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28. März 1921Geburt
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August 1936Illegalität
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7. November 1938Attentat
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Juli 1940Haft
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8. Mai 1945Tod
Herschel verließ die Volksschule im Alter von 14 Jahren ohne Abschluss, obwohl er durchschnittliche Zeugnisse nach Hause brachte. Er galt als aufmerksamer, kluger Junge, nur mit der Sorgfalt haperte es. Warum er die Schule verließ, ist unklar. Möglich ist, dass er sich von den Lehrkräften und Mitschülern zusehends gemobbt fühlte, weil er jüdisch war.
Ohne Schulabschluss fand Herschel keine Lehrstelle im Deutschen Reich. Außerdem stellten die Firmen kaum noch Juden und Jüdinnen ein. Verzweifelt suchte die Familie nach einer anderen Perspektive für den 14-Jährigen.
Herschel wurde auf eine Rabbinerschule geschickt und sollte eine religiöse Ausbildung erhalten. Dort lernte er auch Hebräisch. Doch die auf fünf Jahre ausgelegte Ausbildung brach Herschel schon nach einem knappen Jahr ab. Er träumte davon, das Deutsche Reich zu verlassen und nach Palästina auszuwandern, für Juden und Jüdinnen das Heilige Land. Sein Antrag wurde jedoch abgelehnt, weil er zu jung war. Außerdem hatte er weder eine Ausbildung noch war er körperlich in guter Verfassung, sodass er für landwirtschaftliche Arbeit in einem Kibbuz nicht in Frage kam. Herschel war oft krank. Er hatte häufig Magenprobleme und wog bei 1,54 Meter Körpergröße nur 45 Kilogramm. Aber es gelang ihm, mit 15 Jahren illegal und ganz allein zu seinem Onkel nach Paris zu reisen.
Was man über Herschels Schulzeit weiß
Mit sechs Jahren wurde Herschel eingeschult. Seine Schule lag praktischerweise in der gleichen Straße wie Wohnung der Familie Grynszpan. Zu dieser Zeit waren die Klassen sehr groß: Im Jahr 1930 gingen 45 Schüler in Herschels Klasse. Neben Herschel waren weitere acht davon jüdisch. Herschel war klein für sein Alter und schon deswegen für die anderen ein Außenseiter. In der Klassengemeinschaft hatte er es schwer.
Herschel lebte mit seiner fünfköpfigen Familie auf vierzig Quadratmetern
Herschel, seine Eltern Sendel und Rivka sowie seine älteren Geschwister Esther und Markus hatten nur vierzig Quadratmeter zur Verfügung. In der Wohnung gab es kein Bad und die Toilette lag im Hof.
Herschels Eltern kamen ursprünglich aus Polen, waren aber 1911 ins Deutsche Reich ausgewandert, weil sie als jüdische Menschen immer stärker unter Antisemitismus zu leiden hatten. Der Vater Sendel Grynszpan konnte seine Familie als Schneider nur schlecht durchbringen. Schließlich musste er seine Schneiderei aufgeben und finanzielle Unterstützung beantragen. Auch Herschels Geschwister verloren später ihre Arbeit und wurden als Juden und Jüdinnen im Deutschen Reich nirgendwo mehr eingestellt.
Herschel fand keine Ausbildung und ging nach Paris
Im Deutschen Reich hatte Herschel keine Chance auf einen Ausbildungsplatz. Auch sein Traum, nach Palästina auszuwandern, ging nicht in Erfüllung. Daher reiste er im August 1936, im Alter von 15 Jahren, alleine nach Paris. Dort lebten sein Onkel Abraham und seine Tante Chawa, die selbst kinderlos waren und ihren Neffen gerne aufnahmen. In Paris konnte Herschel zeitweise in der Schneiderei seines Onkels arbeiten.
Herschel hatte die Grenze zu Frankreich illegal überquert, um eine Aufenthaltsgenehmigung bemühte er sich erfolglos. Zu allem Überfluss lief sein polnischer Pass auch noch wenige Monate nach seiner Einreise, am 1. April 1937, aus. So riskierte Herschel stets, aus Frankreich ausgewiesen zu werden.
Am 15. August 1938 passierte das, was Herschel schon länger befürchtet hatte: Er bekam den Ausweisungsbefehl aus Frankreich. In das Deutsche Reich konnte er jedoch nicht zurückkehren, da sein Pass längst abgelaufen war. Sein Onkel Abraham und seine Tante Chawa versteckten den 17-Jährigen bei sich in Paris. Das war verboten, aber sie konnten den Jungen schließlich nicht einfach vor die Tür setzen.
Herschel befand sich in einer aussichtslosen Lage, aber es wurde noch schlimmer. Anfang November erreichte ihn eine Postkarte seiner Schwester Esther, in der sie ihn um Hilfe bat. Sie erzählte, dass die gesamte Familie mit vielen anderen Juden und Jüdinnen im deutsch-polnischen Grenzgebiet festsaß, weil die deutschen Behörden sie über die Grenze nach Polen abgeschoben hatten. Auch Polen weigerte sich, diese Menschen aufzunehmen.
Der Hintergrund für die Abschiebung war folgender: Polen erließ 1938 ein Gesetz. Mit diesem Gesetz konnte allen Pol/-innen, die länger als fünf Jahre im Ausland gelebt hatten, die Staatsbürgerschaft entzogen werden. Nur mit einem Stempel des polnischen Konsulats sollte es möglich sein, nach Polen einzureisen. Mit dem neuen Gesetz wollte die polnische Regierung es vor allem aus Polen stammenden Juden und Jüdinnen unmöglich machen, dorthin zurückzukehren.
Viele von ihnen waren ausgewandert, um im Deutschen Reich Arbeit zu suchen oder vor dem Antisemitismus in Polen zu fliehen. Einige lebten schon seit Jahrzehnten im Deutschen Reich, andere waren dort geboren, hatten aber die polnische Staatsbürgerschaft.
Aber die deutsche Regierung war noch antisemitischer. Um zu verhindern, dass die bald staatenlosen Menschen im Deutschen Reich blieben, schoben die Behörden ungefähr 17.000 Juden und Jüdinnen polnischer Staatsangehörigkeit, auch Herschels Familie, über die polnische Grenze ab.
Alleine konnte der 17-jährige Herschel seiner Familie nicht helfen, er besaß kein Geld, das er ihnen hätte schicken können. Sein Onkel weigerte sich, den Ausgewiesenen Geld nach Polen zu schicken, weil er nicht wusste, ob es überhaupt ankommen würde. In seiner Wut verließ Herschel nach einem Streit die Wohnung. Er hatte das Gefühl, seine Familie im Stich zu lassen und in ihm stieg das Bedürfnis, sich an den deutschen Behörden zu rächen.
Das musste Herschel eines Samstags in der Zeitung lesen
Im ganzen Reichsgebiet sind gestern Polizeimaßnahmen mit einer Brutalität und Willkür durchgeführt worden, wie sie die Weltgeschichte seit der spanischen Inquisition nicht mehr gesehen hat. Zehntausende von Juden polnischer Nationalität mussten plötzlich ihr Heim verlassen, wurden in Sonderzügen verstaut und über die Grenze nach Polen geschafft. Riesenrazzien wurden in allen größeren Städten durchgeführt. Polizei drang in die Schulen ein und schleppte die polnischen Kinder direkt von der Schule zu den Bahnhöfen, wo Züge bereitstanden, um sie an die Grenze zu schaffen. Es spielten sich herzzerreißende Szenen ab. Die Zahl der Opfer wird auf viele Zehntausende geschätzt.«
Am Abend erfährt man, dass die von den deutschen Behörden gegen die polnischen Juden unternommenen Maßnahmen immer größere Ausmaße annehmen. So sind Tausende von den in Leipzig und in der Umgebung lebenden 30.000 polnischen Juden zwangsverschickt worden. Die jüdischen Kinder, die sich in den Schulen befanden, wurden plötzlich versammelt und zum Leipziger Hauptbahnhof geführt, wo ihre Eltern bereits in den bereit stehenden Sonderzügen untergebracht worden waren. Die meisten der betroffenen Personen mussten ihr Heim so schnell verlassen, dass sie nur wenige Habseligkeiten mitnehmen konnten. Zahlreiche Sonderzüge sind schon von München, Nürnberg, Leipzig und mehreren anderen Ortschaften Süddeutschlands an die polnische Grenze abgegangen. Sie durften nur zehn Reichsmark mitnehmen. All ihr anderes Hab und Gut blieb in Deutschland zurück.«
So beschrieb Herschels Vater die Abschiebung
»Wir wurden mit der Eisenbahn nach Neu-Bentschen transportiert, nach der polnischen Grenze. Als wir dort ankamen, war es sechs Uhr morgens am Sabbath. Da kamen Züge aus allen möglichen Orten, aus Leipzig, Köln, Düsseldorf, Essen, Bielefeld, Bremen. Zusammen waren wir ungefähr 12.000 [nur in Bentschen; insgesamt über 17.000] Menschen …Das war am Sabbath, am 29. Oktober …Als wir zur Grenze kamen, wurden wir durchsucht, ob jemand noch irgendwelches Geld hätte. Wer mehr als 10 Mark hatte, musste den Rest abgeben. Dies war das deutsche Gesetz, man durfte nicht mehr als 10 Mark aus Deutschland ausführen. Die Deutschen sagten zu uns: ›Ihr habt nicht mehr mitgebracht, als ihr gekommen seid, und mehr dürft ihr auch nicht mit herausnehmen.‹
[…] Es regnete stark, viele Leute wurden ohnmächtig – überall sah man alte Männer und Frauen. Wir haben sehr gelitten, es gab nichts zu essen, und wir hatten seit Donnerstag nichts mehr zu essen gehabt …«
Herschel konnte es nicht hinnehmen, dass seine Eltern von den Nationalsozialisten nach Polen abgeschoben worden waren. Er wusste, dass sie dort auf sich allein gestellt waren und nur ein paar Kleidungsstücke hatten mitnehmen dürfen. Herschel war ab da nur von einem einzigen Gedanken erfüllt: Er musste seine Familie rächen.
Herschel plante seine Tat bis ins Detail. Am Morgen des 7. November 1938 ging er zu einem Pariser Waffenhändler und kaufte sich für 245 Francs einen Revolver und Patronen. Das war viel Geld und verbrauchte fast seine gesamten Ersparnisse. Herschel hatte noch nie eine Waffe in der Hand gehabt und ließ sich vom Ladenbesitzer ausführlich die Funktionsweise erklären. Dann lud er den Revolver auf der Toilette eines Lokals mit Patronen und fuhr mit der Metro zur deutschen Botschaft.
Diese erreichte er gegen 9.30 Uhr. Am Empfang behauptete Herschel, ein wichtiges Dokument persönlich abgeben zu müssen. Man führte ihn in das Büro eines Legationssekretärs, also eines Beamten.
Kaum hatte er das Büro betreten, schoss Herschel auf den Beamten Ernst vom Rath und verletzte ihn schwer. Nach dem Attentat ließ sich Herschel widerstandslos abführen und wurde von der französischen Polizei verhört. Ernst vom Rath wurde in ein Pariser Krankenhaus gebracht, wo man ihn notoperierte.
Das nationalsozialistische Regime erkannte sofort seine Chance, das Attentat für seine Zwecke auszunutzen. Als Adolf Hitler von dem Attentat hörte, schickte er zwei Ärzte, darunter seinen Leibarzt, nach Paris. Er beförderte den verletzten Beamten noch auf dessen Krankenbett auf den Rang eines hohen Botschaftsangehörigen.
Herschel erzählte der Polizei, warum er so wütend war
»Meine Eltern wurden aus Deutschland vertrieben, weil sie Israeliten sind. Polen weigert sich, sie aufzunehmen und sie leben im Moment an der Grenze in einem Güterwaggon auf einem Abstellgleis. Es ist ihnen verboten, den Wagen zu verlassen.
Ich habe eine sehr bewegte Nacht gehabt, in der ich Träume gehabt habe. Ich sah meine Eltern misshandelt, geschlagen und diese Visionen ließen mich leiden.
[…] Ich war durch die Frage wie besessen, sie kam mir immer wieder ins Gedächtnis: Was haben wir doch getan, um ein solches Schicksal zu erleiden? Und ich konnte keine Antwort auf diese Frage finden.«
So begründete Herschel das Attentat
»Meine liben Eltern!
Ich konnte nicht anders tun, soll G’tt mir verzeihen, das Herz blutet mir wenn ich von eurer Tragödie und 12.000 anderer Juden hören muss. Ich muss Protestieren, das die ganze Welt meinen Protest erhört, und das werde ich tun, entschuldigt mir.
Hermann«
Das liegt daran, dass Herschels Muttersprache nicht Deutsch, sondern Jiddisch war und er Deutsch nur in der Schule erlernt hatte. Über dem Brief stehen drei hebräische Buchstaben. Sie sind die Abkürzung für »Be Esrat Hashem« (mit Gottes Hilfe). Das Wort »Gott« hat Herschel im Text aus Respekt nicht ausgeschrieben, denn er war sehr gläubig. Unterzeichnet ist die Karte mit Hermann, seinem deutschen Namen.
Wahrscheinlich wollte er die Karte nach dem Attentat zunächst an seinen Onkel und seine Tante abschicken, die sie an seine Eltern in Polen weitergeleitet hätten. Die Zahl 12.000 hat Herschel wahrscheinlich in einer Zeitung gelesen. In Wahrheit waren es etwa 17.000 Deportierte.
Hier stand Herschel mit einer geladenen Waffe
»Am 7. November vormittags 9 Uhr 35 sprach beim Pförtner der Botschaft ein junger Mann vor und erklärte, zwecks Abgabe eines wichtigen Dokuments ›einen Legationssekretär‹ sprechen zu wollen. […] Er wurde daraufhin von dem Amtsgehilfen zu Legationssekretär vom Rath geführt. Wenige Minuten danach hörte der Amtsgehilfe, der inzwischen seinem Dienst nachgegangen war, aus der Richtung des Dienstzimmers des Legationssekretärs vom Rath Schreie, worauf er sofort in das Zimmer zurückeilte. Auf dem Weg dorthin begegnete ihm im Gang Legationssekretär vom Rath und rief ihm entgegen, dass er angeschossen worden sei. […] Herr vom Rath blutete aus zwei Wunden, von denen die eine sich in der Gegend des Brustbeins, die andere im Unterleib befand.«
Herschels Schüsse trafen sein Ziel
Einer der beiden Schüsse, die Ernst vom Rath trafen, zerriss dessen Milz. Sie musste bei der Notoperation entfernt werden. Vom Rath erholte sich von seinen Verletzungen nicht mehr. Er starb am 9. November 1938. Hitler beförderte ihn kurz vor seinem Tod zum Gesandtschaftsrat 1. Klasse. Damit war vom Rath plötzlich ein hoher Botschaftsangehöriger geworden.
Der Leichnam wurde von Frankreich in das Deutsche Reich überführt. In allen deutschen Zeitungen wurde über den Tod vom Raths und über das Begräbnis vom 17. November 1938 ausführlich berichtet. Auf dem Foto siehst Du, wie vom Raths Leichnam, mit Hakenkreuzfahnen bedeckt, in der Düsseldorfer Rheingoldhalle aufgebahrt wurde. An der Trauerfeier und dem Begräbnis nahm auch Adolf Hitler teil.
Fünf Schüsse hatte Herschel auf den deutschen Botschaftsangehörigen in Paris abgefeuert. Doch nur zwei von ihnen trafen auch. Schließlich hatte Herschel zum ersten Mal in seinem Leben eine Waffe in der Hand gehabt. Am nächsten Tag behaupteten deutsche Zeitungen jedoch, die Schüsse seien nicht die Tat eines Einzeltäters, sondern von einer jüdischen Verschwörung genauestens geplant gewesen. Dass Herschel aus Verzweiflung über die Abschiebung seiner Familie geschossen hatte, wurde unter den Tisch gekehrt.
Propagandaminister Joseph Goebbels wollte die Bevölkerung glauben machen, dass die Juden und Jüdinnen mit dem Attentat einen Krieg provozieren wollten. Herschels Absicht, mit der Tat auf das Schicksal der nach Polen abgeschobenen Juden und Jüdinnen aufmerksam zu machen, schlug fehl.
Als der von Herschel angeschossene Sekretär Ernst vom Rath schließlich zwei Tage später an seinen Verletzungen starb, sahen die Nationalsozialisten ihre Chance. Ein Jude, der einen deutschen Beamten erschossen hatte – diese Tat nutzte die NS-Parteiführung als willkommenen Vorwand dafür, sofort gewaltsam gegen alle Juden und Jüdinnen im Deutschen Reich und in Österreich vorzugehen.
Das Propagandaministerium stellte die darauf folgenden Gewaltaktionen als spontane Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf das Attentat in Paris dar. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden, angeblich aus Rache für Herschels Attentat, jüdische Geschäfte zerstört, Gotteshäuser niedergebrannt, Wohnungen ausgeraubt und Morde begangen. Die Ausschreitungen dauerten auch noch die folgenden Tage an. Die sogenannten Novemberpogrome waren die heftigsten Gewaltmaßnahmen gegen Juden und Jüdinnen seit Beginn der Naziherrschaft.
Herschels Gotteshaus brannte lichterloh
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten überall im Deutschen Reich jüdische Gotteshäuser, genannt Synagogen. Auf dem Foto ist die Synagoge zu sehen, die auch Herschel aller Wahrscheinlichkeit nach regelmäßig mit seiner Familie besuchte.
Auch in den folgenden beiden Tagen hörten die Zerstörungen von jüdischen Gotteshäusern nicht auf. Die Polizei wurde angewiesen, die Verwüstungen nicht zu verhindern und die Feuerwehr durfte nur die umliegenden Häuser vor den Flammen schützen, nicht aber die Synagogen retten.
Auch Läden, die Juden und Jüdinnen gehörten, wurden in diesen Tagen zerstört und die Waren geplündert. Weil die zerbrochenen Fensterscheiben der Geschäfte auf der Straße lagen und das Glas kristallartig glitzerte, kursierte bald der Begriff »Kristallnacht«. Dieser Begriff wird jedoch heutzutage nicht mehr verwendet, weil er zu beschönigend klingt. Man spricht stattdessen von Reichspogromnacht oder Novemberpogromen.
Tausende jüdische Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt
Über 30.000 jüdische Männer im Deutschen Reich und in Österreich wurden nach den Novemberpogromen in »Schutzhaft« genommen und in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Allein in Hannover, Herschels Geburtsstadt, verhaftete die Geheime Staatspolizei (Gestapo) 333 jüdische Männer.
275 von ihnen wurden kurz darauf in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar deportiert. Dort wurden sie teilweise schwer misshandelt. In den kommenden Wochen und Monaten wurden die meisten jüdischen Häftlinge wieder entlassen. Sie versuchten anschließend, das Deutsche Reich so schnell wie möglich zu verlassen.
Das hatte Herschel nicht gewollt
Die antijüdischen Ausschreitungen wurden von Propagandaminister Joseph Goebbels als »gerechtfertigte und verständliche Entrüstung des deutschen Volkes« bezeichnet. Die Reichsführung versuchte den Eindruck zu erwecken, die Zerstörungen seien von der deutschen Bevölkerung ausgegangen. Doch einige Journalist/-innen stellten fest, dass die Aktionen geplant gewesen sein mussten. Die meisten Menschen schienen die Gewalttaten abzulehnen:
»Es ist zu bemerken, dass diese Zwischenfälle erst gegen 2 Uhr morgens begonnen haben, während die Nachricht von dem Tode des Herrn vom Rath in Berlin durch die Blätter ab 9 Uhr abends veröffentlicht worden ist… Der ›Temps‹-Korrespondent spricht von einer ›systematischen Operation‹, die sich gleichzeitig in der ganzen Stadt vollziehen musste. Der gleiche Journalist macht folgende bemerkenswerte Feststellungen: ›Ueberall Ansammlung von Neugierigen, die im allgemeinen überrascht und selbst konsterniert schienen…Viele geben offen Zeichen von Missbilligung…‹ «
Für Zerstörungen durch Andere auch noch zahlen?
Die nach den Pogromen entstandenen Schäden an Geschäften und Privatwohnungen mussten die jüdischen Besitzer/-innen laut einer Verordnung selbst übernehmen. Zusätzlich bestimmte Generalfeldmarschall Hermann Göring, dass die Juden und Jüdinnen deutscher Staatsangehörigkeit insgesamt eine Milliarde Reichsmark an »Sühnezahlungen« leisten mussten und ihnen die Schuld für die entstandenen Schäden in die Schuhe geschoben wurden. So wurde die jüdische Bevölkerung zusätzlich zu dem erlittenen Leid auch noch finanziell ausgenommen.
Lies hier den Wortlaut der Verordnung:
Vom 12. November 1938.
Auf Grund der Verordnung zur Durchführung des Vierjahresplans vom 18. Oktober 1936 (Reichsgesetzbl. I S.88t) verordne ich folgendes:
§1
Alle Schäden, welche durch die Empörung des Volkes über die Hetze des internationalen Judentums gegen das nationalsozialistische Deutschland am 8., 9. und 10. November 1938 an jüdischen Gewerbebetrieben und Wohnungen entstanden sind, sind von dem jüdischen Inhaber oder jüdischen Gewerbetreibenden sofort zu beseitigen.
§2
(1) Die Kosten der Wiederherstellung trägt der Inhaber der betroffenen jüdischen Gewerbebetriebe und Wohnungen.
(2) Versicherungsansprüche von Juden deutscher Staatsangehörigkeit werden zugunsten des Reichs beschlagnahmt.
§3
Der Reichswirtschaftsminister wird ermächtigt, im Benehmen mit den übrigen Reichsministern Durchführungsbestimmungen zu erlassen.
Berlin, den 12. November 1938.
Der Beauftragte für den Vierjahresplan
Göring
Generalfeldmarschall«
Etwa zwanzig Monate blieb Herschel nach seiner Mordtat in französischer Untersuchungshaft, ohne dass ihm der Prozess gemacht wurde. Schließlich lieferte ihn die Regierung Frankreichs, die mit dem Deutschen Reich zusammenarbeitete, 1940 an die Gestapo aus.
Propagandaminister Joseph Goebbels plante einen großen Schauprozess gegen Herschel. Dieser Prozess sollte öffentlich stattfinden und die angebliche Schuld einer »jüdischen Weltverschwörung« am Zweiten Weltkrieg beweisen, der inzwischen begonnen hatte. Herschels Schüsse wären dann im Prozess als »erste Schüsse des Krieges« bezeichnet worden. Man wollte es so darstellen, als hätten Juden und Jüdinnen den Krieg angezettelt und das Deutsche Reich hätte sich nur verteidigt.
Doch soweit kam es nie. Herschel Grynszpan wurde zunächst in das Konzentrationslager Sachsenhausen verlegt und dort im Zellenbau eingesperrt. Dort wurde er gut verpflegt, weil man der Öffentlichkeit beim Prozess keinen abgemagerten, sondern einen gut genährten Häftling präsentieren wollte.
Der geplante Prozess gegen Herschel wurde aus unterschiedlichsten Gründen immer wieder verschoben. Mit fortschreitendem Kriegsverlauf verlor die öffentliche Anprangerung Herschels immer mehr an Bedeutung. Außerdem behauptete Herschel plötzlich, sein Opfer bereits vor der Tat gekannt zu haben. Bei dem geplanten Prozess hätte es für die Öffentlichkeit so aussehen können, als ob Herschel den Mord aus persönlichen und nicht aus politischen Motiven durchgeführt hätte. Die Strategie des Propagandaministeriums, den Mord einer »jüdischen Verschwörung« zuzuschreiben, wäre somit nicht aufgegangen.
Bis heute weiß niemand mit Gewissheit, was schlussendlich mit Herschel passierte. Zuletzt wurde er im Jahr 1942 im Zellenbau von Sachsenhausen gesehen, danach verliert sich seine Spur. Herschels Vater Sendel versuchte nach dem Krieg verzweifelt, etwas über den Verbleib seines Sohnes in Erfahrung zu bringen. Er war überzeugt, dass sich Herschel bei ihm gemeldet hätte, wenn er überlebt hätte. Da Sendel Grynszpan nie wieder von ihm hörte, ließ er ihn 1960 für tot erklären. Herschels offizielles Todesdatum ist der 8. Mai 1945, also der Tag des Kriegsendes.
Hier verliert sich Herschels Spur
Harry Naujoks war Häftling und Lagerältester im Konzentrationslager Sachsenhausen. Durch seine hohe Position hatte er einen guten Überblick über die Geschehnisse im Lager. Hier erzählt er, wie es Herschel in Sachsenhausen erging:
»In Sachsenhausen wurde Grynszpan am 18. Januar 1941 unter der Häftlingsnummer 35 181 registriert und in den Listen der Zellenbaugefangenen geführt. Zuerst streng isoliert, war er dann als eine Art Kalfaktor im Zellenbau tätig. Er erhielt SS-Verpflegung, durfte seine Haare behalten und hatte gewisse Bewegungsfreiheiten. Der Häftlingsheizer im Zellenbau, Genosse Hans Appel aus Kiel, gab uns einige Informationen über Grynszpan. Er war nur etwa ein Jahr in Sachsenhausen. Als die Nazijustiz seinen Prozess vorbereitete, kam er in Untersuchungshaft nach Berlin.«
Einige Historiker/-innen gehen davon aus, dass Herschel anschließend in das Zuchthaus Magdeburg verlegt und möglicherweise dort auch ermordet wurde.
Diesen Mann brachte Herschel mit einer einzigen Behauptung zur Weißglut
Reichspropagandaminister Joseph Goebbels plante den Schauprozess gegen Herschel. Doch plötzlich behauptete Herschel, sein Mordopfer aus der Pariser Homosexuellenszene gekannt und mit ihm ein Verhältnis gehabt zu haben. Damit durchkreuzte er die Pläne des Ministers gründlich.
Joseph Goebbels fürchtete, dass das Ansehen der Nationalsozialisten leiden würde, wenn Herschels Behauptung vor Gericht bekannt würde. Denn so wäre Ernst vom Rath in den Augen vieler Menschen nicht mehr das unschuldige Opfer gewesen, sondern ein »Krimineller«.
Homosexualität war ein großen Tabu und galt nach §175 des Strafgesetzbuches als strafbar. Das wäre für das Ministerium peinlich geworden, denn Ernst vom Rath war immerhin mit einem Staatsbegräbnis in Anwesenheit Hitlers geehrt worden. Ob die Behauptung von Herschel stimmte oder nicht, sie erfüllte ihren Zweck: Der Prozess gegen ihn wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
Joseph Goebbels schäumte vor Wut. In seinem Tagebuch vermerkte der Antisemit: »Das ist typisch jüdisch, verlogen, hinterhältig und gemein.«
Viele Menschen verurteilten Herschel auch noch Jahre später für seine Tat
Über Herschels Verbleib machten sich später zahlreiche Menschen Gedanken. Auch seine Tat war umstritten. Immerhin hatte er einen Menschen umgebracht. Die Beweggründe für die Schüsse auf Ernst vom Rath schienen kaum eine Rolle zu spielen. Aufgrund der furchtbaren Folgen seines Attentats war Herschel bei vielen Menschen verhasst. Die Publizistin Hannah Arendt war nur eine von vielen, die hart über ihn urteilten.
»Herschel Grynszpan – ein Psychopath, unfähig, die Schule abzuschließen – hatte sich seit Jahren in Paris und Brüssel herumgetrieben und war aus beiden Städten ausgewiesen worden. […] (Gerüchte wollen wissen, dass er den Krieg überlebt habe – was ein fast exemplarischer Beweis wäre für ›das Paradox von Auschwitz‹, dass diejenigen Juden, die kriminelle Handlungen begangen hatten, am Leben blieben.)«
Herschel und seine Schwester verschwanden spurlos
Stolpersteine liegen an Orten, an denen jüdische Menschen oder andere Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes zuletzt freiwillig lebten. Der Sinn der goldenen Stolpersteine ist, dass man kurz innehält und sich hinabbeugt, um die Inschrift zu lesen. Es ist eine Art symbolischer Kniefall vor den Verfolgten. Die Steine für Herschel und seine Schwester Esther liegen vor dem Standort des ehemaligen Wohnhauses der Familie Grynszpan in Hannover.
Da man nicht weiß, was aus Herschel und aus Esther geworden ist, stehen Fragezeichen auf den Stolpersteinen. Die Angabe auf Herschels Stein »Von 1943 – 1945 in einem KZ« ist nur eine von vielen Vermutungen.