-
10. Juli 1924Geburt
-
8. Juni 1942Verhaftet
-
19. Oktober 1942Lety
-
11. März 1943Auschwitz
-
24. Februar 1945Entkommen
»Wir waren eine glückliche Familie: Meine Eltern führten eine gute, eine glückliche Ehe. Ich liebte sie beide über alles«, so beschreibt Zilli ihre Kindheit. Sie wuchs in einem Wohnwagen auf. Der war über sechs Meter lang, aus Holz und innen reich verziert. In ihren Augen war es »ein richtiges Schmuckkästchen«. Mit einem vorgespannten Trecker fuhr ihre Familie damit von Ort zu Ort.
Zillis Vater betrieb ein Wanderkino und organisierte im Sommer Filmvorführungen. Im Winter stellten die Reichmanns den Wagen ab und blieben an einem Ort. Vater Anton, sein Sinti-Name war Jewero, verdiente dann vor allem als Musiker Geld. Zillis Mutter Bertha, genannt Batschka, hausierte. Sie ging also von Haus zu Haus und bot Waren zum Verkauf an. Sie war auf Spitze spezialisiert.
Zilli hatte vier Geschwister. Im Wohnwagen schliefen sie in Stockbetten übereinander. So war genug Platz für alle da. Ein Badezimmer gab es nicht. Deswegen wuschen sie sich draußen, mit zuvor erhitztem Wasser. Eine Zeit lang hielt Zilli Hühner unter dem Wohnwagen, die ihr – wie sie später berichtete – sehr am Herzen lagen:
»Für die war ich ganz allein verantwortlich. Nach denen habe ich immer geschaut. Mein Vater hatte mir unter den Wagen so einen Kasten gebaut mit einer kleinen Leiter, wo ich meine fünf Hühner und den Hahn drin hatte. So kleine Zwerghühner waren das. So hübsch. […] Egal, wo wir gestanden haben, habe ich sie rausgelassen und dann habe ich wieder geklatscht und sie kamen alle wieder das Leiterchen rauf und waren in dem Kasten drin.«
Zilli Schmidt: Gott hat mit mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza. Herausgegeben von Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker, Berlin 2020, S. 17f.
Auch später, nach dem Krieg, lebte Zilli noch viele Jahre in einem Wohnwagen. Erst 1970, als sie Mitte vierzig war, zog sie dauerhaft in eine Wohnung. Das war für sie zunächst eine Umstellung.
Sinti und Sintize haben einen deutschen und einen Sinti-Vornamen
Sinti und Sintize sind seit über 600 Jahren im deutschen Sprachraum beheimatet. Sie sind deutsche Staatsbürger/-innen, viele sind gläubige Christ/-innen. Neben Deutsch haben sie eine eigene Muttersprache: Romanes (oder Romani). Untereinander – auch in Zillis Familie – wurde Romanes gesprochen. Das Deutsche benutzten sie im Alltag außerhalb der Familie. Neben einem »deutschen« Vornamen, der sich in der amtlichen Geburtsurkunde findet, haben viele Sinti und Sintize noch einen Rufnamen auf Romanes. Oft wird untereinander allein dieser Name benutzt.
»Den Namen bekommt man meist als Kind, wenn man noch klein ist, von den Eltern«, schreibt Zilli, die offiziell Cäcilie heißt. Ihr Vater Anton Reichmann, 1882 im württembergischen Ellwangen geboren, wurde Jewero (Hase) genannt. Zillis Mutter Bertha, 1884 geboren, stammte aus Lötzen in Ostpreußen. Sie hieß Batschka. Zillis Bruder Stefan, 1907 in Rotterdam geboren, wurde Stifto gerufen, ihre Schwester Hulda, geboren 1916, Guki. »Das heißt Puppe. Weil sie schön war wie eine Puppe«, erinnert sich Zilli. Und als jüngster war da noch ihr Bruder Otto, der 1926 im hessischen Ulfa das Licht der Welt erblickte, und wohl deshalb Hesso genannt wurde. Ihre zwei Cousinen väterlicherseits hießen Else Schubert, genannt Bluma, und Katharina Strauß, genannt Röschen.
Diese Tradition der Namensgebung gibt es noch immer – auch wenn einige junge Sinti und Sintize das Romanes nicht mehr so gut sprechen können und viele deutsche Wörter Eingang in diese Sprache gefunden haben. Zilli bedauert diese Entwicklung. Sinti und Roma sind seit den 1990er Jahren in Deutschland als eine von vier »nationalen Minderheiten« und das Romanes als ihre »Minderheitensprache« anerkannt.
Zilli besuchte viele verschiedene Schulen
Aufgrund des vielen Reisens wechselte Zilli oft die Schule, vor allem in Thüringen und Bayern. In den wärmeren Jahreszeiten verbrachte sie für gewöhnlich nur wenige Tage in der Schule ihres jeweiligen Standortes. Nur im Winter war das anders, wenn sich die Familie für längere Zeit an einem Ort aufhielt.
Ab Mitte der 1930er Jahre wurde das Leben für Zilli und ihre Familie immer schwieriger. Sie wurden als »Zigeuner« bezeichnet und hatten zunehmend unter der Verfolgung der Nationalsozialisten zu leiden. Es gab immer weniger Orte, an denen sie mit ihrem Wohnwagen bleiben konnten. Für Zilli begann eine Zeit der Flucht: Zunächst ging sie mit ihrer Familie nach Eger, einer Stadt im Sudetenland. Obwohl die Gegend, die zuvor Teil der Tschechoslowakei war, seit 1938 ans Deutsche Reich »angeschlossen« war, fühlten sie sich dort sicherer. Das währte aber nur für kurze Zeit: Schon bald mussten sie weiterziehen, dieses Mal ins vom Deutschen Reich besetzte Frankreich. Dort geriet Zilli im Sommer 1942 in Straßburg in die Hände der Gestapo und wurde verhaftet – allein, weil sie eine Sinteza war. Nach einem mehrmonatigen Gefängnisaufenthalt wurde sie nach Lety, in ein sogenanntes »Zigeunerlager« in der Nähe von Prag, gebracht. Doch Zilli floh aus dem Lager, zusammen mit einem Verwandten, der dort auch Häftling war.
»Als der sagte: ›Wir hauen ab‹, war die Zilli gleich dabei. Immer wenn’s ums Abhauen ging, war die Zilli die Erste. Ich wollte immer schon weg von da. Ich habe immer geguckt, ob irgendwo eine Möglichkeit ist, dass ich weglaufen kann. Es war also kein plötzlicher Einfall, ich hatte die Idee schon immer, ich wollte immer abhauen, das war in meinem Kopf schon immer drin – egal wo, auch später. Ich wollte immer laufen, immer abhauen und da war mir das gerade richtig.«
Zilli Schmidt (2020): Gott hat mit mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza, herausgegeben von Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker, Berlin, S. 30.
Die Flucht aus dem Lager gelang leicht und Zilli schaffte es, zu einer anderen Verwandten zu entkommen. Aber sie wurde erneut verhaftet und schließlich nach Auschwitz verschleppt.
In diesem Lager war Zilli eingesperrt
Bereits seit 1939 gab es in Lety, einer kleinen Gemeinde im heutigen Tschechien, ein Arbeitslager. In den ersten Jahren wurden dort vor allem Menschen festgehalten, die von den Nationalsozialisten abwertend als »Asoziale« bezeichnet und verfolgt wurden. Im Sommer 1942 wurde das Lager in ein »Zigeunerlager« umfunktioniert, in dem bis zur Schließung im Dezember 1943 etwa 1.300 Roma und Sinti eingesperrt waren. Hunderte wurden von dort nach Auschwitz deportiert.
Nach dem Krieg ist der Ort – ebenso wie die Verfolgung der Sinti und Roma insgesamt – lange Zeit in Vergessenheit geraten. Seit den 1970er Jahren befand sich eine Schweinefarm auf dem Gelände. Erst 1995 wurde ein erster Gedenkstein verlegt. Ende 2017 ging das Grundstück schließlich in den Besitz des tschechischen Staates über. Dort soll nun eine Gedenkstätte errichtet werden.
Als Zilli Anfang 1943 nach ihrer erneuten Verhaftung in das »Zigeunerfamilienlager« von Auschwitz kam, herrschten dort furchtbare Zustände. Unter anderem gab es viel zu wenig zu essen für die Häftlinge. Zilli setzte alles daran, ihren Familienmitgliedern, die auch dort eingesperrt waren, so gut wie möglich zu helfen. Regelmäßig »organisierte« sie ihnen Essen, manchmal auch Kleidung oder Medikamente:
»Ich habe gestohlen wie ein Rabe. Aber niemals von Menschen, die das Brot gebraucht haben, sondern im Magazin, in der Küche. Wo ich nur klauen konnte, da habe ich geklaut. Ich hatte keine Angst. Woher das kam, weiß ich nicht. Ich war eigentlich vor dem Lager nicht so. Ich war keine Mutige. Aber das hat das Lager gemacht bei mir – und Gott, den habe ich immer bei mir gehabt.«
Zilli Schmidt (2020): Gott hat mit mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza, herausgegeben von Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker, Berlin, S. 37f.
Eines Tages wurde Zilli entdeckt und zur Strafe mehrere Tage ohne Nahrung in eine dunkle Zelle gesperrt. Es war so eng, dass sie die ganze Zeit stehen musste. Sie ließ sich davon aber nicht unterkriegen und klaute weiter. Als sie ein anderes Mal dabei erwischt wurde, hatte sie Glück: der Mann, der sie gesehen hatte, war ein Mithäftling, ein Sinto, der sie nicht verriet.
Hilfe erhielt sie aber nicht nur von ihm: Auch ein anderer Häftling, der einen einflussreichen Posten im Lager innehatte, half ihr immer wieder mit Lebensmitteln und schützte sie so gut wie möglich. Er hatte sich in sie verliebt und Zilli ließ sich auf eine Beziehung mit ihm ein, in der Hoffnung dadurch ihrer Familie helfen zu können.
Das Lager für Sinti und Roma in Auschwitz
Auf dem Gelände des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau gab es seit Anfang 1943 einen abgetrennten Lagerbereich für Sinti und Roma. Weil die Familien zusammenblieben, nannten die Nationalsozialisten es »Zigeunerfamilienlager«. Dort waren bis Sommer 1944 insgesamt rund 23.000 Sinti und Roma, hauptsächlich aus dem Deutschen Reich, aber auch aus anderen Teilen Europas, eingesperrt. Die Errichtung des Lagers war im Dezember 1942 auf Befehl des Reichsführers-SS, Heinrich Himmler, erfolgt.
Im Lager lebten die Menschen auf engstem Raum in Holzbaracken, litten Hunger, waren Krankheiten und der Gewalt der SS ausgesetzt. Sie wurden zu schwerster Arbeit gezwungen und einige für medizinische Experimente missbraucht. Die große Mehrheit überlebte das Lager nicht: Sie starben infolge der katastrophalen Bedingungen oder wurden in den Gaskammern von Birkenau ermordet. Anfang August 1944 löste die SS das Lager für Sinti und Roma auf: Ein Teil der Häftlinge wurde in andere Lager deportiert, 4.300 Menschen – vor allem Kinder, Frauen und Ältere – durch Giftgas ermordet.
Zilli wollte ihrem Bruder helfen und wurde fast erschossen
Zillis jüngerer Bruder Hesso war eine Zeit lang getrennt von seiner Familie in einem anderen Lagerabschnitt von Auschwitz-Birkenau untergebracht. Dennoch gelang es Zilli, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Als sie ihm eines Tages heimlich Brot über den Zaun zuwerfen wollte, wurde sie beinahe erschossen. In einem Interview, das sie am 9. Juli 2018 mit Mitarbeiter/-innen der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas geführt hat, berichtete sie darüber:
Zilli verlor fast ihre ganze Familie
Als am 2. August 1944 der Lagerabschnitt für Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau »aufgelöst« wurde, verlor Zilli fast ihre gesamte Familie. 4.300 Sinti und Roma wurden bei der »Räumung« des Lagers ermordet. Unter den Opfern, die in den Gaskammern von Birkenau getötet wurden, befanden sich auch Zillis Eltern, ihre Tochter Gretel sowie ihre Schwester Guki und deren Familie. Zilli wurde am 2. August in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Zuvor sah sie ihre Familie ein letztes Mal.
»Schließlich ging es raus aus dem Quarantänelager, wieder in einen Zug. Dieser Zug fuhr dann nochmal am ›Zigeunerlager‹ vorbei. Oben war das Gleis mit dem Zug, unten das Lager. Da habe ich zuerst meine Schwester gesehen. Und dann sah ich sie alle: Gukis Kinder, meine Mutter und meinen Vater mit Gretel. Der Zug hielt, die Türen wurden geöffnet, ich bin ausgestiegen und rausgerannt. Ich wollte zu ihnen, zu meiner Familie, zu meinem Kind zurück. […] Aber dann kam der Mengele, er hat mich nicht gelassen. Er hat mir die Ohrfeige gegeben und mein Leben gerettet, aber er hat mir damit keinen Gefallen getan …«
Zilli Schmidt (2020): Gott hat mit mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza, herausgegeben von Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker, Berlin, S. 52.
Bereits kurz nach ihrer Ankunft in Ravensbrück erfuhr Zilli von der Ermordung ihrer Angehörigen. Das Schicksal und das Leid ihrer Familie ließen sie bis an ihr Lebensende nicht los. Oft wachte sie nachts auf und konnte nicht mehr schlafen, weil sie »wieder in Auschwitz« war.
Anfang 1945 gelang Zilli ein zweites Mal die Flucht aus einem nationalsozialistischen Lager. Sie befand sich damals in Wittenberg, in einem Außenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück, wo sie in einer Flugzeugfabrik arbeiten musste. Mit Unterstützung eines älteren Zwangsarbeiters konnte sie gemeinsam mit ihrer Cousine Tilla von dort fliehen: Der Mann versorgte sie mit Kleidung, an der sie nicht sofort als Konzentrationslagerhäftlinge erkennbar waren. Außerdem erklärte ihnen auch, wann und wie sie am besten aus dem Lager entkommen konnten. Zu Fuß machten sich die beiden Frauen anschließend auf den Weg ins über hundert Kilometer entfernte Berlin, wo ein Onkel von Zilli im »Zigeunerlager« Marzahn lebte.
Dort angekommen, hatte Zilli jedoch ein großes Problem: Sie benötigte offizielle Papiere, um nicht Gefahr zu laufen, bei einer Kontrolle erneut verhaftet zu werden. Auf Rat ihres Onkels ging sie zum Berliner Flüchtlingsamt, nannte einen erfundenen Namen und sagte, sie sei aus einer der zahlreichen ausgebombten Städte nach Berlin gekommen. Tatsächlich erhielt sie einen Ausweis. Das Papier bedeutete eine neue, relativ sichere Identität.
»Ich hatte wieder einen Ausweis – ein Dokument ohne Hinweis darauf, wer oder was ich wirklich war. Und die Tilla auch. Da waren wir gerettet. Die haben sich auf dem Flüchtlingsamt gar nicht gewundert, wie wir aussehen. Das war doch die letzte Zeit vom Krieg, da war sowieso schon alles durcheinander.«
Zilli Schmidt (2020): Gott hat mit mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza, herausgegeben von Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker, Berlin, S. 61.
Als »Renate Müller« aus Küstrin an der Oder konnte sich Zilli nun frei bewegen. Gemeinsam mit ihrer Cousine Tilla reiste sie bis in die Nähe von Wien, wo sie kurze Zeit später das Kriegsende erlebte.
Das Konzentrationslager Ravensbrück
Im Frühjahr 1939 wurde in der Nähe der brandenburgischen Stadt Fürstenberg das Konzentrationslager Ravensbrück errichtet. Zunächst war es ein Frauenlager, später kamen ein Männer- und ein »Jugendschutzlager« hinzu. Insgesamt waren dort bis Kriegsende mehr als 140.000 Menschen inhaftiert, die meisten davon Frauen.
Zehntausende überlebten das Lager nicht: Sie starben an Unterernährung und Krankheit, wurden erschossen oder in der Anfang 1945 gebauten Gaskammer ermordet. Andere wurden Opfer medizinischer Experimente.
Ravensbrück verfügte über zahlreiche Außenlager, für gewöhnlich in der Nähe größerer Fabriken, in denen die Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten. Zilli kam in ein Außenlager in Wittenberg, wo sie in den Arado-Flugzeugwerken arbeiten musste.
In diesem Zwangslager musste Zillis Onkel leben
1936 wurde im Vorfeld der Olympischen Spiele im Osten Berlins, in Marzahn, ein Zwangslager für Sinti und Roma errichtet. Kurz vor Beginn der Sportveranstaltung wurden rund 600 Menschen verhaftet und gezwungen, auf dem beschönigend als »Rastplatz« bezeichneten Gelände zu leben. Hunderte weitere folgten in den nächsten Jahren.
Das Verlassen des Lagers, in dem die Menschen unter schlechtesten Bedingungen in Wohnwagen und Baracken lebten, war nur mit einer Genehmigung erlaubt. Nach der Errichtung des »Zigeunerfamilienlagers« in Auschwitz-Birkenau wurden die meisten Häftlinge 1943 dorthin verschleppt. Als Zilli Anfang 1945 ihren Onkel in Marzahn aufsuchte, befanden sich dort nur noch wenige Sinti und Roma.
Nach dem Krieg kehrte Zilli zunächst nach Eger zurück, wo sie ihren Bruder Stifto antraf. Später fand sie auch Hesso. Die Drei waren die einzigen Überlebenden der einst glücklichen Familie. Dank ihrer Energie gelang es Zilli schnell, sich ein neues, eigenes Leben aufzubauen. Eine wichtige Rolle spielte dabei ihr späterer Ehemann Toni, den sie 1948 in Nürnberg kennen lernte. Da Toni Musiker in einer Kapelle war, bereiste das Paar in den kommenden Jahrzehnten mit ihrem Wohnwagen ganz Deutschland. Zilli war beruflich ebenfalls erfolgreich, unter anderem handelte sie mit Perserteppichen.
Obwohl sie viel unterwegs waren, besaß Zilli lange Zeit keinen Führerschein. Ihr Mann hielt es nicht für nötig. In der damaligen Bundesrepublik entschieden Ehemänner für ihre Frauen. Erst als Toni gesundheitliche Probleme bekam, setzte sich Zilli mit etwa fünfzig Jahren durch: Sie meisterte die Führerscheinprüfung mit Bravour und war danach nicht mehr vom Fahren abzuhalten.
»Und sobald ich meinen Führerschein hatte, habe ich den Wagen angehängt – das war im Frühjahr – und bin losgefahren. […] Und ich bin gefahren, aber wie! Ich bin gefahren, da ist man kaum hinterher. So schnell bin ich gefahren. Ich habe Strafzettel gekriegt, weil ich zu schnell gefahren bin. Im höheren Alter, anfangs nicht, da habe ich mehr aufgepasst.«
Zilli Schmidt (2020): Gott hat mit mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza, herausgegeben von Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker, Berlin, S. 72.
Auch nach Tonis Tod 1989 behielt Zilli das Reisen im Sommer bei.
Es dauerte lange, bis Zillis Leid anerkannt wurde
1950 beantragte Zilli in München »Wiedergutmachung« für das erlittene Unrecht. Um Entschädigungsgelder zu erhalten, musste sie genau angeben, wo sie zu welcher Zeit inhaftiert gewesen war. Bei der Überprüfung der Angaben schlug ihr viel Misstrauen entgegen, immer wieder mussten neue Beweise und auch medizinische Gutachten vorgelegt werden.
»Die waren sehr misstrauisch – gerade in München! Und da hat eine gesessen – ich glaubte damals, das sei die Lolitschai – und die sagte dann zu mir: ›Sie sind aber gar kein Zigeunermischling, Sie sind doch eine Vollzigeunerin, Ihr Vater heißt so und ihre Mutter so.‹ […] ›Sie sind doch eine Lalleri-Zigeunerin reinrassig‹, das haben die gesagt in München. Und dass ich deswegen gar nicht nach Auschwitz geschickt worden sein könne aus Rassegründen. Weil Reinrassige für Auschwitz nicht vorgesehen waren. Das konnten sie alles nur aus den Karteien wissen, die die Nazis über uns gesammelt haben.«
Zilli Schmidt (2020): Gott hat mit mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza, herausgegeben von Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker, Berlin, S. 66f.
Lange Zeit erkannten bundesdeutsche Gerichte nicht an, dass Sinti uns Sintize wie Zilli aus »rassischen Gründen« von den Nationalsozialisten verfolgt worden waren. Doch Zilli blieb hartnäckig. Es dauerte fast zwanzig Jahre, bis der Verwaltungsprozess endgültig abgeschlossen war und Zilli staatliche Gelder erhielt.
Zilli begann erst spät, über das Erlebte zu sprechen
Über das Unrecht und Leid, das ihr während der Zeit der Nationalsozialisten widerfahren ist, hat Zilli jahrzehntelang geschwiegen. Gründe dafür gab es viele: Neben ihrem Wunsch, nach dem Krieg nach vorne zu schauen und sich ein neues Leben aufzubauen, spielte auch das lange Zeit geringe öffentliche Interesse an ihrem Schicksal eine Rolle.
Erst im hohen Alter, Zilli war schon über neunzig, begann sie, über das Erlebte zu sprechen, Interviews zu geben und bei öffentlichen Veranstaltungen aufzutreten.
»Es bedeutet mir das, damit es nicht in Vergessenheit gerät, dass die Leute wissen, was auch wir Sinti und Roma mitgemacht haben, dass wir unsere Familien in Auschwitz verloren haben, dass wir vergast worden sind.«
Den Interviewausschnitt kannst Du dir in diesem Video zu 15-jährigen Jubiläums des Denkmals für die ermordeten Juden Europas anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=GVTz5UnaMS4&t=67s.
2020 sind Zillis Erinnerungen auch als Buch unter dem Titel »Gott hat mit mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza« erschienen, der Lebensbericht einer Jahrhundertzeugin.
Ihr Glaube gab Zilli Halt
Zilli Schmidt war ein sehr gläubiger Mensch. Sie betete regelmäßig. Als Kind wurde sie katholisch erzogen, später schloss sie sich den Freien Christen an. Auch wenn sich ihr tiefer Glaube erst im Laufe ihres Lebens entwickelte, war sie davon überzeugt, dass »Gott« auch damals, in den Lagern, »bei mir [war], schon immer, schon immer. In den ausweglosesten Momenten war er da!« Der Glaube gab ihr Halt und Kraft im Umgang mit dem damals Erlebten, ebenso wie mit den Herausforderungen ihres Alltags. Er schenkte ihr Lebensmut.