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1923Geburt
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1940Zwangsunterbringung
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April 1944Anklage
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Oktober 1944Entmündigung
Eigentlich war Elisabeths Leben wie bei vielen anderen auch verlaufen: bei den Eltern wohnen, sich mit zwei großen Brüdern herumärgern, die Schule besuchen, den Abschluss schaffen, dann arbeiten.
Und eigentlich konnte Elisabeth ganz zufrieden sein: Sie hatte eine Arbeit in einer Metallfabrik gefunden und konnte sich sogar eine eigene Wohnung leisten. Endlich unabhängig konnte sie selbst über ihr Leben entscheiden.
Aber dann geschah etwas, das Elisabeths Leben für immer verändern sollte. Sie wurde eingesperrt. Im »Versorgungsheim« Farmsen. So lautete der beschönigende Name dieser Anstalt, den in Hamburg jeder kannte. In Farmsen sperrten die Behörden vor allem arme Menschen ein, die sie als »asozial« bezeichneten und aus der Gesellschaft ausschließen wollten. Das traf unter anderem Prostituierte, Arbeitslose, Alkoholabhängige, Obdachlose und Menschen, die betteln mussten. Und eben auch minderjährige Mädchen wie Elisabeth, zum Beispiel wenn sie oft von zuhause wegliefen, die Schule schwänzten oder wenn sie sexuell aktiv waren. Sie alle mussten in Farmsen arbeiten. Jeden Tag. Acht Stunden lang. Nicht, dass sie dafür bezahlt worden wären. Ihre Arbeit zählte als Gegenleistung für ihre unfreiwillige Unterbringung.
Wie war Elisabeth in diesen Schlamassel geraten? Hatte sie etwas angestellt? Das lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit klären. Denn die einzigen Unterlagen, die von Elisabeth und ihrem Leben erzählen, sind ziemlich knapp. Kaum etwas Persönliches ist darin zu finden.
Aber im Allgemeinen musste man nichts Schlimmes getan haben, um nach Farmsen zu kommen: Vielleicht hatte sich Elisabeth bei der Arbeit verspätet, vielleicht hatte sie dort einen Fehler gemacht, vielleicht war sie nachts mit ihren Freund/-innen lange unterwegs gewesen und dadurch negativ aufgefallen. Oder sie hatte irgendetwas anderes getan, das nicht ins Weltbild der Nationalsozialisten passte.
Ist Elisabeth auf diesem Foto zu sehen?
Wann genau dieses Foto entstanden ist, ist unbekannt – möglicherweise zu der Zeit als Elisabeth in Farmsen eingesperrt war. Da es kein Foto von Elisabeth gibt und man nicht weiß, wie sie zu dieser Zeit aussah, könnte sie tatsächlich auf diesem Foto mit abgebildet sein.
Seit Februar 1941 wurde Elisabeth in Farmsen gefangen gehalten und zur täglichen Arbeit gezwungen. Die Stationen, auf denen die Menschen leben mussten, waren oftmals vergittert und bei Regelverstößen konnte Arrest von bis zu fünf Tagen, bei Wasser und Brot, angeordnet werden. Eineinhalb Jahre lang erhielt Elisabeth keine Bezahlung und keinen Urlaub. Dann wurde sie entlassen.
Was für Unterlagen sind das?
Eine einzige Akte gibt Auskunft darüber, was mit Elisabeth geschah. Es handelt sich um eine Strafakte, die heute im Landesarchiv in Schwerin liegt. Nach ihrem erzwungenen Aufenthalt im »Versorgungsheim« hatte Elisabeth noch viel mehr Ärger mit den Behörden.
Aus Respekt vor Elisabeths Privatsphäre ist ihr Nachname hier geschwärzt.
»Krankhaft reizbar« – Was soll das heißen?
Aus der Sicht des Direktors der Hamburger Wohlfahrtsanstalten, Georg Steigertahl, handelte es sich bei den Menschen, die in Farmsen eingesperrt waren, ausschließlich um »krankhaft Reizbare, Querulanten, Haltlose, Gemütsweiche, Gefühllose, Verschrobene, moralisch Schwachsinnige und sexuell Abhängige«. Was meinte er mit diesen unklaren Begriffen, die alles und nichts bedeuten konnten?
Steigertahl war weder Mediziner noch Psychologe. Er benutzte diese negativen Zuschreibungen mit großer Selbstverständlichkeit. Eigentlich sagten diese Begriffe gar nichts aus, Steigertahl gab dadurch nur seine eigenen Vorurteile wieder. Denn woher sollte er wissen, dass bestimmte Menschen keine Gefühle hatten? Oder ihre angebliche Reizbarkeit nicht darauf zurückzuführen war, dass man sie eingesperrt hatte? Ein Querulant konnte schließlich jeder sein, der gegen bestimmte gesellschaftliche Regeln verstieß. Und was ist ein »Verschrobener«?
Dennoch maß sich der Direktor an, auf diese Weise über diejenigen Menschen zu urteilen, die unter der Kontrolle seiner Behörde standen. Aus seiner Sicht sollten sie ihr Leben lang eingesperrt und aus der Öffentlichkeit ferngehalten werden.
Eines Abends war Elisabeth allein unterwegs. Sie wollte feiern. Etwas Neues erleben. Da war ihr die Reeperbahn gerade recht. Wo sonst konnte man sich in Hamburg amüsieren, mitten im Krieg?
Elisabeth kannte da eine besondere Kneipe. Die Querdiele lag in einer kleinen Seitenstraße im Bezirk St. Pauli und hatte ein ganz eigenes Publikum. Sie galt damals als Treffpunkt für lesbische Frauen. Auch Elisabeth machte hier eine neue Bekanntschaft: Auguste hieß die junge Frau und war etwa im gleichen Alter. Sofort verstanden sie sich gut und verbrachten den Abend miteinander. Als Elisabeth schließlich ihre Bahn nach Hause verpasste, nahm Auguste sie mit in die Wohnung ihrer Chefin.
Was dort geschah, steht in einem Dokument der Hamburger Staatsanwaltschaft. Um genau zu sein, handelt es sich um die spätere Anklageschrift gegen die beiden: Sie sollen in der Wohnung Wertsachen wie ein Kostüm, Zigaretten und Bargeld entwendet haben. Für nicht weniger als 800 Reichsmark. Damals war das viel Geld, und auch in Euro umgerechnet erscheint die Summe nicht gerade klein, das wären fast 3.500€!
Wahrscheinlich beschuldigte Augustes Chefin sie des Diebstahls. Mit der Anzeige bei der Polizei steckten die beiden jedenfalls richtig in der Klemme.
Auf den Spuren der Querdiele
Die Querdiele wurde von der Polizei beobachtet
Das war nicht nur im Nationalsozialismus so. Der Historiker Dr. Gottfried Lorenz hat im Hamburger Staatsarchiv Polizeiberichte aus den 1950er Jahren gefunden, die das ausführlich dokumentieren. Auch andere Treffpunkte von Schwulen und Lesben wurden beobachtet:
»In dem Lokal Bar-Celona in der Wohlwillstr. erscheinen in letzter Zeit fast ausschließlich lesbisch veranlagte Frauen. Die Lokale 'Tabasco' Peterstr., 'Hafenschänke' in der Davidstr. und 'Querdiele' in der Querstr. sind gut besucht«.
»In Hamburg sind zurzeit 9 Lokale, die fast ausschließlich von Homosexuellen besucht werden: [...] 5. Querdiele, Querstr. ...«.
»Die unter lfd. Nr. 17 genannte ›Querdiele‹ ist als Lokal für Lesbierinnen bekannt. Weitere einschlägige [homosexuelle] Lokale sind ...«
»Ich sag immer, die sind verzaubert…«
Die Nacht in der Bar Querdiele war schon lange her, als Elisabeth verhaftet wurde. Es war April 1944. Monate waren vergangen.
Doch irgendwie war die Polizei Elisabeth und ihrer Freundin Auguste auf die Schliche gekommen. Jetzt wurden sie angeklagt. Wegen Diebstahls und dem Weiterverkauf der gestohlenen Dinge. Kleider, Zigaretten und Geld sollten sie geklaut haben.
Das war für die zuständigen Beamten kein kleines Vergehen, sondern eine ernstzunehmende Sache. Vor allem, weil beide vorher schon Ärger mit den Behörden gehabt hatten.
Und genau das war es auch, was den Richtern missfiel. Zwei junge, fast noch minderjährige Frauen. Beide waren der Sozialbehörde bekannt und hatten sich – wie man inzwischen wusste – in einer Bar für lesbische Frauen nahe der Hamburger Reeperbahn kennengelernt. Die Beamten gingen davon aus, dass sie lesbisch seien. Das war während der Zeit des Nationalsozialismus ein viel größeres Tabu als heute. Dass Elisabeth inzwischen mit einem Mann verheiratet war, änderte nichts an den Vorwürfen. Die Staatsanwaltschaft war sich sicher, zwei »lesbische Kriminelle« vor sich zu haben. Und die Richter erst recht. Eigentlich waren sich alle schnell einig darüber, wie Elisabeth und Augustes Zukunft aussehen würde.
»Beide Angeklagten werden in einem Fürsorgebericht ausserordentlich ungünstig beurteilt. Danach handelt es sich um arbeitsscheue, stark verwahrloste und lesbischen Umgang pflegende Frauen.«
Beweis genug, was für »verwahrloste Frauen« hier vor Gericht standen, war es den Richtern, wofür Elisabeth das erbeutete Geld ausgegeben hatte. Angeblich hatte sie davon eine Flasche Schnaps gekauft. Auf dem Schwarzmarkt war Alkohol ausgesprochen teuer, und Elisabeth hatte angeblich volle 250 Reichsmark dafür bezahlt. Das entspricht etwa 1.070€.
»Hiernach erschienen gegen beide Angeklagten, obwohl sie bisher nicht bezw. nicht einschlägig vorbestraft sind, empfindliche Freiheitsstrafen erforderlich.«
In den Augen der Richter passte das alles zusammen: Elisabeth und Auguste waren lesbisch, »verwahrlost« und kriminell und mussten deshalb hinter Gitter gebracht werden. Sie wurden zu je 15 Monaten Gefängnishaft verurteilt.
Ein Gerichtsurteil, das sich offiziell und korrekt anhören sollte
»Gründe:
Die Angeklagten haben Ende 1943 einen Abend in der hauptsächlich von lesbisch eingestellten Frauen besuchten Querdiele in der Querstrasse verbracht. Da die Angeklagte [Elisabeth] […] die letzte Bahn verpasst hatte, nahm die Angeklagte [Auguste] […] sie mit in die Wohnung des N., bei dem die [Auguste] […] als Haushälterin tätig war. Die Angeklagte [Elisabeth] […] gibt zu, hier der Frau F., die dort einige Tage geschlafen hatte, ein Kostüm im Werte von etwa 70.- RM gestohlen zu haben. Die Angeklagte [Auguste] […] räumt ein, in der gleichen Nacht der Frau F. 850.- RM und ca. 80 Zigaretten entwendet zu haben. Die [Elisabeth] […], die die [Auguste] […] beim Diebstahl beobachtet hatte, hat sich von dieser von dem gestohlenen Gelde 300.- RM, ausserdem einige Zigaretten geben lassen.
Demnach waren zu bestrafen:
die Angeklagte [Elisabeth] […] wegen Diebstahls und Hehlerei (Vergehen strafbar nach §§ 249, 259, 74 StGB), die Angeklagte [Auguste] […] wegen Diebstahls (Vergehen nach §242 StGB.)
Die Angeklagte [Elisabeth] […] ist bisher unbestraft. Die Angeklagte [Auguste] […] ist 1942 zweimal wegen Verletzung der Volksdienstpflicht bestraft worden. Beide Angeklagten werden in einem Fürsorgebericht ausserordentlich ungünstig beurteilt. Danach handelt es sich um arbeitsscheue, stark verwahrloste und lesbischen Umgang pflegende Frauen. Bezeichnend für [Elisabeth] […] ist, dass sie von Beträgen, die sie als Vorschuss für ihren Sachschaden erhalten hat, u.a. eine Flasche Schnaps für 250.- RM gekauft hat. Auch das der Frau F. gestohlene Geld ist von den Angeklagten leichtsinnig vertan worden. Hiernach erschienen gegen beide Angeklagten, obwohl sie bisher nicht bzw. nicht einschlägig vorbestraft sind, empfindliche Freiheitsstrafen erforderlich. Gegen [Elisabeth] […] erschien wegen des Diebstahls eine Strafe von 10 Monaten, wegen der Hehlerei eine Strafe von 6 Monaten Gefängnis angemessen. Diese Strafen sind auf eine Gesamtstrafe von 15 Monaten zurückgeführt. Gegen [Auguste] […] erschien wegen des Diebstahls eine Strafe von 15 Monaten Gefängnis angemessen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 465 StPO.
Dr. R. Für die richtige Anfertigung: (Unterschrift) Justizinspektor, als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle.«
Elisabeths Mann Richard wollte sie unbedingt besuchen
Während Elisabeth im Gefängnis saß, wollte ihr Ehemann sie besuchen. Doch an eine Besuchserlaubnis zu kommen, war nicht so einfach. Immer wieder wurden seine Bitten abgelehnt.
»Ich der Ehemann der Frau Elisabeth R. hätte gerne einen Besuchsschein, dass ich meine Frau besuchen kann. Ich als total Fliegergeschädigter habe das Recht, alle zwei Monate von der Reichsbahn befördert zu werden von Strecken über hundert km Entfernungen um Familienbesuche zu machen. Da sind Ihre Begründungen hinfällig. Ich erwarte, dass ich einen Besuchsschein von Ihnen bekomme.«
Trotz all seiner richtigen Argumente verweigerte das Gefängnis ihm zu diesem Zeitpunkt den Besuch.
»Schreiben, dass nach den Bestimmungen nur noch Ehemänner zum Besuch von Gefangenen zugelassen werden können, die von der Front kommen oder dorthin abgestellt sind.«
»Mein lieber Richard! Deinen Brief vom 12.2. habe ich mit großer Freude erhalten. Richard bin wieder in Bützow u. möchte bloß wissen, was ich hier soll. Den ganzen Tag in der Zelle sitzen, wenn ich bloß arbeiten könnte. Man kommt aus dem Grübeln gar nicht raus. […] Arbeiten wollt ich Tag und Nacht. Richard von Mama hast du weiter keine Post? Wo mag sie nur stecken ich mache mir große Sorgen um Ma. […] Schreibe bald wieder, und warte auf mich es kommt ja noch einmal der Tag. Viele Herzliche Grüße, deine Frau.«
»Teilen sie bitte meiner Frau Elisabeth […] mit, dass ihre Schwester […] am Donnerstag den 15. März gestorben ist. Ich hätte es gerne meiner Frau selber geschrieben aber leider sind noch keine 2 Monate vorüber als ich den letzten Brief an sie geschrieben habe.«
Die Alliierten bombardierten Hamburg
Man erwartet nicht unbedingt, dass sich Elisabeth und Auguste Ende 1943 in einer Bar kennenlernten. Denn schließlich war Krieg. Die Alliierten bombardierten die Stadt aus der Luft. Ständig dröhnte der Fliegeralarm, und die meisten Menschen verbrachten Tage und Nächte in den Luftschutzkellern. Hamburg war gerade im Juli und August 1943 schwer getroffen worden. Die Stadt lag in weiten Teilen in Schutt und Asche. Elisabeths Wohnung war bei einem Bombenangriff zerstört worden.
Auch im Gefängnis gab es oft Fliegeralarm. Elisabeth und die anderen Häftlinge litten zunehmend unter Panikattacken und Angstzuständen.
»Alarm haben wir auch viel. Mittags und abends, bin schon so klapperig wie eine alte Frau.«
Nichts mehr selbst entscheiden. Dem Willen einer anderen, völlig fremden Person unterstehen. Davor fürchtete sich Elisabeth. Ihre Angst war mehr als begründet: Nur kurze Zeit nach ihrer Verhaftung sollte sie entmündigt werden. Sie sollte nichts mehr alleine bestimmen und auf absehbare Zeit nicht mehr frei leben dürfen. Stattdessen würde eine Mitarbeiterin der Sozialbehörden, eine Frau, die sie gar nicht kannte, über ihr weiteres Leben entscheiden. Diese Frau hieß Dr. Käthe Petersen und arbeitete in diesem Haus:
Als Elisabeth von der drohenden Entmündigung hörte, versuchte sie, sich zur Wehr zu setzen. Sie benachrichtigte ihren Anwalt und schrieb an das Amtsgericht. Einen einzigen eindringlichen Satz: »Ich bitte von der Entmündigung abzusehen, da ich mich jetzt zusammen nehmen will.«
»Zum Vorgang des Amtsgerichts Hamburg, Abt. 61, vom 8.7.44. 61 E Nr. 100/44.Hamburg, den 18. Juli 1944. Die R., zur Sache aufgeklärt gibt folgendes an:
›Ich bitte von der Entmündigung abzusehen, da ich mich jetzt zusammen nehmen will.‹
V.g.u. get. R.
Aufgenommen:
gez. Drude. Verwaltungsoberinspektorin«
Aber ihre Versuche blieben erfolglos. Elisabeth wurde entmündigt. Auf Grund einer »Geisteskrankheit«, wie es plötzlich hieß. Dies galt als zwingende Begründung für eine Entmündigung.
Die Nacht in der Querdiele hing Elisabeth noch immer nach. Sie galt als lesbisch und kriminell. Daher sollte sie für unbestimmte Zeit eingesperrt werden.
Was heißt das eigentlich – »Entmündigung«?
Eine Entmündigung bedeutete die völlige Entrechtung einer Person. So, als wäre man ein Kind, das über nichts selbst entscheiden darf. Wenn man entmündigt war, durfte man kein Bankkonto eröffnen, durfte nicht wählen gehen, durfte nicht heiraten. Allein der Vormund konnte die Entscheidungen für sein sogenanntes Mündel treffen. Dessen eigener Wille musste dagegen nicht berücksichtigt werden.
Es gab mehrere Gründe, wegen derer man entmündigt werden konnte. Elisabeth wurde unterstellt, »geisteskrank«, also psychisch krank, zu sein und deshalb nicht mehr für sich sorgen zu können. Das war eigentlich die schlimmste Begründung für eine Entmündigung, denn so war es dem Vormund erlaubt, uneingeschränkt im Namen der Person zu handeln.
Diese Frau hatte die Macht über tausend Mädchen
Käthe Petersen wurde 1934 zum Sammelvormund für »geistig gebrechliche« und »gefährdete« Frauen ernannt. Zeitweise unterstanden ihr weit über tausend entrechtete Mädchen und junge Frauen. In Hamburg hatte sich ein regelrechtes System entwickelt, das es den Fürsorger/-innen ermöglichte, als »asozial« oder »gemeinschaftswidrig« geltende Menschen über Jahre in Heimen und Anstalten einzusperren. Entmündigungen konnten relativ problemlos durch die Behörde angeordnet werden.
Elisabeth war eine derjenigen Frauen, die Käthe Petersen für immer einsperren wollte. Mehrmals schrieb sie an die Bützower Gefängnisleitung, um Elisabeth nach Ende ihrer Haft in das »Versorgungsheim« Farmsen zur »Arbeitserziehung und Disziplinierung« zurückbringen zu lassen.
Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde Käthe Petersen als »unbelastete Mitläuferin« eingestuft und konnte ihre Arbeit fortsetzen. Sie war weiter als Sozialpolitikerin und Sammelvormund tätig. 1973 erhielt sie für ihren Dienst im Bereich der Wohlfahrt sogar das Bundesverdienstkreuz.
Elisabeth saß nun schon seit einigen Monaten im Gefängnis. In Bützow, einer kleinen Stadt in Mecklenburg. Sie hasste es, eingesperrt zu sein. Das machen die Briefe, die sie an ihren Mann und ihre Familie schrieb, mehr als deutlich:
»[…] bin wieder in Bützow u. möchte bloß wissen, was ich hier soll. Den ganzen Tag in der Zelle sitzen, wenn ich bloß arbeiten könnte. Man kommt aus dem Grübeln gar nicht raus. […] Arbeiten wollt ich Tag und Nacht.«
Elisabeth hatte oft Hunger. Und sie sehnte sich nach einer Zigarette. Sie wusste nicht, wie es ihrer Familie ging, ob ihre Eltern und ihre Brüder an der Front überhaupt noch lebten. Alle zwei Monate nur durfte sie einen Brief schreiben. Viel zu selten, um auf dem Laufenden bleiben zu können.
Mit den Gefängniswärter/-innen kam Elisabeth nicht besonders gut zurecht. In deren Augen war sie »frech«, »undiszipliniert«, »abartig«. Elisabeths Strafakte ist voll von Papieren, in denen genau festgehalten wurde, was sie tat oder nicht tat, wie sie sich verhielt, was sie sagte. Doch eigentlich wurden hier nur Kleinigkeiten beschrieben: Elisabeth habe ihr Kopftuch falsch gebunden, sie habe von ihrem Ehemann verbotenerweise Zigaretten erhalten, sie habe Kartoffeln »geklaut« und gegessen. Mehr hatten die Beamten nicht gegen sie vorzubringen.
Aber für sie war das genug. Denn Elisabeth sollte auch nach der Verbüßung ihrer offiziellen Haftstrafe offenbar nicht entlassen werden. Sie sollte stattdessen zurück nach Hamburg gebracht und dann in unterschiedlichen Anstalten eingesperrt bleiben. Elisabeths Vormund, Dr. Käthe Petersen, tat alles, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Woher weiß man, dass Elisabeths private Post gelesen wurde?
»Mein lieber kleiner […]! Endlich bekommst Du von mir auch einmal ein paar Zeilen, wirst wohl schon lange auf Post von mir gewartet haben? Ja mein kleines Brüderchen es waren eben Umstände die es nicht zuliesen. Mein liebes Bruderherz wie geht es Dir? Mir geht es soweit ganz gut und heil ist auch noch alles. Aber sonst sieht es hier ganz nett aus. […] hat ja jetzt auch geheiratet, hat sie es Dir geschrieben? Ich wäre ja gern zu ihr gefahren, man kann ja auch nicht mehr wie 100km fahren. Was macht Horst? Schrieb er Dir? Ist er noch in Brüssel? Sag mal wie gefällt dir eigentlich das Soldatenleben? Schön was – Na es wird ja Gott sei dank bald ein Ende haben und dann werdet Ihr alle bald wieder beisammen sein. Papa habe ich gestern geschrieben und nach dir Horst. Kannst du mir nicht mal ein Bild von Dir schicken? Ich hätte so gerne eines, denn hab ich dich wenigstens jeden Tag bei mir. Am Hauptbahnhof sind ja auch einige Hotels weg, aber dein Thronprinz steht noch. Lieber […]: hast du an […] Geburtstag gedacht? Hoffentlich, denn du weist ja, sie freut sich riesig.
[…] du musst entschuldigen, denn das Papier ist nichts mehr und es läuft alles durcheinander. Hätte dir gern etwas besseres geschickt. Allarm haben wir auch viel. Mittags und abends, bin schon so klapperig wie eine alte Frau. Ich bin ganz durcheinander wenn die Sirene schreit. Na und du? wollen lieber nicht drüber reden was! Du, ja es hat sich schon was. So mein Bruderherz jetzt will ich schließen, in der Hoffnung bald etwas von dir zu hören. Und auf ein baldiges Wiedersehen. Grüßt dich und küsst dich dein Schwesterchen Lischen«
Jeden Brief, den Elisabeth verschicken wollte, las die Gefängnisleitung ganz genau. So auch diese Zeilen, die sie im Herbst 1944 an ihren Bruder schrieb. Der Brief wurde nie abgeschickt. Die Randbemerkungen machen deutlich, warum. Die Gefängnisbeamten nahmen Anstoß an Elisabeths Ausdrucksweise. Sie waren es, die einige Sätze strichen und mit folgenden Kommentaren versahen:
Gestrichen: »Na es wird ja Gott sei dank bald ein Ende haben und dann werdet Ihr alle bald wieder beisammen sein.«
Kommentar: »Ungehörig!«
Gestrichen: »Allarm haben wir auch viel. Mittags und abends, bin schon so klapperig wie eine alte Frau.«
Kommentar: »Übertrieben.«
»1. Brief geht nicht ab! Siehe Randbemerkungen von mir. Kürzer für nächsten Fristbrief verwenden. [vermutlich durfte Elisabeth den Brief ohne die fraglichen Stellen erneut schreiben]
2. Eröffnen [vermutlich: Die Entscheidung Elisabeth mitteilen].
3. z.d.H. der R. [vermutlich: Den Brief an Elisabeth zurückgeben]«
Weil Elisabeth es wagte, einige einfache Wahrheiten auszusprechen, wurde ihr Brief also nicht abgeschickt.
»Ihre Frechheit sieht sie nicht ein«
Die Aufseher/-innen meldeten jedes kleine »Fehlverhalten« der Gefangenen. Elisabeths »Vergehen« waren, dass sie Hunger hatte, gerne rauchte und sich nicht alles gefallen lassen wollte:
»Meldung. Die Strafgefangene [Elisabeth] hat sich im Werk in der Mittagspause Kartoffel gekocht, die sie angeblich dort unter einem Bretterhaufen gefunden haben will. Sie hat ein ganz freches Wesen und wiegelt nach meiner Meinung die anderen Frauen auf. Es kommt ihr nicht darauf an, ob sie 4 Wochen oder ½ Jahr in Arrest kommt. Das Kopftuch setzt sie auf wie sie will. Ich bitte um Bestrafung.«
»[Elisabeth] machte hier bisher einen undisziplinierten, etwas abartigen Eindruck.«
»Die R. hat sich Kartoffeln besorgt und heimlich gekocht. Sie ist frech zu den Beamtinnen. […] Ihre Frechheit sieht sie nicht ein, ist auch bei der Vernehmung unbescheiden und undiszipliniert.«
»In der Arbeitsleistung ist nicht zu klagen. Aber das Betragen lässt sehr zu wünschen übrig.«
»Die R. führt sich […] nicht gut. Sie hat dort schon in den ersten Tagen Kartoffeln entwendet und ist zu den Beamtinnen frech.«
»Betrifft Durchsteckereien mit Gefangenen. Die hier einsitzende Gefangene R. gibt zu, im Dezember 1944 von dem damals dort beschäftigten Elektriker Emil K. verschiedentlich Zigaretten bekommen zu haben. K. soll inzwischen an eines Ihrer anderen Werke versetzt worden sein. Ich bitte K. zur Verantwortung zu ziehen bezw. diesen Vorgang zu diesem Zweck an die jetzt zuständige Stelle weiterzureichen.«
»Auf Grund der Anzeige, der Erörterungen und der persönlichen Anhörung als – [gestrichen:] nicht – erwiesen anzusehen, dass die R. Kartoffeln verbotenerweise im Besitz hatte und undiszipliniert war. […] 7 Tage Arrest […].«
»Ließ sich beim Besuch von ihrem Ehemann anliegende Schachtel Zigaretten und Streichhölzer zustecken. […] Gibt zu. Erklärt, starke Raucherin zu sein und ihren Mann durch die Gebärde des Zigarettenanmachens zum Zustecken des Materials verleitet zu haben.«
»mit 2maliger Besuchsentziehung bestraft«
»Arbeit gut. Führung läßt noch immer viel zu wünschen übrig.«
Während Elisabeth Kartoffeln beschaffte, versuchte ihre Freundin zu fliehen
Auch Auguste, Elisabeths Bekannte von der Nacht in der Querdiele, musste ihre Gefängnisstrafe in Bützow antreten. Sie war also in demselben Gefängnis wie Elisabeth eingesperrt.
»Die Auguste war vom 3. November 1944 bis 17. November 1944, 24 Uhr infolge Entweichens abwesend.«
»Ich hatte lange nichts von meinen Eltern gehört und hatte Sehnsucht nach Hause. Meine Schreibfrist war erst am 1.12.44 abgelaufen. Ich wollte eigentlich schon 8 Tage vorher fortlaufen.«
»Die Gefangenen Elly, Dora, Auguste, sind gestern abend in der Kantine zur Toilette gegangen, ohne sich abzumelden und nicht zurückgekehrt. Sofort aufgenommene Verfolgung hatte in der Dunkelheit keinen Erfolg.«
»Ich hatte mir vorgenommen, abends nach Feierabend zu entweichen, wenn wir vom Werk in die Kantine geführt werden. Es ist dann dunkel, sodass es nicht gleich auffällt, wenn jemand wegläuft. Von diesem Plan habe ich […] Dora und […] Elli erzählt.«
»Hierdurch teile ich Ihnen mit, dass die Auguste am 3.11.44 abends entwichen ist. Die Polizeibehörde Boizenburg und die Fahndungsstelle der Kriminalpolizei Schwerin sind benachrichtigt.«
»Als wir vor der Kantine austreten gingen, ließen wir alle vorgehen und sind dann fortgelaufen. Erlaubnis auszutreten hatten wir nicht. Wir sind erst quer über das Feld gelaufen und sind dann die Chaussee weitergegangen; gegen 12 Uhr übernachteten wir dann in einer Scheune und gingen dann um 5 Uhr morgens auf der Chaussee weiter […].«
Den jungen Frauen gelang die Flucht zu ihren Familien. Doch nur wenige Tage später wurden sie wieder geschnappt. Die Polizei brachte sie zurück in das Bützower Gefängnis. Dort musste Auguste ihre Flucht bis ins kleinste Detail niederschreiben.
Das ist die letzte Spur von Elisabeth
Am 6. April 1945 wurde Elisabeth aus der Haft entlassen und sollte wieder in das »Versorgungsheim« Farmsen kommen. Aber der Vormarsch der Roten Armee verhinderte das. Im September 1945 lebte Elisabeth wieder in Hamburg.
Nur wenig ist über das, was mit ihr im Weiteren geschah, bekannt: Elisabeth blieb entmündigt. Und zwar für weitere zwanzig Jahre. Bis 1964. In dieser Zeit entschied ein Vormund über ihr Leben, alleine durfte sie keine Entscheidungen treffen. Immer wieder erhielt sie Haftstrafen und kam ins Gefängnis. Auch brachten sie die Hamburger Fürsorgerinnen wiederholt nach Farmsen und in die Landesarbeitsanstalt Glückstadt, wo sie zur Arbeit gezwungen wurde. Der genaue Grund dafür ist unbekannt.
Eigentlich scheint Elisabeths gesamtes Leben von den Interessen anderer, der Wohlfahrtsbehörden, der dortigen Fürsorgerinnen, von Richtern und Staatsanwälten geprägt worden zu sein. 1977 ließ sie ihre Heimatstadt hinter sich und zog aufs Land. 2007 starb sie in Schleswig-Holstein.