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20. Dezember 1924Geburt
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12. Februar 1934Widerstand
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15. Oktober 1942Soldat
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März 1944Selbstverletzung
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7. Februar 1945Verurteilung
Kommunistische und sozialistische gegen faschistische Gruppen. Diktatur oder Demokratie. Bürgerkrieg. Vor dieser Zerreißprobe stand Österreich im Februar 1934. Und Karl war mittendrin. Seine Eltern – beide Arbeiter/-innen – waren überzeugte Kommunist/-innen Karl selbst war Mitglied in der kommunistischen Jugendorganisation. Sie wollten ihren Beitrag leisten, um Österreich vor einer faschistischen Diktatur zu bewahren. Sie wollten kämpfen.
Karls Vater schloss sich den Schutzbündlern an – einer linken Kampforganisation. Karl und seine Mutter versorgten die Kämpfenden mit Munition: Während sich Karl einen großen Rucksack umschnallte, trug seine Mutter eine lederne Einkaufstasche. Und gemeinsam marschierten sie los. Doch ihre Mühen waren nicht von Erfolg gekrönt: Nach nur wenigen Tagen wurde der Aufstand niedergeschlagen.
Diktatur? Faschismus? Schutzbündler? – Was war zu dieser Zeit eigentlich in Wien, ja in ganz Österreich, los? Österreich war damals – wie das Deutsche Reich (seit 1933) und Italien (seit 1922) – eine Diktatur. Die sogenannten Austrofaschist/-innen unter dem Bundeskanzler Dollfuß hatten das Parlament ausgeschaltet, andere Parteien, wie die Kommunistische Partei Österreichs, verboten und den Verfassungsgerichtshof entmachtet.
Sie waren von den deutschen Nationalsozialisten unter Adolf Hitler genauso wie vom italienischen Faschismus unter dem Diktator Benito Mussolini beeinflusst. Einen »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich, wie er von vielen Österreicher/-innen schon seit Jahren gefordert wurde, lehnten sie aber ab.
Als die Regierung am 12. Februar 1934 ihre Truppen entsandte, um ein sozialdemokratisches Parteihaus in der Stadt Linz zu entwaffnen, brach der Aufstand los. In einigen Teilen Österreichs gingen Sozialist/-innen, Sozialdemokrat/-innen und auch einige Kommunist/-innen auf die Barrikaden. Das österreichische Bundesheer schlug den Aufstand in drei Tagen nieder. Die Kämpfe forderten Hunderte Tote.
Damals lebten die Lauterbachs in Simmering – dem elften Bezirk der österreichischen Hauptstadt Wien. Karl besuchte die Schule und begann anschließend eine Ausbildung zum Mechaniker. Er hatte viele Freund/-innen und verbrachte seine Freizeit oft beim Simmeringer Fußballverein. Eigentlich war alles in Ordnung.
Nur die Politik ließ Karl und seine Familie einfach nicht in Ruhe: Inzwischen war März 1938 und die deutsche Wehrmacht marschierte in Österreich ein. Und was für die Lauterbachs unbegreiflich war: Die meisten ihrer Landsleute jubelten den Deutschen entgegen. Karl hatte noch immer Kontakte zu den Jugendlichen aus der kommunistischen Jugendorganisation. Sie war inzwischen verboten worden. Aber irgendetwas musste er tun. Die Wiener/-innen mussten wachgerüttelt und zum Widerstand aufgerufen werden!
Karls großes Hobby hieß Fußball
Karl spielte im Simmeringer Sportverein Ostbahn 11 Fußball. Hier machte er viele Bekanntschaften und traf Freund/-innen, die ihn sein Leben lang begleiten sollten. Ein Freund aus dem Verein war Ernst Stojaspal, der später Karriere bei dem Hauptstadtklub Austria Wien machte. Ernst war einer von Karls besten Freund/-innen. Gemeinsam sollten sie noch viel erleben.
Hitler und die Nationalsozialisten eroberten Wien
Adolf Hitler, der aus Österreich stammte und in Braunau am Inn geboren war, hatte schon früh den Plan gehabt, sein Heimatland an das Deutsche Reich anzuschließen. Viele Österreicher/-innen befürworteten damals einen solchen »Anschluss«. Sie glaubten, dass die beiden Staaten zusammengehörten und erhofften sich einen wirtschaftlichen Aufschwung.
Als die deutsche Wehrmacht am 12. März 1938 schließlich in Österreich einmarschierte, wurde sie zumeist mit offenen Armen empfangen. Um diesen Schritt im Nachhinein zu rechtfertigen, ließen die Nationalsozialisten wenige Wochen später – nach einer großen Propagandakampagne – eine Volksabstimmung abhalten. 99,73 Prozent der wahlberechtigten Österreicher/-innen stimmten mit »Ja«, also für den »Anschluss« an das Deutsche Reich. Bekannte politische Gegner/-innen genauso wie jüdische Österreicher/-innen durften allerdings nicht abstimmen.
Karl und seine Freund/-innen starteten eine geheime Aktion
Es war der 24. Januar 1939. Karl und seine Freund/-innen hatten – soweit bekannt – ein Flugblatt entworfen und gedruckt. Tausend Stück davon wollten sie in den Bezirken Simmering und Schwechat verteilen. In einzelnen Häusern, Straßenzügen und Parks. So viele Menschen wie möglich erreichen, das war das Ziel.
Zunächst lief alles wie geschmiert. Doch aus unbekannten Gründen flog die Gruppe auf. Einige Mitglieder wurden verhaftet und auch verurteilt. Karl war einer der wenigen, die offenbar unerkannt geblieben waren.
»Die […] Tätigkeit der Angeschuldigten hat offensichtlich den Zweck gehabt, die Organisation des KJVÖ im Wiener Gemeindebezirk Simmering wiederherzustellen und hierdurch die nationalsozialistisch erzogene Jugend mit den Irrlehren des Kommunismus bekannt zu machen sowie überdies durch Verbreitung von Flugblättern die Bevölkerung in diesem Bezirke, […] gegen die nationalsozialistische Regierung aufzuhetzen und für den Kommunismus zu gewinnen […].«
Karl hasste das Soldatenleben. Seit über einem Jahr war er an der Ostfront im Krieg gegen die Sowjetunion stationiert. Jeden Tag musste er um sein Leben fürchten. Durchlitt Hunger, Kälte, Todesangst und erlebte das qualvolle Sterben seiner Kameraden. Würde er seine Familie, seine Freund/-innen und vor allem seine Freundin je wiedersehen?
Eineinhalb Jahre lang war Karl an der Ostfront stationiert. Seit Frühjahr 1943 in der Ukraine. Die Orte, die er vermutlich durchquerte, hießen Charkow oder Donezk und waren bereits seit einiger Zeit von den Deutschen besetzt. Als Karl dort eingesetzt wurde, hatte sich das Blatt aber gewendet. Nach der verheerenden Niederlage bei Stalingrad, war die deutsche Armee in Bedrängnis.
Die letzten Offensiven schlugen fehl und die Wehrmacht war zum Rückzug gezwungen. Dabei hinterließen die deutschen Soldaten eine Spur der Verwüstung: Sie zerstörten Gebäude, Straßen und sogar ganze Dörfer und Städte. Ob auch Karl solche Aufgaben übernehmen musste, ist unbekannt. Aber als er Ende 1943 Heimaturlaub bekam, hatte die sowjetische Armee bereits einen Großteil der Ukraine mitsamt der Hauptstadt Kiew zurückerobert.
Karl wollte alles tun um nicht wieder an die Front zu müssen
Zurück in Wien traf er Freund/-innen und besuchte seine alten Stammlokale. Hier hörte er immer wieder, was einige andere Jungen getan hatten, um nicht wieder in den Krieg ziehen zu müssen: Sie hatten sich selbst verletzt. Sich ein Bein oder einen Arm gebrochen, sich eine schwere Bindehautentzündung oder einen Bänderriss zugefügt.
Diese absichtlichen Verletzungen hatten sie durch einen angeblichen »Unfall« getarnt, um auf keinen Fall den Verdacht zu erwecken, selbst Hand an sich gelegt zu haben. Das war nämlich strafbar. »Wehrkraftzersetzung« nannten es die Nationalsozialisten, wenn man sich dem Wehrdienst auf diese Weise entziehen wollte. Aber Karl wollte auf keinen Fall zurück an die Front! Er beschloss, etwas zu unternehmen. Ein gebrochener Arm würde ihn sicherlich erst einmal vor dem Frontdienst bewahren, aber bald wieder verheilen. Alleine konnte Karl das jedoch nicht bewerkstelligen.
Nach langem Grübeln fragte Karl seinen Onkel Ernst, ob er ihm helfen würde. Doch wie sollten sie das überhaupt anfangen? Wie bricht man jemandem den Arm? Darauf springen? Rohe Gewalteinwirkung? Ernst und sein Onkel probierten so einiges, aber es wollte ihnen nicht gelingen. Jeder Versuch bereitete Karl unsagbare Schmerzen. Jemand, der sich auskannte, der genau wusste, was zu tun war, musste ihnen helfen, am besten ein Arzt!
Karls Tante Maria erinnerte sich an einen Bekannten, einen Arzt namens Blodi. Dr. Friedrich Blodi konnte Maria Musial genau erklären, wie man einen Knochenbruch herbeiführen konnte: Sie sollten einen Keil fertigen und diesen in den Knochen treiben, so würde ein glatter Bruch entstehen. Er gab Tante Maria auch ein Rezept für ein Betäubungsmittel: Mit dessen Hilfe sollten Karl die unmittelbaren Schmerzen erspart werden. Derart ausgestattet, nahmen Karl und sein Onkel Ernst ihr Vorhaben erneut in Angriff.
»Wehrkraftzersetzung« – Was soll das denn sein?
In dem Dokument, das Du hier siehst, wird genau beschrieben, was im nationalsozialistischen Deutschen Reich als »Wehrkraftzersetzung« galt. Der Abschnitt, der im Fall von Karl relevant war, lautete:
»(1) Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird mit dem Tode bestraft […] 3. wer es unternimmt, sich oder andere durch Selbstverstümmelung, durch ein auf Täuschung berechnetes Mittel oder auf andere Weise der Erfüllung des Wehrdienstes ganz, teilweise oder zeitweise zu entziehen.«
Während des Zweiten Weltkrieges wurden mehr als 3.000 Soldaten auf Grund dieses Gesetzes zum Tode verurteilt. Insgesamt ergingen nach Schätzungen etwa 35.000 Urteile wegen »Wehrkraftzersetzung«. Allerdings flogen nicht alle, die sich selbst verletzt hatten, um dem Wehrdienst zu entgehen, auf. Niemand weiß, wie viele Soldaten zu diesem Mittel griffen, um etwas länger vom Kampfeinsatz verschont zu bleiben.
»Er hat dem Karli dann erklärt, wie er das machen soll.«
Auch die Menschen, die Wehrmachtssoldaten dabei halfen, sich selbst zu verletzen, um dem Kriegsdienst zu entgehen, machten sich strafbar. Sogar das Todesurteil konnte dafür verhängt werden. Der noch junge Arzt Friedrich Blodi – er war 25, als er Karls Tante Maria die entscheidenden Tipps und das Rezept für ein Betäubungsmittel gab – ging also ein hohes Risiko ein.
Er selbst war 1939 zunächst auch zur Wehrmacht eingezogen worden, wurde jedoch bald wieder entlassen, weil er als »Halbjude« angesehen wurde. Vielleicht war das der Grund, warum Karls Tante Maria ihm ihr Vertrauen schenkte. Einem Mann, den sie eigentlich kaum kannte: Er hatte sie nur einmal nach einem Bänderriss behandelt.
»Und dann kommt der Karli zu mir. Sagt er: Du Tante kannst du uns nicht einen Äther verschaffen? Habe ich gesagt: Na ich weiß das nicht! Aber ich kann fragen. Na, du hast doch, ihr habt doch so viele bekannte Ärzte. Habe ich gesagt: Naja, ich kann fragen. Bin ich zum Dr. Blodi gegangen. Und der, da ist er mit mir gegangen der Karli, dass er sich das erklären lässt.«
Bindehautentzündung, Bänderriss – wie soll das gehen?
Bindehautentzündung kann man auch selbst herbeiführen. Das lernten viele junge Soldaten damals. Sie waren bereit, nahezu alles auf sich zu nehmen, um nicht wieder an die Front zu müssen. Nicht zurück zu Angst, Kälte, Verwundung und Tod. Dabei war es besonders wichtig, dass es sich um eine Verletzung handelte, die ihren Ärzten und Vorgesetzten bei der Wehrmacht glaubwürdig erschien. Und nicht etwa den Verdacht auf »Selbstverstümmelung« erweckten.
Bindehautentzündungen konnte man zum Beispiel dadurch hervorrufen, dass man sich giftige Pflanzensamen, von Kornrade oder Rizinus ins Auge legte.
Nach Terpentin- oder Petroleumspritzen unter die Haut entwickelten sich eitrige Entzündungen, wie sie sich viele Soldaten auch im Einsatz zuzogen. Meniskusrisse erreichten die Jungen, indem sie mit einem Kochlöffel gegen die Kniescheibe schlugen.
Alle diese Varianten, sich selbst zu verletzen, konnten von Ärzt/-innen kaum nachgewiesen werden. In einem Verfahren wegen »Wehrkraftzersetzung« war die Anklage daher meist auf ein Geständnis angewiesen.
Einmal hatte sich Karl nun schon von seinem Onkel Ernst den Arm brechen lassen. Der erste Bruch war nach nur wenigen Wochen verheilt. Aber Karl wollte auf keinen Fall zurück an die Ostfront. Nicht nur, dass er sowieso gegen den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg war und auf keinen Fall die deutschen Truppen weiter unterstützen wollte.
Jetzt war auch noch seine Freundin schwanger! Allerdings war er sich nicht sicher, ob das Kind auch tatsächlich von ihm war. Was ihm mächtig zusetzte – Karl war rasend vor Eifersucht. Nun stand er da: 19 Jahre alt, zum Kriegsdienst verpflichtet, ohne Chance, sich um seine privaten Probleme zu kümmern. Wenn er doch seinen Fronturlaub verlängern und in Wien bleiben könnte! Gesagt, getan. Zum zweiten Mal brach ihm sein Onkel den Arm. Und wieder inszenierte Karl einen Unfall, um keinen Verdacht auf sich zu lenken.
Alles klappte wie geschmiert! Aber die neuerliche Verletzung blieb natürlich nicht unbemerkt: Ein zweiter Unfall in so kurzer Zeit? Karls Freunde, die ebenfalls Urlaub hatten, waren regelrecht neidisch. Allen voran sein alter Fußballkollege Ernst, der um keinen Preis wieder zurück an die Front wollte. Würde er, Karl, ihm helfen? Ihm eine Verletzung zufügen?
Karl zögerte nicht und brach seinem Freund den Unterarm. Von nun an wandten sich immer mehr Bekannte an Karl, um sich auf diese Weise »helfen« zu lassen. Doch das war gefährlich - ein Verräter konnte darunter sein. Ein falsches Wort und die gesamte Gruppe würde auffliegen.
Tatort: Schwimmbad
Karl und seine Freund/-innen trafen sich im Frühjahr und Sommer 1944 oft im Wiener Stadionbad im Prater. Ein beliebter Treffpunkt von Jugendlichen. Die meisten waren ebenfalls Soldaten, die nicht wieder an die Front wollten. Alle wussten, dass Selbstverletzung eine Möglichkeit war, dem zu entgehen.
»Ich war einmal im Stadionbad mit meiner Freundin. Also, ich glaube da waren zehn beieinander, alle mit der Gipshand. Das ist ja so idiotisch, habe ich gesagt: Karli, was macht ihr denn da? Das fällt ja auf!«
Als sich Karl im Juli 1944 zum zweiten Mal seinen Arm brechen ließ, inszenierte er im Stadionbad einen Badeunfall, um die Verletzung glaubwürdiger aussehen zu lassen.
Plötzlich wollte jeder einen gebrochenen Arm haben
In Wien war die Zahl der Verletzungen von Soldaten 1944 in die Höhe geschnellt. Der Militärrichter Karl Everts wurde darauf aufmerksam und verfolgte vermeintliche »Selbstverstümmler« mit ausgesprochener Härte. Die Methoden, sich selbst zu verletzen, waren zahlreich, aber auch komplex. Ein Soldat, der auf diese Weise seinen Frontdienst zumindest aufschieben wollte, war auf Hilfe angewiesen. Er musste Kontakte knüpfen und jemanden um Unterstützung bitten.
Hier kannst Du unterschiedliche Aussagen von jungen Männern nachlesen, die so verzweifelt waren, dass sie sich selbst verletzten. Die Heeresstreife, eine Art Militärpolizei, hatte sie vor Prozessbeginn schwer gefoltert und die folgenden Angaben auf die Weise erpresst:
»Diesen [Luley] kenne ich auch von früher her. Im Kaffee Alsegg kam dieser zu mir und bat mich, ich solle ihm auf das Knie treten. Dies geschah auch bei Luley in der Holzschupfe. Ich wusste auch bei ihm, dass er sich dadurch den Urlaub verlängern wollte.«
»Ich traf Stedry im Kongressbad, sind von dort zu mir in die Wohnung um Abschied zu feiern, denn ich musste am 1.6. also den nächsten Tag wieder zur Truppe einrücken. Gesprächsweise machte ich zu Stedry die Bemerkung, ich habe jetzt ein Mädchen kennengelernt und hätte ganz gerne, wenn ich noch einige Zeit in Wien bleiben könnte. Stedry sagte, da könne er mir helfen …«
»Ich gebe zu, dass ich dem Sangl die Verletzung beibrachte. Diesen hatte ich im Reservelazarett Semmering kennengelernt. Dort erzählte ich ihm, dass ich mir die Knieverletzung selbst beigebracht habe. Er bat mich, ihm sein Knie zu verletzen, getraute mich aber ursprünglich nicht. Ich liess mich aber doch überreden …«
»In Wien traf ich Leitzinger und klagte ihm mein Leid, dass ich wieder zur Truppe einrücken müsste. Dieser fragte mich, was mit einer Knieverletzung sei, worauf ich ihn ersuchte, mir eine solche beizubringen. In meiner Wohnung kam es dann dazu. Ich legte mich auf den Divan und streckte den Fuß weg und er drückte mir das Kniegelenk durch.«
»Im Café Weber sah ich viele Kameraden, die ihren Arm in Gips trugen«
Ernst Stojaspal musste vor Gericht gegen seinen Jugendfreund Karl aussagen. Vor einem Militärgericht. Vor ihm saß eine Reihe von Generälen in Uniform, auf einem Podium. So, dass er zu ihnen hinauf sehen musste. Alles ging ganz schnell, ein Angeklagter nach dem anderen wurde abgeurteilt. Auch Ernst. Er wurde aufgerufen, seine unter Folter erpresste Aussage verlesen. Er bestätigte sie. Es folgte das Urteil. Dann der Nächste.
»Ich gebe zu, dass ich mir von Lauterbach am 23.6.[1944] den linken Unterarm brechen liess. Während meines Fronturlaubes kam ich auch in das Kaffee Weber, um Freunde zu besuchen. Ich sah dort viele Soldaten mit einem Gipsverband. Ich traf dort Lauterbach, der gleichfalls einen Gipsverband trug und mir auf meine Frage, was er denn habe, antwortete, er habe sich den Arm brechen lassen.
Vor meinem Urlaubsende ging ich dann zu Lauterbach und fragte ihn, ob er mir den Arm brechen will. Weil sich dies verzögerte, ging ich am Vortage meiner Abfahrt zu Lauterbach, den ich aber aus einem Kino holen musste und er brach mir den Arm durch Daraufspringen. Dies geschah in seiner Wohnung. Nachher ging ich zum Standortarzt bei dem ich angab, ich wäre auf der Stiege gestürzt.«
Karl war aufgeflogen. Die Militärpolizei wusste alles. Dass er sich seine Verletzungen selbst beigebracht hatte, dass er Helfer gehabt hatte, dass er auch Freunden und Bekannten geholfen hatte, damit sie nicht wieder in den Krieg ziehen mussten. Doch wer hatte ihn verraten? Gab es einen Spitzel unter den jungen Männern?
Erst nach und nach kam die Wahrheit ans Licht: Die Militärpolizei hatte einen seiner Bekannten geschnappt. Unter Folter hatte dieser schließlich die Namen von Karl und seinen Freunden preisgegeben: Über vierzig Personen wurden verhaftet und in die Rossauer Kaserne in Wien gebracht. Auch Karl, sein Onkel Ernst, seine Tante Maria, sein Jugendfreund Ernst und der Arzt Friedrich Blodi waren darunter.
Diese Aufnahmen von Karl und seinem Onkel Ernst machte die Kriminalpolizei bei ihrer Verhaftung am 14. Oktober 1944. Eigentlich jedoch war die Heeresstreife für die Fahndung nach »Selbstverstümmlern« zuständig. Das Militär unterhielt eine eigene Gerichtsbarkeit. Das heißt, Soldaten der Wehrmacht, die sich vermeintlich etwas hatten zuschulden kommen lassen, wurden vor einem Militärgericht angeklagt.
Die meisten Militärrichter waren überzeugte Nationalsozialisten und fällten in diesem Sinne harte Urteile. Das macht zum Beispiel ein Vergleich zwischen der deutschen und der amerikanischen Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg deutlich: NS-Richter verhängten etwa 30.000 Todesurteile, die in etwa 20.000 bis 23.000 Fällen auch vollstreckt wurden. Demgegenüber wurde im amerikanischen Heer nur ein einziges Todesurteil gegen einen Deserteur ausgeführt.
Karl wusste genau, dass er mit dem Schlimmsten rechnen musste: dem Todesurteil. Wie konnte er sich verteidigen? Das fatale Urteil abwenden? Karl gab alles zu. Schon vor Prozessbeginn, unter schwerer Folter, hatte er ein Geständnis abgelegt. Er habe sich selbst verstümmelt, um nicht wieder an die Front zu müssen. Um bei seiner schwangeren Freundin zu bleiben. Er sei zu jeder Zeit »für den Nationalsozialismus eingestellt« gewesen – behauptete er vor Gericht. Seine kommunistische Vergangenheit, die Arbeit im Widerstand ließ er wohlweislich unter den Tisch fallen. Aber Karls Strategie ging nicht auf: Der zuständige Militärrichter kannte nur ein Urteil: die Todesstrafe.
Sieh Dir hier das Urteil des Militärgerichts genauer an
Das Urteil gegen die zwölf Angeklagten um Karl wurde am 26. Oktober 1944 gefällt. Drei von ihnen wurden zum Tode verurteilt: Karl, Adolf Stedry und Erwin Leitzinger. Die Begründung lautete in allen drei Fällen gleich: »Wehrkraftzersetzung«.
Die drei Angeklagten hatten nicht nur sich selbst verletzt, sondern auch anderen bei der »Selbstverstümmelung« geholfen.
Karls Onkel und seine Tante wurden jeweils zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt. Denn Beihilfe zur »Selbstverstümmelung« zählte ebenfalls als »Wehrkraftzersetzung«. Auch Zivilist/-innen konnten wegen dieses Vorwurfs von der Militärjustiz verurteilt werden. Karls Freund Ernst Stojaspal wurde ebenfalls wegen »Wehrkraftzersetzung« verurteilt – allerdings zu der vergleichsweise milden Zuchthausstrafe von acht Jahren. Die unterschiedlichen Strafmaße zeigen an, mit welcher Willkür die nationalsozialistischen Richter hier urteilten.
Dieser Mann machte Jagd auf Karl und seine Freunde
Verantwortlich für die Jagd auf mutmaßliche »Selbstverstümmler« war vor allem ein Mann: Dr. Karl Everts, Richter am Feldgericht der Division Nr. 177, stationiert in Wien. Er betrachtete es als seine Hauptaufgabe, Soldaten, die sich selbst verletzten, um nicht wieder an die Front zu müssen, zu schnappen.
Jedes Mittel war ihm und auch seinen Kollegen dafür Recht. Auch Folter. Er brauchte Geständnisse, Beweise. Ohne diese konnte er die Soldaten nicht verurteilen! Er forderte daher von der Wiener Heeresstreife, »Geständnisse mit Gewalt zu erzwingen« und ließ einen eigenen Verhörraum errichten, in dem die Gefangenen geschlagen und anderweitig misshandelt wurden.
Karl und seine Freunde sollten als abschreckendes Beispiel vorgeführt werden. Warum sie zu so einem extremen Mittel gegriffen und sich selbst verletzt hatten, war Karl Everts dabei gänzlich unwichtig. Insgesamt wurden unter seiner Aufsicht mindestens neunzig Fälle wegen des Vorwurfs der »Selbstverstümmelung« in Wien zur Anklage gebracht. In 39 dieser 90 Fälle forderte Everts für die Angeklagten die Todesstrafe.
Es war früh am Morgen. Der 7. Februar 1945. Karl war gefesselt. Er saß mit 13 weiteren Häftlingen in einem Transporter. Das Fahrtziel: Der Militärschießplatz Kagran. Zwanzig Kilometer entfernt, im Osten Wiens gelegen. Der Militärschießplatz wurde von den Nationalsozialisten als Hinrichtungsstätte genutzt. Hier sollte Karls Todesurteil vollstreckt werden.
Auch der Militärrichter Dr. Everts, der der Ankläger im Prozess gewesen war, ließ es sich nicht nehmen, der Hinrichtung beizuwohnen. Genauso wie 167 andere Personen, die die Erschießung der 14 jungen Männer als Zuschauer erlebten.
Vor den Augen dieser 168 Männer mussten Karl und seine Freunde die Blechsärge passieren, die schon für sie bereit standen. Sie mussten zwei Gruppen zu sieben Personen bilden und sich in einer Reihe aufstellen. Everts hielt eine Rede. Dann wurde geschossen. Oder, wie es in dem obigen Dokument beschrieben wurde:
»Die Verurteilten wurden in zwei Partien zu je sieben Mann um 7 Uhr bzw. 7 Uhr früh füsiliert«.
Nur wenige Monate später war der Krieg vorbei. Die deutsche Wehrmacht kapitulierte bedingungslos. Karls Tante Maria und sein Onkel Ernst wurden freigelassen, ebenso sein Freund Ernst Stojaspal. Karl aber war tot. Hingerichtet wegen »Wehrkraftzersetzung« im Alter von zwanzig Jahren.
Karl wurde nicht als Opfer der Nationalsozialisten anerkannt
Mehrfach versuchte Karls Mutter Emilie nach 1945 für den Verlust ihres Sohnes eine sogenannte Opferfürsorge zu erhalten. Ihre Anträge wurden aber allesamt abgelehnt. Bis zu ihrem Tod 1976 erhielt sie kein Geld. Die Behörden blieben bei ihrer Haltung, dass Karls »Selbstverstümmelung« keinerlei politischen Hintergrund gehabt habe. Der letzte Brief der Wiener Landesregierung an Karls Mutter stammt vom 19. Mai 1976 – zu diesem Zeitpunkt war sie bereits seit einem Monat verstorben. Darin stand:
»Da diese Tat [Selbstverstümmelung von Karl Lauterbach] nicht aus politischen Motiven erfolgte und auch kein sonstiger politischer Einsatz nachgewiesen werden konnte, musste Ihr Antrag auf Gewährung von Haftentschädigung abgewiesen werden, da trotz allem menschlichen Mitgefühl für Ihr damaliges Leid die Bestimmungen des Opferfürsorgegesetzes nicht umgangen werden können.«
64 Jahre später zeigte eine Ausstellung Karls Schicksal
Am 1. September 2009 – siebzig Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges – wurde im Wiener Nestroyhof die Ausstellung »Was damals Recht war…« eröffnet. Sie wurde von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas erarbeitet und zuvor erfolgreich in mehreren deutschen Städten gezeigt. Die Wanderausstellung zeigt am Beispiel der Lebensgeschichten Einzelner den Unrechtscharakter der Wehrmachtjustiz. Für Österreich wurde die Ausstellung verändert. Gezeigt wurden auch Schicksale österreichischer Soldaten und Zivilist/-innen vor Gerichten der Wehrmacht.
Das blieb nicht ohne Folgen
Vor der Eröffnung der Wanderausstellung »Was damals Recht war…« im Jahr 2009 hatte es in Österreich eine jahrlange Debatte um die Frage gegeben, ob Deserteure und »Wehrkraftzersetzer« damals zu Recht verurteilt worden waren. Vielen galten sie nach wie vor als »feige Verräter«. Dass es einigen Mut erforderte, sich dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg zu verweigern, wurde dabei nicht gesehen. Durch die Ausstellung »Was damals Recht war…« wurde die Diskussion über dieses Thema erneut angefacht.
Am 21. Oktober 2009 stimmte der österreichische Nationalrat schließlich für das Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz. Damit beschlossen die Abgeordneten erneut (ein erstes Anerkennungsgesetz hatte es bereits 2005 gegeben) und dieses Mal ausdrücklich die Aufhebung von Urteilen, die die Wehrmachtsjustiz in den Jahren 1938 – 1945 gefällt hatte. Auch das Todesurteil gegen Karl Lauterbach wurde damit – zumindest symbolisch – zurückgenommen. Die wenigen noch lebenden Hinterbliebenen konnten nun über die sogenannte Opferfürsorge zumindest finanziell für das erlittene Unrecht »entschädigt« werden.
Wenn Du mehr zu diesem Thema erfahren willst, klicke hier: https://deserteursdenkmal.at/wordpress.