Uhr holten sie uns 10 ab. Von dort gingen wir etwa fünf Minuten. Sie legten uns Augenbinden an und stellten uns vor eine Grube. […] Ich schob die Binde so zurecht, sodass ich sehen konnte…. Dort in der Grube lagen eine Menge toter Körper, ganze Berge von ihnen! […]
Ich und die Frau, die mich aus dem Massengrab gezogen hatte, und einige andere, blieben dort [in Ponary] über Nacht. Am nächsten Tag brachte uns eine Bauersfrau in die Stadt.«
So wird heute an Yitzhak erinnert
Unterhalb des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin liegt der Ort der Information. Hier gibt es einen besonderen Raum, den Raum der Namen. In ihm kann man sich die vertonten Kurzbiografien von Opfern der nationalsozialistischen Judenverfolgung anhören. Auch Yitzhaks Biografie ist darunter. Inzwischen gibt es im Raum der Namen etwa 11.000 Hörbiografien. Wenn man sich alle Biografien hintereinander anhören wollte, würde das etwa eine Woche dauern. Wüsste man die Namen aller Opfer, würde es 6 Jahre, sieben Monate und 27 Tage dauern.
»Yitzkhak Rudashevski wurde am 10. Dezember 1927 im litauischen Vilnius geboren, das damals unter polnischer Herrschaft stand. Er war der Sohn des Schriftsetzers Elihu Rudashevski und seiner Frau Rose. Yitzhak wuchs heran und besuchte ein angesehenes Realgymnasium.
Er war noch Schüler, als die deutsche Wehrmacht Vilnius besetzte. Die Familie musste ins Ghetto ziehen. Als das Ghetto im September 1943 geräumt wurde, versteckten sich Yitzhak und seine Familie im Keller des Hauses eines Onkels. Sie wurden entdeckt und ermordet. Yitzhak Rudashevski wurde 15 Jahre alt.«