-
22. August 1932Geburt
-
Juni 1942Kinderheim
-
9. Juni 1942Massaker
-
1943Adoption
-
August 1946Wiedersehen
Marie wurde am 22. August 1932 in dem tschechischen Dorf Lidice geboren. Sie hatte einen fünf Jahre älteren Bruder, Josef.
Ihr Vater stammte aus dem Nachbarort Bielok (heißt heute Běloky) und arbeitete in einem Eisenwerk. Ihre Mutter Alzbeta hatte schon immer in Lidice gelebt. Sie war in der Landwirtschaft tätig. Auch Maries Oma Antonie, die Mutter ihrer Mutter, lebte bei ihnen im Haus.
Marie führte ein behütetes Leben in Lidice. Als kleines Kind hütete sie Gänse und Ziegen und sammelte Beeren. Im Sommer ging sie gerne schwimmen, im Winter Eislaufen und Schlittenfahren. Am meisten Spaß hatte sie, wenn sie mit ihren Freund/-innen spielen und Unsinn machen konnte.
Marie ging auch gerne zur Schule. Im Juni 1942 wurde ein Klassenfoto gemacht. Marie steht in der letzten Reihe in der Mitte, sie trägt eine große Schleife im Haar.
Sieben Tage später war nichts mehr wie es war – die Nationalsozialisten zerstörten dieses friedliche Leben und machten das ganze Dorf dem Erdboden gleich.
Marie und ihre Freundin verursachten einen Unfall mit ihrem Schlitten
So sah das Dorf Lidice vor der Zerstörung 1942 aus
Maries Heimatort war ein schönes kleines Dörfchen mit 102 Häusern und einer Kirche im Zentrum, umgeben von Wiesen und Feldern. Aber so richtig friedlich war es dort auch schon vor dem Massaker nicht mehr: Lidice, etwa 25 Kilometer westlich von Prag, gehörte zur 1918 gegründeten Ersten Tschechoslowakischen Republik.
Zum Zeitpunkt des Massakers gab es dieses Land aber gar nicht mehr: Die Nationalsozialisten, die das Deutsche Reich um jeden Preis vergrößern wollten, hatten 1938 die Grenzgebiete des Nachbarlandes dem Deutschen Reich als »Sudetengau« angegliedert. Ein halbes Jahr später besetzten sie auch noch die »Resttschechei« und stellten sie als »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« unter deutsche Verwaltung. Die Slowakei erklärte sich unabhängig.
Lidice lag in dem unter deutscher Herrschaft stehendem Landesteil. Die Bevölkerung wurde unterdrückt und musste für die deutsche Rüstungsindustrie arbeiten. Dagegen wollten viele Tschech/-innen Widerstand leisten. Der SS-Obergruppenführer und stellvertretende »Reichsprotektor« Reinhard Heydrich ging brutal gegen alle vor, die sich gegen die Ausbeutung wehrten. Er wurde wegen der vielen Todesurteile, die er verhängte, der »Henker von Prag« genannt.
Auch für die Einwohner/-innen von Lidice war das Leben nun sehr schwierig. Aber das, was sich in der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1942 ereignete, hatte sich niemand vorstellen können.
1942 lebten in Lidice, wo Marie geboren wurde, 503 Menschen. In der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1942 änderte sich das Leben der Bewohner/-innen schlagartig. Die SS umstellte mit Unterstützung der tschechischen Polizei das Dorf. Grund dafür war, dass es ein Attentat auf Reinhard Heydrich, den stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, gegeben hatte. Die Mörder/-innen stammten vermeintlich aus Lidice. Beweise hatte man dafür zwar nicht, aber als Vergeltung für den Mord und als Abschreckung für andere Widerständler/-innen wurde auf Befehl Adolf Hitlers das komplette Dorf zerstört.
Kurz nach Mitternacht mussten alle aus ihren Häusern kommen. Auch die zehnjährige Marie wurde aus dem Bett gerissen. Alle Männer des Dorfes, darunter Maries Vater, wurden sofort erschossen, ebenso die Jungen über 15 Jahre. Maries Bruder Josef war 15 Jahre und 2 Monate alt. Diese 2 Monate kosteten ihn das Leben, er wurde ein paar Tage später ebenfalls getötet.
Der Vater und Maries Bruder Josef wurden ermordet
Die SS brachte die erwachsenen Männer des Dorfes zum Hof der Familie Horák. Deren Sohn war in England in der tschechischen Exilarmee und die Deutschen vermuteten, dass er etwas mit dem Attentat auf Reinhard Heydrich zu tun haben könnte. An die Rückwand des Hofes stellten die SS-Männer zum Schutz vor zurückprallender Munition Matratzen auf. Dann wurden die Männer erschossen, ohne dass sie erfuhren, was überhaupt los war, und ohne die Möglichkeit, zu beweisen, dass sie nichts mit dem Anschlag zu tun hatten.
»Anlegen, zielen ... Feuer!« Zwei SS-Männer zielten jeweils auf die Brust der Opfer, ein weiterer auf den Kopf. Ein Offizier hielt jedem Hingerichteten nach der Exekution noch einmal eine Pistole an den Kopf und drückte ein weiteres Mal ab. Am Ende lagen 173 Leichen auf dem Hof der Horáks.
Maries Bruder, der wie sein Vater Josef hieß, war zunächst mit Marie und den anderen in der Turnhalle von Kladno eingesperrt worden. Als man die Kinder in das Ghetto Litzmannstadt bringen wollte, fiel den SS-Leuten nach Durchsicht der Unterlagen auf, dass Josef schon seit zwei Monaten 15 Jahre alt war. Er hätte also in Lidice auch erschossen werden sollen. Diesen »Fehler« konnten sie nicht stehen lassen: Auch er wurde ermordet.
Die Häuser wurden systematisch mit Benzin übergossen und angezündet, alles wurde niedergebrannt. Anschließend wurden die Überreste gesprengt, es gab ohrenbetäubende Explosionen, und das Dorf war völlig zerstört. Am nächsten Tag kamen Mitglieder des deutschen Reichsarbeitsdienstes, um die Trümmerhaufen einzuebnen, damit nichts mehr an den Ort Lidice erinnert.
Marie, ihre Mutter und die anderen Frauen und Kinder des Dorfes wurden zunächst in die nahegelegene Stadt Kladno gebracht und dort drei Tage lang in einer Turnhalle eingesperrt. Dann trennte man die Kinder gewaltsam von ihren Müttern. Marie und die anderen Kinder brachten die Deutschen in ein Kinderheim nach Litzmannstadt.
Maries Mutter und Oma kamen in das KZ Ravensbrück
Maries Mutter Alzbeta und ihre Großmutter Antonie wurden in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück nördlich von Berlin deportiert. Dort wurden sie mit sechzig anderen Frauen aus Lidice in einer Baracke untergebracht und mussten unter unmenschlichen Bedingungen leben. 1945 wurde die Großmutter kurz vor der Befreiung des Lagers mit Giftgas ermordet.
Maries Mutter überlebte die Inhaftierung und kehrte in die Tschechoslowakei zurück, war jedoch schwer krank.
Hier siehst Du Bilder von der Zerstörung des Dorfes
Während die SS ihren Heimatort zerstörte, wurden die Frauen und Kinder von Lidice in der Turnhalle der benachbarten Stadt Kladno eingesperrt. Am Nachmittag des dritten Tages wurden die Kinder von ihren Müttern getrennt und in einen Zug verladen – auch Marie. Sie wurden ins Ghetto Litzmannstadt gebracht und dort von SS-Ärzten begutachtet, ob sie »rückdeutschungsfähig« waren:
In der rassistischen Weltsicht der Nationalsozialisten hatten alle Menschen, die blond und blauäugig waren, »germanisches Blut«. Heinrich Himmler, der Chef der SS, ging davon aus, dass man Kinder mit einem solchen Aussehen »zu Deutschen umerziehen« könne.
In einem Brief der Geheimen Staatspolizei vom 22. Juni 1942 heißt es, dass nur sieben Kinder aus Lidice »rückdeutschungsfähig« wären, unter ihnen Marie. Die anderen 81 Kinder fielen nicht in diese Kategorie, was ihr Todesurteil war.
Marie kam in ein Lebensborn-Kinderheim in Puschkau in der Nähe der Stadt Posen. Sie wusste nicht, was weiter mit ihr passieren würde. Wie die anderen Kinder musste sie sich dort als erstes nackt ausziehen und wurde entlaust. Danach bekam sie neue Kleidung. Nun hatte Marie zwar wieder ein Dach über dem Kopf und zu essen, aber ihre Muttersprache durfte sie nicht mehr benutzen. Sie sollte »Manieren« beigebracht bekommen und zu einer Deutschen umerzogen werden.
Im Sommer 1943 erschien ein kinderloses deutsches Ehepaar aus Posen im Kinderheim. Alfred und Ilse Schiller wollten ein Kind adoptieren und entschieden sich für die zehn- oder elfjährige Marie, die von nun an Ingeborg Schiller hieß. Ihr Geburtsort sollte unbekannt bleiben.
Bei der neuen Familie sehnte Marie sich oft nach ihrer alten Familie. Über ihre Vergangenheit wurde nie gesprochen. Sie ging zur Schule und lernte schnell Deutsch.
Sie lebte in einer Familie, in der sie zwar zufrieden war, die sie aber nicht wie ihre eigene lieben konnte. Das Verhältnis zwischen Marie und den Schillers beruhte auf gegenseitigem Respekt. Im Frühjahr 1945 flüchtete die Familie Schiller vor der Roten Armee von Posen nach Boizenburg an der Elbe, wo Marie das Kriegsende erlebte.
Das Schicksal der anderen Kinder
Für die anderen Kinder war – wie die Gestapo mitteilte – eine »Sonderbehandlung« vorgesehen. Dieser Begriff stand in der Sprache der Nationalsozialisten für Mord. Vermutlich wurden die Kinder wenig später im Vernichtungslager Kulmhof umgebracht.
Im Gedenken an die ermordeten Kinder entwarf die Bildhauerin Marie Uchytilová ein Denkmal. Es zeigt eine Gruppe von Kindern unterschiedlichen Alters, die abwartend nebeneinander stehen. Die Künstlerin arbeitete von 1969 bis zu ihrem Tod 1989 an den Bronzeabgüssen, die mit Hilfe von Spenden aus der Tschechischen Republik und dem Ausland entstanden. Das Denkmal wurde im Jahr 2000 in Lidice aufgestellt.
Die Briefe und Telegramme, die unter den deutschen Behörden wegen des weiteren Schicksals der Kinder verschickt wurden, zeigen kein Mitleid
Bei der Familie Schiller blieb Marie nach dem Ende des Krieges noch bis zum Sommer 1946. Als in Zeitungen und im Rundfunk zur Suche nach den Kindern aus Lidice aufgerufen wurde, meldete sich auch Familie Schiller. Marie wurde von ihrem Adoptivvater nach Berlin zur Suchstelle gebracht. Der Abschied verlief ohne Tränen.
An diesem Tag erfuhr Marie vom Tod ihres Vaters und ihres Bruders. Ihre Mutter lebte noch und deshalb machte sie sich auf den Weg nach Prag.
Im August 1946 traf Marie ihre Mutter in einem Prager Krankenhaus wieder. Vier Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Verständigen konnten sie sich nur durch eine Übersetzerin: Marie hatte ihr Tschechisch in den Jahren bei der Familie Schiller verlernt und die Mutter sprach kein Wort Deutsch. Viel Zeit sich wieder anzunähern hatten sie nicht. Nur vier Monate später starb Maries Mutter an Tuberkulose, eine Folge ihrer jahrelangen Inhaftierung im Konzentrationslager.
Hier erzählt Marie vom Wiedersehen mit ihrer Mutter
Marie vermisst ihre Mutter auch heute noch
Marie wollte Gerechtigkeit und sagte vor Gericht aus
Nach dem Krieg hielten die Alliierten – also die USA, Großbritannien, die Sowjetunion und Frankreich – ein internationales Militärgericht wegen der von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen ab. Die Prozesse fanden in Nürnberg statt und dauerten von 1945 bis 1949. Angeklagt wurden die sogenannten Hauptkriegsverbrecher, darunter auch Ärzte und Juristen, Mitglieder von SS und Polizei, Militärs, Regierungsangehörige und Industrielle.
Auch über das Massaker in Lidice wurde dort verhandelt, und da es kaum Überlebende gab, wurde die 15-jährige Marie zu einer wichtigen Zeugin. Auf dem Foto sieht man sie beim Schwur vor ihrer Aussage.
Nach dem Krieg wurde Marie Krankenpflegerin. Sie heiratete und 1955 wurde ihre Tochter geboren. Im gleichen Jahr zog sie mit ihrer kleinen Familie in das 1947 aufgebaute neue Lidice, das 300 Meter von dem alten Dorf entfernt steht. Alle Überlebenden des Massakers bekam von der tschechoslowakischen Regierung dort ein eigenes Haus.
Die Rückkehr nach Lidice fiel ihr trotz der schrecklichen Vorfälle nicht schwer: Es war ihr Geburtsort, sie hatte dort ihre Kindheit verbracht und wollte, dass auch ihre Kinder dort groß würden. Mit dem Dorf verband sie auch positive Erinnerungen, zum Beispiel die an die Schlittenfahrt mit ihrer Freundin.
Marie sprach erst viele Jahre später über ihre Erlebnisse
Erst viele Jahre nach dem Krieg fing sie an, ihre Geschichte zu erzählen. Noch immer vermisste sie ihre Mutter, obwohl schon viele Jahrzehnte vergangen waren. Wenn sie sprach, reichten ihre Emotionen von einem herzhaften Lachen bis zur tiefen Traurigkeit. Das Massaker überschattete ihr Leben, auch in jedem lustigen Satz erwähnt sie die Katastrophe. Marie war dennoch glücklich, nach Kriegsende in Lidice ein »normales« Leben zu führen und eine Familie zu gründen.
Sie engagierte sich viele Jahre lang als Zeitzeugin. Das tat sie mit viel Überzeugung. Sie wollte jungen Menschen ihre Geschichte erzählen. Alle, die Marie kennenlernten und ihre Geschichte hörten, erlebten eine liebenswerte und von Liebe erfüllte Frau. Sie starb am 22. März 2021 in Prag.
Was möchte Marie uns mitteilen?
Hier kannst Du dir Bilder von der Gedenkstätte Lidice heute anschauen