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17. August 1930Geburt
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1938Zeugen Jehovas
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September 1941Verhaftung des Vaters
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Juli 1943Eingesperrt
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April 1945Vereint
Simone Arnold lebte mit ihren Eltern, Adolphe und Emma, und ihrem Hund Zita in Mülhausen im französischen Elsass, unweit der deutschen Grenze. Die Familie Arnold war sehr religiös und Simone wurde zunächst streng katholisch erzogen. Doch 1938 entschieden sich Simones Eltern, zu den Zeugen Jehovas zu konvertieren. Drei Jahre später wurde auch Simone als Zeugin Jehovas getauft. Sie nahm nicht mehr am katholischen Religionsunterricht teil, sondern besuchte jede Woche einen Kindergottesdienst, bei dem die Bibel studiert wurde.
Schon früh, als kleines Kind, hatte Simone sich vorgenommen, Heilige zu werden. Und auch später – als Zeugin Jehovas – wollten sie und ihre Eltern Gottes Gebote genau befolgen. Wie alle Zeugen Jehovas glaubten sie daran, dass das, was in der Bibel steht, wörtlich zu verstehen ist und nur eine bestimmte Interpretation zulässt.
In Mülhausen fanden sie dafür nur wenig Verständnis. Weder ihre Nachbar/-innen noch die Verwandtschaft akzeptierten ihre neue Religionszugehörigkeit. Sogar die Großeltern luden Simone nur noch selten auf ihren Bauernhof in den Bergen ein. Dabei liebte Simone diesen Ort und konnte sich später noch gut an ihn erinnern:
»Zwischen Felsen, Farnen und Gestrüpp stand das Haus meiner Großeltern. Nachdem man durch die winzige Tür eingetreten war, mussten sich die Augen zunächst an das dämmrige Licht gewöhnen, ehe man in der Ecke den riesigen schwarzen Schornstein wahrnahm, in den ein großer Küchenherd eingebaut war. Der Geruch von Rauch, vermischt mit dem Aroma von Heu und Getreide, war mir der liebste Duft.«
Quelle: Simone Arnold Liebster (2002): Allein vor dem Löwen, Esch-sur-Alzette, S. 22f.
Doch nur wenige Wochen nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, im Oktober 1939, wurden die Zeugen Jehovas in Frankreich, und damit auch im Elsass, verboten. Simone und ihre Eltern konnten seitdem nur heimlich ihrer Religion nachgehen.
Wegen der Religion gehänselt
Ihre Klassenkamerad/-innen verstanden nicht, warum Simone zu den Zeugen Jehovas übergetreten war, und fingen an, sie zu hänseln.
»Eines Tages, nach dem Religionsunterricht, warteten die Kinder draußen in einem Halbkreis auf mich. Beide Steintreppenaufgänge waren blockiert. Ich war wie in einer Falle gefangen. Sie sahen mich und skandierten: ›Heide, Heide, du bist Heide!‹ Jemand rief: ›Du gehst nicht mehr in die Kirche!‹. Eine andere schrie: ›Du kommst nicht mehr zum Katechismus!‹ Noch eine andere brüllte: ›Du bist jetzt Kommunist!‹
Allein stand ich auf der Treppe vor dem Schuleingang und rief: ›Ich bin Christin!‹ Das machte sie wütend. ›Dann sag uns, warum du nicht in den Katechismus kommst!‹ Ich hatte in der Bibel gelesen, dass Gott nicht in von Menschen gemachten Häusern wohnt. Daher zeigte ich auf das Kirchengebäude gegenüber und sagte: ›Gott kann nicht dort wohnen, weil es voller Götzen ist, die Augen haben, aber nichts sehen, und die Ohren haben, aber nichts hören, und im zweiten Gebot hat Gott uns verboten solche Götzen zu haben‹ […]
Als ich zur Straßenecke kam, stellte sich mir eine kleinere Gruppe Kinder in den Weg. Einige der Jungen sprangen mich an, umkreisten mich […] und beschimpften mich: ›Drecksjude, Drecksjude!‹ Warum nannten sie mich einen Juden, und weshalb dreckig? Ich war weder das eine noch das andere.«
Quelle: Interview der Shoah Foundation mit Simone Arnold Liebster, 1997
Woran glauben die Zeugen Jehovas?
In den 1870er Jahren sammelte sich in Pittsburgh in den USA eine Gruppe religiöser Menschen um den jungen Charles Taze Russell. Er war Anfang zwanzig und Sohn eines wohlhabenden Textilhändlers. Aus dieser Gruppe entstand eine neue Religionsgemeinschaft: Zunächst wurden sie wegen ihres gründlichen Studiums der Bibel als Bibelforscher/-in bezeichnet, ab 1931 nannten sie sich selbst Jehovas Zeugen.
Der Mitbegründer, Charles Taze Russell, glaubte, dass das in der Bibel angekündigte Tausendjährige Reich unmittelbar bevorstünde und prophezeite für das Jahr 1914 das sogenannte Armageddon. Die Bibelforscher/-innen verstanden darunter die endgültige Schlacht zwischen Jesus Christus und den weltlichen Herrscher/-innen, bei der aus ihrer Sicht nur sie selbst überleben würden. Die »Ungläubigen« aber, also diejenigen, die nicht zu den Bibelforscher/-innen gehörten, würden nicht in das Tausendjährige Reich eintreten, sondern sterben.
Die Zeitschrift Der Wachtturm war in Deutschland populär
Russells Lehre hatte eine große Anziehungskraft und die Zahl der Anhänger/-innen wuchs beständig. Bereits 1884 verfügte Russell über eine eigene Verlagsgesellschaft, der späteren Zion’s Watch Tower and Tract Society, über die Russells Werke veröffentlicht werden konnten und über die noch heute die Veröffentlichungen der Zeugen Jehovas, wie die Zeitschrift Der Wachtturm, erscheinen.
Seit 1897 erschien die Zeitschrift Der Wachtturm auch in Deutschland. Die Zahl der Zeugen Jehovas hatte seit der Jahrhundertwende gerade in Deutschland stetig zugenommen: Im Jahr 1914 gab es Schätzungen zufolge etwa 3.000 bis 4.000 Bibelforscher/-innen, Ende der 1920er Jahre hatte die Organisation bereits über 20.000 Mitglieder.
Obwohl Simones Heimatstadt Mülhausen bereits seit 1919 wieder zu Frankreich gehörte, wurde das nach wie vor teilweise deutschsprachige Elsass vom Erfolg der Zeugen Jehovas in der Weimarer Republik beeinflusst. Im Elsass lebten im Jahr 1924 300 der insgesamt 557 Zeugen Jehovas Frankreichs. Obwohl die Schriften der Zion’s Watch Tower and Tract Society bereits seit 1891 ins Französische übersetzt wurden, blieb die Mitgliederzahl in Frankreich bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs auf niedrigem Niveau.
Warum waren die Zeugen Jehovas in Deutschland so erfolgreich?
Warum schlossen sich in dieser Zeit so viele Menschen der neuen Religionsgemeinschaft an? Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg befand sich Deutschland in einer gewaltigen Umbruchsituation: Das Deutsche Reich war durch die Novemberrevolution von 1918 zur Republik geworden, der Kaiser hatte abgedankt und eine neue Reichsverfassung war verabschiedet worden.
Millionen Kriegsteilnehmer kehrten zurück. Oftmals waren sie traumatisiert, hatten ernste Verletzungen davongetragen oder litten unter dauerhaften Folgeschäden. Über zwei Millionen deutsche Soldaten waren im Krieg gefallen. Frauen hatten ihre Ehemänner und Söhne verloren. Kinder blieben ohne ihren Vater zurück.
Die gewählten Regierungen waren nie von langer Dauer, nicht weniger als neun Reichstagswahlen fanden in den 14 Jahren des Bestehens der Weimarer Republik statt. Inflation und eine hohe Arbeitslosigkeit bestimmten das wirtschaftliche Leben.
Vor diesem Hintergrund prophezeiten die Bibelforscher/-innen den Anbeginn des Tausendjährigen Reichs – inzwischen für das Jahr 1925. So verkündete der neue Präsident der Internationalen Bibelforschervereinigung, Joseph Rutherford, dass »die alte Ordnung der Dinge, die alte Welt« schon bald zu Ende gehen würde. Diese Botschaft vom Anbruch einer neuen, besseren Zeit machte die Anziehungskraft der Zeugen Jehovas in Deutschland aus.
Im Juni 1940 marschierte die deutsche Wehrmacht ins bis dahin französische Elsass ein, wo Simone mit ihrer Familie lebte. Sofort begannen die Maßnahmen zur »Germanisierung«, also der »Eindeutschung« der Region. Auch Simone war unmittelbar davon betroffen: In der Schule musste nun Hochdeutsch gesprochen werden, die Lehrer/-innen unterrichteten die Kinder in einem neuen Schulfach, der nationalsozialistischen »Rassenkunde«, und viele Kinder verbrachten fortan ihre Freizeit bei nationalsozialistischen Jugendorganisationen wie der Hitlerjugend.
Fühlte sich Simone eher als Deutsche oder als Französin?
Über Jahrhunderte hinweg war die territoriale Zugehörigkeit des Elsass zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich umstritten: Allein in den 75 Jahren zwischen 1870 und 1945 wechselte die staatliche Zugehörigkeit viermal.
1871 hatte Preußen im deutsch-französischen Krieg gesiegt, und Frankreich musste das Elsass an das Deutsche Reich abtreten. Doch nach der Niederlage des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg (1914–1918) fiel das Elsass wieder an Frankreich.
Im Juni 1940 besetzten deutsche Truppen die Region. Erst im Februar 1945 zogen sie sich zurück und das Elsass wurde wieder der französischen Verwaltung unterstellt.
Die Wechsel in der staatlichen Zugehörigkeit hatten jedes Mal weitreichende Konsequenzen: Nicht nur wanderten jeweils Franzosen und Französinnen oder Deutsche in das Elsass ein oder kehrten in ihr jeweiliges Heimatland zurück, sondern auch die Amtssprache änderte sich von Französisch zu Deutsch oder umgekehrt.
Die meisten Elsässer/-innen benutzten jedoch, wie Simone, den elsässischen Dialekt, der hörbar von der deutschen Sprache beeinflusst war. Sie wurde am 17. August 1930 im französischen Elsass geboren. Ihr Vorname Simone wird daher nicht deutsch, sondern französisch ausgesprochen. Sie selbst verstand sich, wie ihre Eltern und viele andere Bewohner/-innen des Elsass, vornehmlich als Elsässerin und weniger als Französin oder Deutsche.
Jede Erinnerung an Frankreich sollte verschwinden
Faktisch wurde das Elsass nach dem Einmarsch der Wehrmacht an das Deutsche Reich angeschlossen und sollte nach dem Willen der Nationalsozialisten von nun an wieder zu Deutschland gehören. Der Gauleiter Robert Wagner wollte die französischen Einflüsse im Elsass vollständig auslöschen und einen vermeintlichen, verschüttet geglaubten »deutschen Kern« freilegen.
Deutsch wurde zur Amtssprache erklärt, das Sprechen der französischen Sprache wurde verboten. Sogar französisch klingende Vor- und Nachnamen mussten eingedeutscht werden. Es wurden Propagandaplakate aufgehängt mit Aufforderungen wie »Elsässer, sprecht Eure deutsche Muttersprache!« oder »Hinaus mit dem welschen Plunder«. Mit »welschen Plunder« waren französische kulturelle und nationale Symbole gemeint.
Auf diesem Plakat sieht man zum Beispiel das Blau-Weiß-Rot der französischen Nationalflagge, die Büste der französischen Nationalfigur Marianne oder den Hahn als ehemaliges französisches Wappentier. Tatsächlich mussten derartige Gegenstände an die Behörden abgegeben werden. Sogar das Tragen einer Baskenmütze wurde zeitweilig von den Nationalsozialsten unter Strafe gestellt.
Simone widersetzte sich wegen ihres Glaubens mehrfach den Anordnungen ihrer Lehrer/-innen:
Simone musste in der Schule jeden Morgen an den sogenannten Fahnenappellen teilnehmen. Dabei wurde die nationalsozialistische Hakenkreuzfahne gehisst, während die Schüler in Reih’ und Glied standen und das Horst-Wessel-Lied sangen. Genauso wurde von ihr erwartet, dass sie beim Eintritt der Lehrer/-innen in den Klassenraum aufsprang, den rechten Arm nach vorne streckte und »Heil Hitler« rief.
Doch Simone weigerte sich, den Hitlergruß auszuführen. Sie und ihre Eltern glaubten wie alle Zeugen Jehovas, dass ein Mensch nicht mit dem für Gott vorbehaltenen Wort »Heil« gegrüßt werden sollte.
»Ein anderes deutsches Mädchen, das Atheistin war, wissen Sie, war auch aus dem Unterricht des Priesters ausgeschlossen und zwei weitere Mädchen. Wir haben nicht gesehen, dass eine Lehrerin vorbeikam. Wir vier Mädchen lachten in der Ecke und spielten. Sie ging an uns vorbei und plötzlich drehte sie sich um, stellte uns an die Wand und sagte ›Heil Hitler‹. Drei von ihnen sprachen ›Heil Hitler‹ und ich nicht. Also stellte sie mich vor die drei anderen und grüßte nochmals: ›Heil Hitler‹. Alle drei sagten ›Heil Hitler‹ und ich nicht. Da meinte sie: ›Was ist denn los?‹ Ich antwortete: ›Ich bin Christin und in der Bibel steht, dass Heil nur Christus vorbehalten ist. Niemandem kann auf Erden Heil zugesprochen werden.‹ ›Oh‹, sagte sie, ›Bibelforscher, ich verstehe‹. Und sie ging nicht zum Schuldirektor, Sie wissen schon, zu dem, der dafür zuständig war. Sie ging zu demjenigen, der für das ganze Land verantwortlich war, um mich zu denunzieren. Das geschah an einem Samstag. Am Montag, als ich in die Schule kam, rief mich mein Lehrer auf. Und er sagte: ›Hier ist ein Zettel. Du musst mit diesem Zettel von Klasse zu Klasse gehen und ihn von den Lehrern lesen und unterschreiben lassen.« Die Klassen waren damals sehr groß: 45 Kinder, Doppelklassen, weil die Leute im Krieg waren. Sie wissen schon, die Lehrer waren im Krieg. Die Schule war groß, weil Jungen und Mädchen nicht gemischt in Klassen gingen. Es gab insgesamt 38 Klassenzimmer, die ich durchlaufen musste. Ich habe also die ganze Woche gebraucht. Und wissen Sie, was auf diesem Zettel stand? ›Es ist bekannt geworden, dass eines der Kinder in der Schule gegen den deutschen Frieden, gegen deutsche Verhaltensweisen rebelliert. Wir sprechen folgende Warnung aus. Bis zum Ende dieser Woche muss diese Person eine Entscheidung treffen: Sich fügen oder die Schule verlassen. Denn wir können nicht zulassen, dass ein rebellierendes Kind an dieser Schule ist.‹ Darunter: ›Muss von Klasse zu Klasse von dem Kind Simone Arnold gebracht werden.‹ Das habe ich also 36 Mal in der ganzen Woche gehört.«
Diese Haltung hatte für Simone schwere Konsequenzen: Die Schulverwaltung stellte sie vor der gesamten Schule bloß und demütigte sie. Dennoch ließ sie sich nicht von ihrer Überzeugung abbringen. Ein Verhalten, das die Nationalsozialisten in der Schulverwaltung um keinen Preis akzeptieren wollten: Im Herbst 1942 wurde Simone erstmals des Klassenraums verwiesen und musste ihre Schule endgültig verlassen, nachdem sie sich zum wiederholten Male geweigert hatte, vor der versammelten Klasse den Hitlergruß auszuführen. Nicht einmal ein Abgangszeugnis wurde ihr ausgestellt.
Warum verweigerte Simone den Hitlergruß?
»Als die Deutschen kamen, führten sie das berühmte ›Heil Hitler‹ ein. Nun, ›Heil Hitler‹ war der Gruß aller Kinder, wenn sie in die Schule kamen. Wenn der Lehrer eintrat, mussten sie aufstehen und ihren Arm ausstrecken und ›Heil Hitler‹ sagen. Wenn er die Klasse verließ, standen sie auf: ›Heil Hitler‹.
Nun, etwas, das ich gerne hervorheben möchte, ist, dass ›Heil Hitler‹ eine körperliche Begrüßung ist. Die Hände hoch. […] Also war es schwer zu verbergen. Es waren nicht nur die Lippen, sondern auch die Hände. Also, sogar auf der Straße, wenn wir einen Lehrer sahen, mussten wir mit ›Heil‹ grüßen, verstehen Sie. Er schaute nicht auf den Mund, sondern er schaute auf unsere Hände. Also lernte ich sehr vorsichtig zu sein und meine Augen immer offen zu halten, wissen Sie, um nicht erwischt zu werden.
Denn ich glaube, man kann keinem Menschen ›Heil‹ zusprechen. ›Heil‹ bedeutet Erlösung und in meinem Verständnis der Bibel kann ›Heil‹ nur dem Messias, nur dem von Gott gegebenen Messias zugesprochen werden. Niemand kann ›Heil‹ einem Menschen auf Erden zusprechen und mit Sicherheit nicht einem Monster wie Hitler es war. Zu dieser Zeit hatte ich gelesen, was mit den Zeugen Jehovas im Lager geschah. Ich hatte gesehen, wie Menschen verhaftet wurden. […] Wie konnte ich einem solchen Mann und einer solchen Ideologie ›Heil‹ zusprechen?«
Quelle: Interview der Shoah Foundation mit Simone Arnold Liebster, 1997
Für die Zeugen Jehovas hat die Bezeichnung ›Heil‹ also eine religiöse Bedeutung. So sagte es das Bibelwort aus der Apostelgeschichte 4,12:
»Und es ist in keinem anderen [als Christus] das Heil; denn es ist auch kein anderer Name unter dem Himmel für die Menschen gegeben, durch den wir gerettet werden sollen.«
In diesem Sinne konnte nur Gott, aber keinem Menschen heilsbringende Kraft zugeschrieben werden. Daher kam der Gebrauch des Hitlergrußes für die Zeugen Jehovas der Gotteslästerung gleich.
Im September 1941 wurde Simones Vater von der Gestapo in »Schutzhaft« genommen. Es lag weder ein Tatverdacht noch ein Gerichtsurteil gegen ihn vor. Der einzige Grund für Adolphe Arnolds Verhaftung war sein Engagement als Leiter der örtlichen Vereinigung der Zeugen Jehovas.
Im Deutschen Reich war die Organisation der Zeugen Jehovas bereits 1933 verboten worden. Wer dennoch als Bibelforscher/-in seiner Religion nachging oder gar, wie Adolphe Arnold, an Schmuggel und Verteilung von Zeitschriften und Flugblättern der Glaubensgemeinschaft beteiligt war, galt den Nationalsozialisten als politisch feindlich. Dafür konnte man verhaftet und über Jahre in einem Konzentrationslager festgehalten werden. Simones Vater wurde in das Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck gebracht und später von dort in das Konzentrationslager Dachau überstellt.
Seit der Verhaftung ihres Vaters lebte Simone in ständiger Angst vor der Gestapo. Jedes Mal wenn sie das Geräusch schwerer Stiefel auf der Treppe hörte oder jemand unangemeldet an der Tür klopfte, schreckte sie auf. Simone und ihre Eltern hatten ein Codewort für das nationalsozialistische Regime: Den Löwen.
Simone und ihre Mutter lebten weiterhin als aktive Bibelforscherinnen: Sie nahmen an geheimen Treffen teil und versteckten Zeitschriften und andere Publikationen in ihrer Wohnung. Da die Gestapo von ihrem Glauben wusste, mussten Simone und ihre Mutter Emma damit rechnen, ebenfalls verhört und festgenommen zu werden.
Lange Zeit geschah jedoch nichts dergleichen, die Nationalsozialisten nutzten stattdessen ein anderes Mittel, um Simones Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas zu unterbinden: Im Frühjahr 1943 wurde sie in die Fürsorgeerziehung überwiesen und dem Jugendamt unterstellt, um sie von ihrer Mutter zu trennen. Nur wenige Monate später wurde sie in ein Heim, die Wessenberg'sche Erziehungsanstalt für Mädchen in Konstanz, eingewiesen, in dem sie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eingesperrt bleiben sollte.
Was wurde aus Simones Vater?
Seit Anfang 1942 hielt die SS Simones Vater, Adolphe Arnold, im Konzentrationslager Dachau fest. Die Bedingungen im Lager waren unerträglich: Adolphe wurde geschlagen und erkrankte an Typhus. Zudem versuchten SS-Ärzte, ihn im Rahmen medizinischer Experimente mit Malaria zu infizieren, was jedoch fehlschlug.
Simone und Emma konnten ihm von Zeit zu Zeit Pakete mit Nahrungsmitteln schicken. Darin versteckten sie auf kleinen Papierfetzen Bibelzitate und Auszüge aus dem Wachtturm, um ihm auch geistige Unterstützung zu geben.
So einen Zettel schmuggelte Simones Mutter in das Konzentrationslager
»Es darf jetzt kein Nachlassen im Werke des Herrn stattfinden. Sein Wort muss eilen mit Schnelligkeit, denn dies ist Jehovas Wille und sein Auftrag, [nach dem] sein Volk gehorchen muss. […].«
Diese Zeilen sollten Simones Vater trösten und ihm Kraft geben.
Warum wurden die Zeugen Jehovas von den Nationalsozialisten verfolgt?
Schon vor 1933 waren die Bibelforscher/-innen in Deutschland starken Anfeindungen ausgesetzt. Ihre Missionstätigkeit und ihr Glaube an die nahende Endzeit stießen auf Unverständnis. Die Nationalsozialisten beschimpften sie als »Bolschewisten«, die aus politischen Gründen an den notwendigen Umsturz der bestehenden Verhältnisse glaubten.
Außerdem wurde ihnen von rechten politischen Gruppen aber auch unterstellt, eine jüdische Organisation zu sein. Die bizarre Begründung für diese Behauptung lautete, dass die Bibelforscher/-innen den jüdischen Namen Gottes »Jahwe« (oder »Jehova«) verwendeten und auch das Alte Testament, das von den Nationalsozialisten als Grundlage des jüdischen Glaubens missbilligt wurde, in ihre Interpretation der Bibel miteinbezogen.
Die Nationalsozialisten griffen diese Zuschreibungen in ihrer Propaganda auf. Bereits im Juni 1933, also nur wenige Monate nach der Machtübertragung an die NSDAP, war die Vereinigung der Zeugen Jehovas im gesamten Deutschen Reich verboten worden. Von nun an wurden Bibelforscher/-innen wegen der Ausübung ihres Glaubens verfolgt. Ihnen wurde, auf der Grundlage der »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat« vom 28. Februar 1933 Volksverhetzung und Staatsfeindlichkeit vorgeworfen.
Tatsächlich lehnten die Bibelforscher/-innen das von ihnen verlangte deutliche Bekenntnis zum nationalsozialistischen Staat kategorisch ab. Getreu dem Bibelspruch »Dann gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, aber gebt Gott, was Gott gehört.« beteiligten sie sich nicht an Wahlen, verweigerten den Hitlergruß sowie die Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisationen.
Ein Freund von Simone wagte es, den Kriegsdienst zu verweigern
Im August 1942 wurde die allgemeine Wehrpflicht im Elsass eingeführt. Auch der zu diesem Zeitpunkt 23-jährige Marcel Sutter sollte den Dienst in der Wehrmacht antreten. Doch Marcel war überzeugter Zeuge Jehovas. Er war oft bei der Familie Arnold zu Besuch gewesen und hatte in langen Gesprächen mit Simones Eltern zu seinem Glauben gefunden. Daher lehnte Marcel den Dienst an der Waffe ab. Er weigerte sich, der Wehrmacht beizutreten und im Namen des Deutschen Reichs andere Menschen zu töten…
Marcel Sutter wurde wegen Kriegsdienstverweigerung vom Reichskriegsgericht in Berlin zum Tode verurteilt. Am 5. November 1943 wurde er in der Hinrichtungsstätte Roter Ochse in Halle an der Saale enthauptet. So wie Marcel verweigerten viele Zeugen Jehovas den Kriegsdienst. Bis Kriegsende richteten die Nationalsozialisten insgesamt etwa 250 Bibelforscher wegen Kriegsdienstverweigerung hin.
Seit Juli 1943 musste Simone getrennt von ihrer Mutter in einem Heim leben. In die Wessenberg'sche Erziehungsanstalt bei Konstanz wurden vor allem Mädchen eingewiesen, die von den Nationalsozialisten als »asozial« oder »kriminell« angesehen wurden. Sie sollten dort nach nationalsozialistischen Vorstellungen erzogen werden.
Die Erziehungsanstalt in Konstanz am Bodensee, in der Simone festgehalten wurde, war nach ihrem Gründer Ignaz Heinrich von Wessenberg benannt. Wessenberg war bis zu seinem Tod 1860 Stellvertreter des Bischofs in Konstanz. Er wollte den Katholizismus erneuern und engagierte sich für soziale Projekte. Eines davon war die 1855 eröffnete Rettungsanstalt für verwahrloste Mädchen in Konstanz. Dort waren zumeist aus armen Familien stammende, oft unehelich geborene Mädchen untergebracht. Wessenberg wollte sie durch eine äußerst strenge Erziehung zu Fleiß und Frömmigkeit »retten« und zu aus seiner Sicht »wertvollen« und der Allgemeinheit nützlichen Individuen formen.
Auch das strenge Regelwerk der Erziehungsanstalt ging auf ihren Gründer zurück: Die Festlegung der Uniform, die von den Mädchen geradezu penibel sauber zu halten war, der sonntägliche Kirchgang, das seltene Wechseln der Bettwäsche sowie das seltene Baden. Der Tagesablauf war durchgeplant. Nie durften die Mädchen unbeschäftigt sein. Nach dem vormittäglichen Unterricht mussten sie sich mit Näharbeiten beschäftigen oder im Haushalt helfen. Ziel war es, die Mädchen, wenn sie das 14. Lebensjahr erreicht hatten, aus der Erziehungsanstalt entlassen und in eine Stelle als Hausmädchen oder Dienstmagd geben zu können.
An diesen Grundsätzen hatte sich, als Simone 1943 – fast neunzig Jahre nach Gründung der Erziehungsanstalt – dort eintraf, nichts geändert.
Das Leben in der Erziehungsanstalt war streng geregelt: Den Mädchen war es untersagt, miteinander zu sprechen. Nur wenn eine Erzieherin sie anredete, durften sie antworten. Alle trugen die gleiche Uniform: Ein schlichtes Schürzenkleid. Die Haare wurden hochgesteckt und von April bis Oktober liefen die Mädchen barfuß.
Neben dem täglichen Schulunterricht mussten die Mädchen hart arbeiten: Simone war mit ihren knapp 13 Jahren zum Beispiel dafür verantwortlich, die Toiletten zu putzen und die Bettlaken per Hand zu waschen. Privater Besitz wurde den Mädchen nicht erlaubt: Nicht einmal in ihrer Bibel durfte Simone lesen.
Simones Tante Eugénie kam sie mehrmals besuchen
Simone versuchte, den Anweisungen der Erzieherinnen zu folgen, um Strafen zu entgehen: Bei kleinsten Regelverstößen drohten die Prügelstrafe und Essensentzug.
Obwohl sie in der Erziehungsanstalt von der religiösen Ausübung ihres Glaubens abgehalten wurde, blieb Simone Anhängerin der Zeugen Jehovas. Bei den regelmäßigen Besuchen ihrer Tante Eugénie machten sie gemeinsam Ausflüge und lasen unterwegs in den neuen Ausgaben des Wachtturms.
Diese Momente entrissen Simone für kurze Zeit ihrer Isolation. In der Wessenberg'schen Erziehungsanstalt hatte sie keinen Menschen, dem sie sich anvertrauen konnte. Der Kontakt zu ihrer Familie war, abgesehen von den seltenen Besuchen ihrer Tante, abgebrochen: Ihre Mutter Emma und ihr Vater Adolphe waren verhaftet und in unterschiedliche Lager gebracht worden. Ihr gemeinsamer Glaube war Simone als einzige Verbindung zu ihrer Familie geblieben.
Wie Simone mit dieser Frau aneinander geriet
Nachdem Simone zur Schlafenszeit unerlaubterweise mit ihrer Bettnachbarin Sophie gesprochen hatte, wurden die beiden zur Direktorin zitiert.
»Fräulein Lederle wartete neben dem hohen Kachelofen am Eingang ihres Büros auf uns. Trotz ihrer kleinen Statur war ihre Erscheinung ziemlich ehrfurchtgebietend. Sie sah immer streng aus, das weiße Haar im Nacken zu einem kleinen Haarknoten gebunden. Doch in dieser Nacht waren ihre blauen Augen besonders grau und von stählener Härte.
Sie forderte uns auf, die Regeln vorzutragen. Natürlich wussten wir, dass Sprechen strengstens untersagt war. Sophie musste als Erste ein Geständnis ablegen. […] Dann war ich an der Reihe. ›Was hast du zu sagen?‹ […] Ich musste einen genauen Bericht abgeben und war zuversichtlich. ›Wir haben darüber gesprochen, dass Jesus sein Leben dafür hingab, um für uns das Paradies, das Adam verloren hat, wiederzubringen. Dass sein Opfer ein ewiges Leben hier auf der Erde möglich macht. […]‹
Die ganze Zeit sah ich dabei Fräulein Lederle in die Augen, hatte aber das unbefriedigende Gefühl, gegen eine Wand zu sprechen. […] Fräulein Lederle griff hinter den Kachelofen und holte ihre schwere Schürze hervor, nahm dann den Stock von der Ablage über dem Kachelofen in die Hand. Sophie musste zuerst antreten und ich sollte zusehen, wie sie geprügelt wurde.«
Quelle: Simone Arnold Liebster (2002): Allein vor dem Löwen, Esch-sur-Alzette, S. 279f.
Simone wurde nicht verprügelt. Um ihr eine Lehre zu erteilen, sollte sie zuschauen, wie ein anderes Mädchen wegen ihres Regelverstoßes bestraft wurde.
Nach fast zwei Jahren in der Wessenberg'schen Erziehungsanstalt hatte sich Simone zu einem anderen Menschen entwickelt. Sie lebte völlig isoliert, reagierte nur noch auf Befehle und sah ihrer Zukunft freudlos entgegen. Ihr Verhalten änderte sich auch nicht, als ihre Mutter aus dem Lager Schirmeck-Vorbruck freikam und sie endlich wieder zu sich nach Mülhausen holen konnte.
Auch als ihr Vater Adolphe, nach Jahren in verschiedenen Konzentrationslagern, völlig überraschend in ihrer alten Wohnung stand, konnte sich Simone nicht richtig freuen: Ihre Eltern waren ihr fremd geworden und sie konnte sich an das Leben in Freiheit nicht gewöhnen.
Obwohl sie früher eine begeisterte Schülerin gewesen war, wollte Simone nicht in die Schule zurückkehren und war sich nicht sicher, wie sie von nun an ihr Leben gestalten sollte. Nach Monaten der Orientierungslosigkeit entschied sie sich schließlich für eine Ausbildung als Zeichnerin, doch fand sie keine Erfüllung in der Ausübung ihres Berufs. Stattdessen entschied sie sich für ein Leben als Missionarin bei den Zeugen Jehovas.
Nach dem Krieg gab es ein großes Familientreffen
Simone erinnert sich folgendermaßen an den Tag auf dem Bauernhof ihrer Großeltern in Bergenbach, einem kleinen Dorf in den Bergen, das sie als Kind sehr geliebt hatte:
»In der alten Bahn sitzend und ein Bündel unterschiedlicher Gefühle bändigend, sah ich, wie im Traum, die vielen zerstörten Häuser an uns vorbeischweben, wenn wir durch die Dörfer fuhren. Es gab nichts, was mich auf den Boden der Realität zurückbrachte. Ich begriff die Bedeutung des bevorstehenden Wochenendes gar nicht.
Es war Bergenbach, das mich ergriffen hatte mit all seinen Wiesen, Düften, Blumen und Wäldern. Ich sah mich wieder zwischen Farnen laufen, Grandmamans Ziege begrüßen und mit den Zicklein spielen. Die Uhr wollte ich zurückdrehen […] [Doch] Bergenbach war nicht mehr sicher und auch kein wahres Paradies mehr.«
Quelle: Simone Arnold Liebster (2002): Allein vor dem Löwen, Esch-sur-Alzette, S. 359f.
Simone erinnert mit ihrem Ehemann Max an die Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas
Simone und ihr späterer Mann Max Liebster, der im Holocaust als Jude verfolgt worden war und nach seiner Befreiung zu den Zeugen Jehovas konvertierte, setzten sich für die Erinnerung an den Widerstand der Zeugen Jehovas während der Zeit des Nationalsozialismus ein. Beide schrieben Autobiographien, in denen sie ihre Verfolgungsgeschichte darstellen, und gründeten gemeinsam die Arnold-Liebster-Stiftung, die Erinnerungsprojekte weltweit unterstützt.
Hier kannst Du mehr über die Arnold-Liebster-Stiftung erfahren: https://www.alst.org/pages-de/index-de.html.