-
3. März 1920Geburt
-
1939Widerstand
-
März 1941Enttarnung
-
September 1941Konzentrationslager
-
Oktober 1942Außenwelt alarmieren
Als Kind zog Zofia oft um. Es waren unruhige Zeiten. In ihrer Geburtsstadt Charkow herrschte Bürgerkrieg. Die Menschen litten Hunger. Also packten Zofias Eltern ein Jahr nach ihrer Geburt die notwendigsten Dinge zusammen, nahmen sie und ihre beiden Halbbrüder und verließen die Ukraine.
Sie landeten in der polnischen Kleinstadt Wołkowysk. Dort roch die Luft im Sommer nach blühendem Thymian, der auf den Hügeln ringsum wuchs. Zofia spielte oft am Fluss. Sie liebte diesen friedlichen Ort, die Natur und die Stille.
Doch als Zofia ungefähr sechs war, ging es weiter westwärts, diesmal nach Konstantynów am Fluss Bug. Schon wieder eine fremde Stadt, schon wieder neue Freund/-innen finden! Das war für Zofia nicht so einfach. Sie wurde eine richtige Leseratte, konnte sich tagelang in Büchern vergraben.
Mit der Zeit freundete sich Zofia aber doch mit einem Mädchen an, Sarah. Sie war ungefähr in ihrem Alter. Nach einer Weile bemerkte sie, dass im Fenster von Sarahs Familie manchmal Kerzen brannten. Das geschah immer freitags, wenn es dunkel wurde. Zofia brannte vor Neugier: Sie wollte unbedingt wissen, was es mit diesen Kerzen auf sich hatte. Deswegen überredete sie Sarah, sie doch mal zu sich nach Hause einzuladen.
Was erlebte Zofia bei Sarah zu Hause?
Zofia wollte unbedingt Sarahs Zuhause kennenlernen. Sarahs Mutter machte sich über das neugierige kleine Mädchen zwar ein bisschen lustig, aber sie lud sie eines Freitags gerne zu sich ein.
Das Rätsel lüftete sich: Zofias Freundin Sarah war jüdisch und die beiden Kerzen, die Zofia im Fenster gesehen hatte, waren Teil eines jüdischen Brauches. Das wusste Zofia nicht, denn sie kam aus einer katholischen Familie. Sie fand es unheimlich spannend, bei dieser Zeremonie dabei zu sein.
Jeden Freitagabend beginnt der jüdische Ruhetage Sabbat, an dem nicht gearbeitet werden darf. Es ist in jüdischen Familien Brauch, dass die Mutter vor Sonnenuntergang Kerzen anzündet und einen bestimmten Segen spricht. Oft geht man anschließend in die Synagoge.
Nach dem Gottesdienst spricht der Vater Gebete und segnet die Kinder. Anschließend wird gemeinsam gegessen und manchmal auch gesungen. Der Gottesdienst am Samstagmorgen dauert manchmal mehrere Stunden. Bis zum Einbruch der Dunkelheit dürfen keine Arbeiten verrichtet werden. Der Sabbat ist beendet, wenn am Samstagabend mindestens drei Sterne am Himmel zu sehen sind.
Bis heute weiß Zofia nicht, was aus ihrer Freundin Sarah und deren Familie geworden ist. Es gibt nicht einmal ein Foto. Nachdem Zofia ein weiteres Mal umgezogen war, brach der Kontakt ab.
Wie war Zofia als Kind?
Schon früh entwickelte sich Zofia zur Leseratte. Manchmal blätterte sie in den Reisebüchern ihrer Mutter. Zofia träumte davon, die große, weite Welt zu sehen. In den kleinen Ortschaften, nur umgeben von Wäldern und Natur, wurde es ihr manchmal richtig langweilig.
Später, in der großen Stadt Warschau, dachte sie aber oft sehnsüchtig an das Leben in Wołkowysk und Konstantynów zurück. Sie vermisste das friedliche Miteinander der Menschen, die alle unterschiedliche Religionen und Nationalitäten gehabt hatten. Später war sich Zofia sicher, dass ihre Neugier auf andere Kulturen und andere Länder dort ihren Ursprung gefunden hatte. Und das häufige Umziehen hatte auch seine gute Seiten: Zofia lernte, auf andere Menschen zuzugehen und Freundschaften zu knüpfen.
Wieder einmal zog Zofias Familie um. Dieses Mal zum Glück in eine Großstadt: In der polnischen Hauptstadt Warschau gab es so viele Menschen, Geschäfte, Parks, Kinos und Theater! Und die Schulen gefielen Zofia auch besser.
Das Leben in Warschau war gar nicht so einfach, denn der Vater fand zunächst keine Arbeit. An allem musste gespart werden. Und dann war da noch das Problem mit Zofias Schulgeld: achtzig Złoty im Monat, ein Vermögen! Zum Glück hatte Zofia gute Noten, sodass sie nach der Grundschule ein Stipendium für ein privates Gymnasium bekam. Es war eine reine Mädchenschule.
Zofia hatte zunächst Angst, dass die anderen Mädchen auf sie herabschauen würden: Schließlich kam sie aus einer armen Familie. Aber ihre Mitschülerinnen nahmen sie sehr herzlich auf. Und Zofia tat alles, um anderen Mädchen, die vielleicht nicht so gut in der Schule waren wie sie, zu helfen.
Bald stand Zofia im Mittelpunkt und machte in vielen schulischen Vereinen mit. Sie sang im Chor und war in der Theatergruppe. Ihr Traum war es, einmal die Hauptrolle in einem Stück zu übernehmen. Damals wollte sie Schauspielerin werden. Alles schien ihr möglich in dieser wunderbaren Stadt.
Wie war Zofia als Schülerin?
Mathe war nicht unbedingt Zofias Stärke. Doch das Gymnasium, das sie besuchte, war technisch-naturwissenschaftlich orientiert. Zofias Lieblingsfächer waren Polnisch und Musik. Sie lernte etwas Klavier spielen und sang auch im Kirchenchor. Später sagte Zofia, ihre Vorliebe für Gedichte und Literatur komme daher, dass sie eine sehr gute Polnischlehrerin hatte. Aber in ihrem letzten Schuljahr zerstritt sie sich mit ihrer eigentlichen Lieblingslehrerin – und wechselte ihr Prüfungsfach.
»Mit meiner Polnischlehrerin habe ich mich kurz vor dem Abitur entzweit. Das kam daher, dass ich für eine Mitschülerin, die nicht so gut in der Schule war, einen Aufsatz verfasst habe. Und diese Mitschülerin wurde nun ausgerechnet aufgerufen und musste vorlesen. Meine Polnischlehrerin hat sofort gemerkt, dass der Aufsatz nicht von ihr stammt. ›Das war dein Nachhilfelehrer!‹, hat sie gebrüllt. Vor der ganzen Klasse hat sie sie bloßgestellt. […] Ich hatte dann im Abitur Geschichte statt Polnisch.«
Jungs kennenlernen auf einer Mädchenschule?
Allmählich begannen Zofia und ihre Freundinnen sich für Jungs zu interessieren. Aber wie sollten sie welche kennenlernen? Auf ihrer streng katholischen Mädchenschule war jeder Kontakt mit Jungen verboten.
»Jeden Sonntag ging ich mit den Mädchen aus meiner Klasse in die Kirche«, erinnert sich Zofia. »Aber wenn wir mit Jungs redeten, bekamen wir richtig Ärger.«
Deshalb mussten sich die Mädchen etwas einfallen lassen.
»Ich hatte eine Freundin, die etwas reifer war als ich und sich schon sehr für Jungs interessierte. Eines Abends, es war schon spät, gegen 20 Uhr, nahm sie mich mit auf die Promenade. Wir gingen spazieren und schauten uns die Männer an. Aber dabei sind wir anscheinend gesehen worden. Kurz darauf wurde ich zur Schulleitung zitiert und bekam Ärger: Dieses Verhalten schickte sich nicht.«
Ein besonderes Erlebnis für die Mädchen war der Abiturball, bei dem auch männliche Abiturienten anwesend sein durften. Das war aufregend! Endlich mit jungen Männern in Kontakt kommen und sogar mit ihnen tanzen dürfen!
»Im Vorfeld schminkte ich mich mit einer Freundin und wir machten uns die Haare zurecht. Doch auf dem Flur traf ich dann ausgerechnet meine Klassenlehrerin! Diese hat mich sofort ins Bad geschickt und ich musste die ganze Schminke abwaschen.«
Zofia tanzte an diesem Abend trotzdem mit verschiedenen jungen Männern.
Das Abitur in der Tasche, endlich der Schule entflohen – Zofia konnte zum ersten Mal frei wählen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Sie entschied sich, zu studieren. Und weil sie Bücher und Gedichte liebte, schrieb sie sich für Polonistik an der Warschauer Universität ein.
Aber dann gab es Gerüchte, dass bald Krieg ausbrechen würde. Zofia wurde hellhörig. Sie liebte ihr Heimatland. Wie konnte sie helfen, es zu verteidigen?
Als die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 Polen angriff, unterbrach Zofia ihr Studium. Zusammen mit einer Freundin meldete sie sich als Sanitäterin, um verwundete polnische Soldaten zu pflegen. Ihr Vater nahm als Soldat an der Verteidigung Warschaus teil und Zofia war stolz auf ihn.
Doch die polnischen Truppen mussten schon wenige Wochen nach dem deutschen Angriff kapitulieren: Zu brutal war der Angriff gewesen und die deutsche Armee war besser ausgerüstet als die polnische. Und so entschied sich Zofia, in den Untergrund zu gehen. Gemeinsam mit ihrer guten Freundin Wojtka trat sie der Widerstandsbewegung ZWZ bei.
»Das war für mich eine Selbstverständlichkeit«, erinnert sich Zofia später. Als Frauen fielen Zofia und Wojtka auf den Straßen weniger auf: Wären sie dagegen Männer gewesen, hätte man gefragt, warum sie nicht als Soldaten im Krieg sind. Und so konnten Zofia und Wojtka geheime Nachrichten überbringen und die Mitglieder der Widerstandsgruppe auf dem Laufenden halten. Zofia hätte alles für ihr Land getan. Alles – bis auf eine Sache.
»Bei der Erstbefragung wollte man von mir wissen, ob ich imstande sei, Menschen zu töten. Das kam für mich nicht in Frage, und das habe ich auch gesagt. Aber man hat mich trotzdem genommen.«
Zofia besuchte ihre Eltern nicht oft, denn sie wollte sie nicht in Gefahr bringen. Doch eines Tages, im März 1941, nahm die Sehnsucht nach ihrer Familie Überhand. Und die Falle schnappte zu.
Zofia wurde enttarnt und kam ins Gefängnis
Schon lange hatte die Gestapo einzelne Mitglieder des ZWZ im Visier. Zofia wurde ins Warschauer Pawiak-Gefängnis gebracht. Ihre Eltern wurden zwar verhört, doch glücklicherweise geschah ihnen weiter nichts.
Eine Woche blieb Zofia im Pawiak-Gefängnis. Männliche und weibliche Gefangene waren in voneinander getrennten Gebäuden untergebracht. Oft mussten mehrere Gefangene in einem winzigen Raum leben. Zofia erinnert sich, dass sie mit Schauspielerinnen in einer Zelle war und sich deshalb wenigstens nicht langweilte.
Das Pawiak-Gefängnis war ein berüchtigter Ort: Zwischen 1940 bis 1944 sperrte die Gestapo dort rund 100.000 Pol/-innen, vor allem Widerstandskämpfer/-innen, ein. Schätzungen zufolge kamen mehr als ein Drittel der Häftlinge wegen der schlechten Haftbedingungen, aufgrund von Misshandlungen während der Verhöre oder durch Exekutionen um.
Weitere 60.000 Menschen, so auch Zofia, wurden von dort in deutsche Konzentrationslager oder andere Haftanstalten deportiert. Während des Warschauer Aufstandes 1944 sprengten die deutschen Besatzer das Pawiak-Gefängnis und ermordeten die letzten Insass/-innen.
»Unter der Uhr« verging die Zeit einfach nicht
Nach einer Woche im Warschauer Pawiak-Gefängnis verschleppte die Gestapo Zofia in die 150 Kilometer entfernte Stadt Lublin. Dort wurde sie im Lubliner Schloss gefangen gehalten. Die deutsche Sicherheitspolizei und der Sicherheitsdienst hatten das Gebäude gleich nach dem Einmarsch in Polen besetzt und nutzten es als Untersuchungsgefängnis. Die einzelnen Zellenräume waren hoffnungslos überfüllt. Zeitweise mussten sich bis zu fünfzig Personen eine Zelle teilen.
Immer wieder wurde Zofia an einen Ort gebracht, der »Pod Zegarem«, »Unter der Uhr«, genannt wurde. In dem halbrunden Gebäude mit der Uhr über dem Eingangsportal fanden die brutalen Verhöre statt. Regelmäßig hörte Zofia in ihrer Zelle die Schreie der Gefolterten. Und auch sie wurde nicht verschont.
»Mein Glück war, dass ich nicht soviel aushielt. Nach ein oder zwei Schlägen wurde ich regelmäßig ohnmächtig, sodass die Verhöre kurz darauf endeten. Und totprügeln wollte die Gestapo mich nicht, in der Hoffnung, weitere Namen aus mir heraus zu bekommen.«
Eines Tages stand Zofias Mutter vor dem Zellenfenster. Irgendjemand hatte sie über Zofias Aufenthaltsort informiert. Zwar konnte die Mutter nicht ihre Freilassung bewirken, aber alleine ihre Anwesenheit gab Zofia viel Kraft.
Zofias Freundin Wojtka war die ganze Zeit dabei
Zofias Freundin Wojtka war in denselben Haftanstalten wie Zofia. Die jungen Frauen kannten sich schon lange, denn sie waren Nachbarinnen gewesen. Wojtka war schon verlobt und hatte ebenso wie Zofia keine Sekunde gezögert, als es darum ging, sich der Untergrundbewegung anzuschließen.
Mit einem Sondertransport wurden Zofia und Wojtka im September 1941 von Lublin aus in das Deutsche Reich deportiert. Am Bahnhof Fürstenberg wurden sie auf Lastwagen geladen. Man verschleppte die jungen Frauen in das Konzentrationslager Ravensbrück, hunderte Kilometer von der Heimat entfernt.
Sie kamen nachts an. Zofia erinnert sich an die Aufseherinnen mit Hunden und an die schreckliche Demütigung, sich vor deren Augen nackt ausziehen zu müssen. Mit vielen anderen jungen und alten Frauen mussten die Freundinnen duschen gehen. Anschließend bekamen sie ihre Kleidung und ihre Baracke zugewiesen. Zofia und Wojtka kamen gemeinsam in Baracke 15.
An welchen Ort wurden Zofia und Wojtka gebracht?
Das Konzentrationslager Ravensbrück war 1939 erbaut worden. Bis zum Ende des Krieges waren dort insgesamt 132.000 Frauen und kleine Kinder registriert, zudem 20.000 männliche Häftlinge und etwa 1.000 weibliche Jugendliche. Die Ravensbrücker Häftlinge stammten aus über vierzig Ländern.
Manche inhaftierten Frauen mussten Nähen, Schneidern und Sticken. Sie flochten Strohschuhe und webten Stoffe. Andere mussten schwer im Straßenbau arbeiten. Ab 1942 wurden Frauen und Mädchen in der Kriegswirtschaft eingesetzt. Die Firma Siemens & Halske brauchte weibliche Häftlinge mit guten Augen und geschickten Händen für feinmechanische Arbeiten. Unmittelbar neben dem KZ wurden Werkhallen errichtet, denn Zwangsarbeiter/-innen kosteten die Unternehmen weniger Geld als freie Arbeiter/-innen. Sie wurden nämlich nicht bezahlt und nur sehr dürftig versorgt.
Die genaue Anzahl der Menschen, die in Ravensbrück ums Leben kamen, ist nicht bekannt. Forscher/-innen sprechen von mehreren zehntausend Menschen. Sie starben aufgrund der Lagerbedingungen, wurden erschossen oder mit Giftgas ermordet. Einige Frauen starben auch an den Folgen von medizinischen Experimenten.
Zofia war nun schon einige Monate im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, und eins war klar: Irgendetwas war hier faul. Polnische Kameradinnen, die eigentlich kerngesund waren, wurden in den Krankenbau gerufen. Andere verschwanden und wurden nie wieder gesehen.
Nach und nach entdeckten Zofia und ihre Freundinnen, dass Ärzt/-innen Zwangsoperationen an Frauen durchführten. Diejenigen, die nach einiger Zeit wieder zurückkamen, hatten große Wunden an den Beinen und konnten kaum laufen. Außerdem fanden sie heraus, dass draußen im Wald polnische Kameradinnen erschossen wurden.
Was führten die Ärzt/-innen für Operationen an den Frauen durch?
Zwischen Juli 1942 und August 1943 operierten Ärzt/-innen die Beine von 74 Polinnen. Bei manchen füllten sie die Beinwunden mit fauligem Stroh, Holzspänen, Glassplittern oder Erde. Anderen entnahmen die Ärzt/-innen ganze Knochen und Muskeln. Die operierten Frauen hatten keine Chance zu protestieren oder sich gar zu wehren. Und sie wussten auch nicht, welchem Zweck die Experimente dienen sollten.
Die Frauen bekamen hohes Fieber, hatten starke Schmerzen und konnten sich oft monatelang nicht mehr bewegen. 13 Frauen starben an den Menschenversuchen, sechs weitere wurden kurz nach der »Behandlung« erschossen. Die Überlebenden hatten ihr ganzes Leben lang tiefe Narben an den Beinen.
Die Ärzt/-innen versuchten, Kriegswunden zu simulieren. Angeblich sollte ein neues Arzneimittel gegen Gasbrand getestet werden. Gasbrand entsteht, wenn sich Keime in tiefen Wunden festsetzen. Die Haut verfärbt sich rötlich-violett und die Wunde beginnt zu nässen. Unbehandelt führt diese Infektion innerhalb weniger Tage zum Tod. Im Winter 1941/42 starben viele deutsche Soldaten an Gasbrand. Militärärzte konnten sie nur durch schnelle Amputation, also durch das Entfernen des verletzten Körperteils retten.
Beweise aus dem Lager schmuggeln
Was sollten Zofia und ihre Freundinnen bloß tun? Die Morde und Verstümmelungen konnten sie nicht verhindern. Aber zumindest heimlich Beweise sammeln. Irgendwann mussten die Täter/-innen für diese Verbrechen doch bestraft werden!
Sie begannen, Listen mit Namen von Frauen zu erstellen, die verschwanden oder operiert wurden. In Briefen und Gedichten schilderten sie zudem die Lebensbedingungen in Ravensbrück. Das zu tun war sehr gefährlich, denn die Freundinnen konnten jederzeit entdeckt oder verraten werden. Im schlimmsten Fall drohte ihnen, ebenfalls erschossen zu werden.
Die wichtigen Schriftstücke durften daher unter keinen Umständen bei ihnen gefunden werden. Am besten, man schmuggelte sie aus dem Lager. Doch wie? Dazu brauchten die Mädchen Hilfe von außen. Also ließ sich Zofia, als Wortführerin ihrer Gruppe, auf eine gewagte Idee ein.
Unter allen Umständen musste Zofia die Liste aus dem Lager schmuggeln! Aber wie?
Jeden Montag musste Zofia mit ihrem Arbeitskommando Lebensmittel aus einem nahegelegenen Lager nach Ravensbrück transportieren. Dort arbeiteten auch junge polnische Kriegsgefangene. Diese Männer hatten etwas mehr Freiheiten als die KZ-Häftlinge in Ravensbrück.
Das war die Gelegenheit! Zofia und ihre Kameradinnen freundeten sich mit den jungen Männern an. Mit Eugeniusz, einem der Gefangenen, machte Zofia einen Ort aus, an dem sie unauffällig Briefe und kleine Päckchen hinterlegen konnte. Im Toilettenhäuschen würde niemand genauer suchen, denn dort stank es entsetzlich. Eugeniusz würde die Schriftstücke weiterleiten und irgendjemand würde sie dann hoffentlich gut verstecken können.
»[…] Unabhängig davon, ob wir zurückkehren werden oder auch nicht, muss die Geschichte der Polinnen aus Ravensbrück und die Geschichte des Lagers überhaupt – die wahre und unverfälschte Geschichte – möglichst genau und umfassend das Tageslicht erblicken. Wir dürfen es nicht zulassen, dass unsere Feinde, mit Mangel an Beweisen rechnend, irgendwann versuchen werden, vor der Welt ihre Verbrechen zu verbergen oder zu verschleiern. […] Erst jetzt sind die Umstände so günstig, dass wir mit Eurer Hilfe all unsere Pläne realisieren können. […]«
Was geschah mit den Beweisen?
Zofias Kontaktpersonen schafften es tatsächlich, die Dokumente weiterzugeben. Einer nach dem anderen meldeten sie sich krank, um in das Lazarett zu gelangen. Dort händigten sie die Briefe und Gedichte dem behandelnden Arzt aus, der ebenfalls polnischer Kriegsgefangener war. Dr. Grabowski erkannte den Wert der Schriften und beschloss, die Beweise bis zum Kriegsende zu verstecken.
»Diese Dokumente […] wickelte ich in eine Binde, dann in ein Papier mit Feuchtigkeitsschutz und in ein Stück eines Operationshandschuhs aus Gummi ein. Das Verpackte legte ich in ein großes Glas […], das mit einem schwarzen Hartgummischraubdeckel verschlossen war. Das ganze Glas beklebte ich dicht mit […] Pflastern und belegte es mit von innen schwarzbeschichtetem doppelten Papier.
Das fertige Paket musste nun vergraben werden. Ich habe mich entschlossen, das außerhalb des Lagers zu tun, weil ich befürchtete, dass bei eventuellen Erdarbeiten die Deutschen diese Dokumente finden könnten.
Ich verschaffte mir bei dem Lagerkommandanten die Erlaubnis für einen Spaziergang jenseits der Umzäunung. […] Der Orientierungspunkt war ein Grenzpfahl. Östlich des Pfahls, im Abstand von einem Meter grub ich ein 50 cm tiefes Loch aus und versteckte darin dieses Paket. Während ich beim Ausgraben war, hielten meine Kameraden Wache. Diese Aktion verlief erfolgreich. Seit jener Zeit bekamen wir keine Materialien mehr. […]«
Was für Gedichte schrieben die jungen Frauen?
Die Frauen beschrieben in ihren Gedichten auch die Zwangsarbeit, welche sie in Ravensbrück leisten mussten. Tag und Nacht mussten sie an Maschinen stehen oder Kleidung ausbessern.
Wenn die Dämmerung die Himmelsbläue vergraut,
Und im Westen wird der Fleck der Sonne blutig,
Stellen wir uns in langen, trüben Reihen auf,
Wir – die Nachtschicht.
Wir beneiden die zwitschernde Vogelschar,
Die sich im Blätterdickicht zur Ruhe vereint.
Und uns verschlingt schon bald das Barackengrau
Und die Nacht bricht ein.
Maschinen dröhnen, Nadel schleppt den Faden,
Scharfes Messer glänzt, schneidet entzwei und sticht.
›Leise, Maul halten‹ – Und Flüstern: ›Geh schau’n
Wie spät es ist‹. Die grässliche Schwüle! Ich brauch’ Luft! Und wie ein Stein
Lastet der Kopf. ›Du, weiter‹ – arbeiten muss man schon!
Endlich kommt Mitternacht, ‘ne kurze Pause wird sein
Mit einer Scheibe Brot.
Die Fenster öffnen! Und bald gehen die Lichter aus –
Eine frische Brise weht, ein Stern flimmert am Himmel.
Leg schnell irgendwo den Kopf hin und ruh' dich endlich aus,
Du nestloser Vogel.
Mögen im Dunkel aufs geschlossene Augenlid
Gnade des Schlafes und Bilder von damals kommen,
Ehe das Licht aufleuchtet und schmerzvoll zerstören wird
Das Reich der Illusionen.
›Du! vorwärts! weiter!‹ – die verhasste Arbeit
Zwingt sich mit Gewalt in die müden Hände.
Von neuem nähen Nadeln, Maschinen dröhnen laut
Und das Messer wendet.
Die Zeit geht schrecklich langsam und schleppend vorbei,
Der Kopf sinkt hinab vor Erschöpfung und Stress,
Das ermüdete Herz stanzt die Brust wie ein Stein –
›Wie spät ist es?‹
Morgenfrische durchdringt, kalter Schauer überläuft ...
Es dämmert – die Maschinen verstummen, und vom Lärm erlöst
Fallen die Augenlider ... schlafen. ›Wie lange noch?
Wie spät ist es?‹
Und endlich Schluss. Im Glanz des Sonnenaufgangs
Müssen wir in Reihen lange stehen zitterig
Mit dem einzigen Wunsch – schlafen Tag und Nacht lang
Wir – die Nachtschicht.
Dreieinhalb Jahre musste Zofia im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück leben. Sie sah schreckliche Dinge. Um sie herum verhungerten Menschen. Freundinnen wurden in den Wald geführt und einfach erschossen. Außerdem hatte Zofia solche Sehnsucht nach ihrer Familie. Wie ging es ihren Eltern, ihren Freund/-innen? Waren sie noch am Leben?
Zofia versuchte, das Erlebte zu verarbeiten. Sie fing an, sich im Konzentrationslager künstlerisch zu betätigen, schnitzte kleine Figuren oder zeichnete ihre Freundinnen. Viel Material dafür hatte sie nicht, daher nahm sie, was ihr gerade in die Finger kam.
Aus Zahnbürstengriffen fertigte Zofia kleine Kreuze, Madonnen- oder Engelsfiguren. Eigentlich durfte sie gar kein Taschenmesser besitzen, sie versteckte es im Strohsack ihres Bettes. Jeden herumliegenden Fetzen Papier hob sie auf, um darauf zu zeichnen.
Und dann kam der Tag, auf den Zofia so lange gewartet hatte: Der Krieg war vorbei, das Deutsche Reich besiegt, und die 25-Jährige konnte endlich das Lager verlassen und zu ihrer Familie nach Warschau zurückkehren. Über vier Jahre hatte Zofia ihre Eltern nicht gesehen.
Als sie in Warschau ankam, traute sie ihren Augen nicht: Die Stadt lag in Schutt und Asche, zerstört von den deutschen Besatzern! Und in ihrem Elternhaus erwartete sie der nächste Schock: Zofia traf nur ihre Mutter und ihre Tante an, beide waren stark abgemagert. Ihr geliebter Vater war kurz nach ihrer Verhaftung an einem Herzleiden gestorben. Zofia hatte sich nicht einmal von ihm verabschieden können.
Wie verarbeitete Zofia ihre Erlebnisse?
Nach dem Krieg entschied sich Zofia dafür, Bildhauerei zu studieren. Sie arbeitete hart an sich. Mit ihren Skulpturen wurde sie dann auch bis über die Grenzen von Polen hinaus bekannt. Sie hatte unter anderem Ausstellungen in Südafrika, den USA, Deutschland, Italien und Frankreich.
Zofia hielt Kontakt zu den Frauen, die wie sie das KZ Ravensbrück überlebt hatten. Die meisten von ihnen hoben die kleinen Kreuze, die Zofia ihnen im Lager geschenkt hatte, bis an ihr Lebensende auf. Und manche überzogen sie sogar später mit Gold und trugen sie an Ketten um den Hals. »Ohne die Zeit im KZ«, erzählt Zofia, »wäre ich wahrscheinlich nicht auf die Idee gekommen, Kunst zu machen.«
Auch als Zofia im hohen Alter fast erblindet war, schuf sie noch neue Kunstwerke. Viele ihrer Skulpturen bestehen aus Baumrinde und Ton und stellen Menschen dar, die tragisch ums Leben gekommen sind. Zofia starb am 8. Mai 2019 mit 99 Jahren in Warschau.
Zofia gründete eine große Familie
Zofia heiratete nach dem Krieg und bekam vier Töchter. Und die bekamen wieder Kinder. Sogar Urenkel hatte sie. Dieses Bild zeigt Zofias Familie im Jahr 2011 bei einer Gartenparty. Zofia gab ihre Begabung an ihre Nachkommen weiter: Fast alle Mitglieder ihrer Familie sind ebenfalls künstlerisch tätig. Sie malen, zeichnen, arbeiten mit Ton oder Glas und haben eigene Ateliers.
Schon die Kleinsten werden gefördert und bekommen früh Stifte in die Hand gedrückt. Bei den Familienmitgliedern zuhause hängen überall selbstgemalte Bilder und andere Kunstwerke – es sieht aus wie in Kunstgalerien oder Mussen.
Zofia setzte den mutigen Widerstandskämpfer/-innen ein Denkmal
Zofia hat im Laufe ihres Lebens viele Skulpturen geschaffen, die an die Unterdrückung der polnischen Bevölkerung durch die deutschen Besatzer erinnern. Mit ihren Werken setzte sie den zahllosen Widerstandskämpfer/-innen ein Denkmal. Diese Skulptur steht im Hof des ehemaligen Pawiak-Gefängnisses, das 1944 zerstört wurde. Es sind Menschen hinter Gittern dargestellt, die auf die Freiheit hoffen.
Hier zeigt Dir Zofia ihre Kunstwerke
Im Februar 2012 besuchten Mitarbeiter/-innen der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas Zofia in Warschau. Zu diesem Zeitpunkt war sie 91 Jahre alt. Sie führte durch ihren Garten, wo viele ihrer Skulpturen stehen. Ihre Freundin Inge Gerlinghoff übersetzte ins Deutsche. Zofia ist die Dame mit der Brille, die zu Beginn ganz links steht.